Das Paar vor den Menschen (Ernst Ludwig Kirchner)
Das Paar vor den Menschen
Ernst Ludwig Kirchner, 1924
Öl auf Leinwand
150.5 × 100.5 cm
Hamburger Kunsthalle

Das Paar vor den Menschen ist ein Gemälde des Künstlers Ernst Ludwig Kirchner (1880 - 1938) aus dem Jahr 1924. Es stellt großformatig und vordergründig zwei Akte dar, einen Mann und eine Frau, die von sieben grünen Köpfen und Halbfiguren umgeben sind, und ist von intensiver Farbgestaltung. Das Bild wird der Gruppe der Bilder aus der Phantasie zugeordnet, in der sich der Künstler mit dem Symbolismus in der Darstellung auseinandersetzte. Seit 1948 ist es im Besitz der Hamburger Kunsthalle.

Bildbeschreibung

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Das Gemälde Das Paar vor den Menschen zeigt die nackten Figuren einer Frau und eines Mannes, die fast die ganze Höhe der Leinwand ausfüllen und auch nahezu zwei Drittel der linken Bildhälfte. Die Frau ist etwas kleiner dargestellt als der Mann, ihre Haut ist in helleren beigen und rosa Tönen gehalten, sein Körper ist braun-rot und dunkler. Das Paar schreitet in einem harmonischen Gleichklang nach links vorn und scheint aus dem Bild hervorzutreten. Die Köpfe sind jeweils in Dreiviertelansicht einander zugewandt. Dabei schauen sich beide nicht direkt an, obwohl sie aufeinander konzentriert scheinen, sie haben ernsthafte Gesichtsausdrücke. Die Blickrichtung des Manns geht nach links unten, er umfasst mit seinem rechten Arm die Frau und hält sie an der Taille. Seinen linken Arm hat er angewinkelt, die Hand ist mit leicht nach innen gebogenen Fingern vor seiner Brust platziert. Die Frau guckt schräg nach rechts oben am Gesicht des Mannes vorbei.

Der Hintergrund ist ein dunkles Blau, das einen nicht greifbaren Raum entstehen lässt. Es ist nicht deutlich, wo sich das Paar befindet. Hinter den Köpfen schweben rosarote Wolken.

Die rechte Seite des Bildes ist von sechs grünen Halbfiguren gefüllt. Die obere Gestalt stellt eine Frau in Dreiviertelansicht dar. Sie streckt dem Paar ihre Handflächen entgegen, hat die Arme angezogenen, Mund und Augen geschlossen. Darunter, in der rechten Bildmitte, wenden zwei Gestalten mit einander die Köpfe zu, die linke, eine Frau, neigt sich nach rechts und zeigt mit einem gestreckten Zeigefinger in die andere Richtung zum Paars. Die rechte Figur, ein Mann, scheint sich mit verzerrtem Gesicht auf die linke zu beziehen. Sie hält einen grauen, nicht identifizierbaren Gegenstand in der Hand. Im rechten unteren Vordergrund werden drei lachende Köpfe mit geöffneten Mündern gezeigt, eine im Profil und zwei im Halbprofil. Eine siebte Figur, ebenfalls grün, die eine grau-rosa Maske vor ihr Profil hält, befindet sich in der linken unteren Ecke.[1]

Provenienz

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Das Gemälde wurde von Ernst Ludwig Kirchner im Jahr 1924 in seinem Haus Auf dem Wildboden in Davos-Frauenkirch geschaffen. 1925 stand es in der Galerie Ludwig Schames in Frankfurt am Main zum Verkauf, ab 1926 in der Galerie Cassirer in Berlin. Im Februar 1930 wurde es Max Sauerlandt, dem Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg, von seinen Mitarbeitern und Freunden auf Initiative des Kunsthistorikers und damaligen Angelstellten Heinrich Kohlhaussen zum 50. Geburtstag geschenkt. Sauerlandt hatte sich seit Jahren bemüht, Werke von Kirchner in der Ausstellung des Museums zu etablieren, so kaufte er 1929 unter anderem auch die Skulptur Liebespaar, die mit dem Gemälde korrespondierte, für die Sammlung an.

Nach Sauerlandts Tod 1934 konnte seine Witwe Alice Sauerlandt die umfangreiche private Kunstsammlung vor dem Zugriff der Nationalsozialisten sowie vor Kriegseinwirkungen retten. 1948 verkaufte sie das Gemälde an die Hamburger Kunsthalle, in deren Besitz es sich nach wie vor befindet.[2]

Einordnung und Bezüge

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Richard Dehmel: Zwei Menschen. Roman in Romanzen

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Die Thematik eines Paars außerhalb gesellschaftlicher Normen, verhöhnt von einer ablehnenden Umwelt, findet sich bei Kirchner bereits in einer seiner ersten, deutlich vom Jugendstil geprägten Holzschnittserien aus dem Jahr 1905, die er zur Illustration von Richard Dehmels Balladenzyklus Zwei Menschen. Roman in Romanzen schuf. Der Dichter beschwor mit dem Epos Liebe und Eros zu seiner zweiten Frau Ida Dehmel, mit der er sich gegen die bürgerlichen Konventionen verbunden hatte. Der Maler übernahm die Metapher des Aufbruchs der Jugend und die Symbolik von Tanz und Nacktheit. Blatt 5 der Serie - Vor den Menschen - Über den Köpfen der Philister - zeigt in der oberen Bildhälfte Mann und Frau in Seitenansicht, im leeren Raum tanzend mit erhobenen Armen und geöffnetem Schritt. Im unteren, horizontal abgetrennten Vordergrund wird eine Gruppe Halbfiguren mit unterschiedlichen Lach- und Hohngesten dargestellt.[3] Eingeordnet wird sowohl die Lyrik wie die graphische Umsetzung durch Kirchner in die in jener Zeit ausgeprägte Reformbewegung und der daraus gewachsenen Freikörperkultur. Die Auseinandersetzung mit der unverständigen Umwelt entsprach seiner eigenen gewünschten Lebens- und Liebensweise.[4]

Wilhelm Lehnbruck: Kopf eines Denkers

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Aus der Reformbewegung entwickelte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts der Begriff des Neuen Menschen, der teilweise mit Friedrich Nietzsches philosophischer Figur des Übermenschen verknüpft wird, aber in der Moderne als eine Auseinandersetzung mit der Achtung vor dem freien Willen des Individuums gesehen wird. Insbesondere im Werk von Künstlern wie Otto Freundlich (1878 - 1943) oder Wilhelm Lehmbruck (1881 - 1919) wird die Suche nach einem neuen Menschenbild vielfach erkannt und besprochen. Auch die Bilder Kirchners, die die „Lebensfreiheit gegenüber den wohlangesessenen Kräften“ thematisieren, können unter diesem Aspekt besprochen werden. Dabei wird Wilhelm Lehmbrucks Kopf eines Denkers, eine Steinskulptur aus dem Jahr 1917/1918, dem Gemälde Das Paar vor den Menschen gegenübergestellt und die auffällige Ich-Geste des Mannes verglichen. Büste und Gemälde zeigen „den geistig bewegten Menschen, der sich aktiv auf sein Ich zurückzieht.“[5]

Georg Heym: Umbra Vitae

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Die Skulptur Liebespaar

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Neben dem Gemälde Paar vor den Menschen schuf Kirchner ebenfalls im Jahr 1924 auch die nahezu lebensgroße Skulptur Liebespaar mit diesem Motiv, sie lässt allerdings die hämische Menschenmenge hinter sich. Die Figuren sind aus einem Arvenholzblock gehauen und in der Farbgebung ähnlich farbintensiv. Der Mann in kräftigem Rotbraun gehalten die Frau in Rosa und Ocker mit Weißhöhungen an der Vorderseite. Auffällig ist die scharfkantige Profilierung der Schienbeine beider Figuren.[6] Die Skulptur wurde 1929 von Max Sauerlandt für das Hamburger Kunst- und Gewerbemuseum gekauft, dort bei der Aktion Entartete Kunst 1937 beschlagnahmt, in der Schandausstellung der Nationalsozialisten in München und weiteren Städten ausgestellt und gilt seither als verschollen.

„... ganz begeistert waren wir von der Gruppe des Mannes und der Frau. Das ist ja etwas ganz Ausgezeichnetes. Sie ist - so scheint mir - ein ganz reifes Werk. Ihres neueren zu einer merkwürdigen Abgeklärtheit gekommenen Stiles, der sich aus den Abwandlungen zwischen Naturnähe und Naturferne im Laufe der vergangenen Jahre herauskristallisiert hat.“

Gustav Schiefler: Brief an Ernst Ludwig Kirchner vom 21. November 1929[7]

Bilder aus der Phantasie

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  • Der Mann, Öl auf Leinwand, 1915/1915, 150×91 cm, Gordon 439, Kirchner Archiv Henze & Ketterer
  • Tanz zwischen den Frauen, Öl auf Leinwand, 1919/1926, 120×90 cm, Gordon 443, Bayerische Staatsgemäldesammlung München
  • Der Wanderer, Öl auf Leinwand, 1922, 95×150 cm, Gordon 677, Aargauer Kunsthaus Aarau
  • Die Verbindung, Öl auf Leinwand, 1922, 150×91 cm, Gordon 680, Kirchner Archiv Henze & Ketterer
  • Schwarzer Frühling, Öl auf Leinwand, 1923, 150×90 cm, Gordon 749, Privatbesitz
  • Abschied, Öl auf Leinwand, 1925, 120×90 cm, Gordon 835, Kirchner Archiv Henze & Ketterer

Literatur

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  • Bettina Kaufmann: Symbol und Wirklichkeit. Ernst Ludwig Kirchners Bilder aus der Phantasie und Edvard Munchs Lebensfries, Bern 2007, ISBN 978-3-03910-661-5
  • Hyang-Sook Kim: Die Frauendarstellung im Werk von Ernst Ludwig Kirchner. Verborgene Selbstbekenntnisse des Malers, Marburg 2002, ISBN 3-8288-8407-5
  • Dagmar Lott-Reschke: „Vom Wege des Schaffenden“. Kirchners Paar vor den Menschen als nietzscheanischer Daseinsentwurf; in: Marcus Andrew Hurttig und Ulrich Luckhardt: Kirchner. Ausstellungskatalog anlässlich der Ausstellung Kirchner, Hubertus-Wald-Forum in der Hamburger Kunsthalle, vom 7. Oktober 2010 bis 16. Januar 2011, Hamburger 2010, ISBN 978-3-939429-84-5
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Einzelnachweise

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  1. Bettina Kaufmann: Symbol und Wirklichkeit. Ernst Ludwig Kirchners Bilder aus der Phantasie und Edvard Munchs Lebensfries, S. 137 f.
  2. Marcus Andrew Hurttig, Günther Gercken und Andreas Stolzenburg: Der Gemälde- und Graphikbestand von Ernst Ludwig Kirchner in der Hamburger Kunsthalle, in: Marcus Andrew Hurttig und Ulrich Luckhardt: Kirchner, S. 214
  3. Bettina Kaufmann: Symbol und Wirklichkeit. Ernst Ludwig Kirchners Bilder aus der Phantasie und Edvard Munchs Lebensfries, S. 139
  4. Dagmar Lott-Reschke: „Vom Wege des Schaffenden“. Kirchners Paar vor den Menschen als nietzscheanischer Daseinsentwurf, S. 199
  5. Dagmar Lott-Reschke: „Vom Wege des Schaffenden“. Kirchners Paar vor den Menschen als nietzscheanischer Daseinsentwurf, S. 201
  6. Karin von Maur: Ernst Ludwig Kirchner. Der Maler als Bildhauser, Stuttgart 2003, S. 80 f.
  7. Wolfgang Henze u.a. (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner - Gustav Schiefler, Briefwechsel 1910-1935/1938, Stuttgart / Zürich 1990, S. 625