Linearquadratisches Modell

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Ein wichtiges Modell in der Strahlenbiologie ist das linearquadratische Modell. Es wurde von Fowler 1974 aus Fraktionierungsversuchen mit Zellkulturen zur Analyse der Daten entwickelt. Die Grundformel ist:   mit   Fraktion (Anteil) der überlebenden Zellen nach Bestrahlung mit einer Einzeldosis  . Die Variablen   und   sind Konstanten zur Datenanpassung. Das Modell ist das derzeit gängigste zur Beschreibung der Wirkung von Photonen oder Elektronen auf Zellen. Mechanistisch wird angenommen   könnte für einen DNA-Doppelstrangbruch stehen,   für einen DNA-Einzelstrangbruch und folglich   für zwei DNA-Einzelstrangbrüche, die zeitlich und räumlich eng benachbart sind.

Bei einer höheren Anzahl   von Bestrahlungen (Voraussetzung: mindestens 6 Stunden zwischen den Bestrahlungen) ergibt sich aus oben genannter Formel:  . Oft interessiert nur der Exponent, den man dann als   zusammenfassen kann. Damit ergibt sich:  .

Die häufigste Anwendung der linearquadratischen Modells besteht in Dosierungs- und Fraktionierungsumrechnungen. Gängig, aber nicht unbedingt nötig ist die Einführung eines Gesamtdosis  , die sich naheliegend zu   ergibt. Ausgangspunkt der Berechnung ist, dass der Exponent zweier Fraktionierungen 1 und 2 (erkennbar im folgenden an den Indizes) gleich sein muss:  . Division durch   ergibt:  .

Mit dieser letzten Formel erfolgt häufig eine Umrechnung. Der Quotient   muss bei den Berechnungen gegeben sein bzw. aus der Gewebeart geschätzt werden. Näheres dazu im folgenden Abschnitt.

Grenzen: Das linearquadratische Modell kann für Einzeldosen von 1-6 Gy verwendet werden. Für höhere Einzeldosen, etwa in der Stereotaxie, ist es nicht geeignet (Quelle: Medizinphysik-Wiki, s. unter Links).

Die Konstanten   und   und deren Quotient

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Das Modell enthält zwei Konstanten   und  , von denen eigentlich nur der Quotient   Relevanz hat. Der Wert von   hängt vom Gewebe ab. Die Angaben in der Literatur sind ziemlich uneinheitlich. Da der Exponent einheitslos sein muss, ergibt sich formal für   in Einheit Gy (Gray). Eine Übersicht über Werte findet sich etwa bei Leeuwen et al. [1]

Früh reagierende Gewebe: hoher  -Wert

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Auf Bestrahlung früh reagierende Gewebe haben einen hohen Wert für  , etwa > 7 Gy. Dazu zählen Dünndarm (  = 6-13 Gy), Dickdarm (10-12 Gy), Knochenmark (9 Gy), Haut (Rötung, Epitheliolyse) und Schleimhaut sowie Tumorgewebe (Plattenepithelkarzinome (25 Gy), Adenokarzinom (10-20 Gy)). Das NSCLC etwa hat einen Wert von etwa 13-15 Gy[2], die Autoren konnten wegen großer Messunsicherheit den traditionellen Wert von 10 Gy aber auch nicht entkräften.

Hier überwiegt der lineare Anteil, der durch das   gekennzeichnet ist. Die Reparaturleistung des Gewebes ist gering. Fraktionierung und Protrahierung spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Gesamtbehandlungszeit ist entscheidend.

Spät reagierende Gewebe: niedriger  -Wert

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Auf Bestrahlung spät reagierende Gewebe haben einen niedrigen Wert für  , etwa < 5 Gy. Dazu zählen das Rückenmark (1,6-5 Gy), die Nieren (0,5-5 Gy), die Leber (1,4-3,5 Gy), die Lunge (2,5-6,3 Gy), die Schilddrüse (2,5-4,5 Gy) oder Nervengewebe. Als einer von wenigen Tumoren soll auch das Prostatakarzinom einen Wert von etwa 3 Gy haben[3]. Für das Mammakarzinom wird aber auch ein niedriger Wert von 2,88 Gy angegeben[4], es wird aber auch 3,5 Gy angegeben[5]

Hier überwiegt der quadratische Anteil, der durch das   gekennzeichnet ist. Das Gewebe zeigt eine hohe Reparaturleistung. Es ergeben sich große Effekte durch Fraktionierung und Protrahierung.

Der Fraktionierungsgewinn

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Der Fraktionierungsgewinn ergibt sich dadurch, dass das Tumorgewebe eher einen hohen  -Wert hat und das Normalgewebe einen niedrigen oder jedenfalls niedrigeren; das Normalgewebe kann sich besser erholen: Die Überlebenskurven von Tumorgewebe und Normalgewebe laufen durch die Fraktionierung auseinander. Da das Mammakarzinom auch einen relativ geringen  -Wert hat (siehe oben), hat sich dort inzwischen die hypofraktionierte Bestrahlung durchgesetzt, da es keinen großen Fraktionierungsgewinn gibt. Für das Prostatakarzinom steht dies noch aus; m. E. fehlen vor allem Langzeitergebnisse. Ein Fraktionierungsgewinn ist etwa weniger Lungenfibrose (Spätnebenwirkung auf Normalgewebe) bei fraktionierter Bestrahlung des NSCLC.

Frühreagierendes Normalgewebe (z. B. Haut, Schleimhaut): Akutnebennebenwirkung (z. B. Erythem) vor allem von der Gesamtdosis abhängig.

Spätreagierendes Normalgewebe (z. B. Lunge): Spätnebenwirkung (z. B. Fibrose) vor allem von Einzeldosis abhängig.

Anwendungsbeispiel

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Oft geht es darum, die Standarddosierung (bei kurativ intendierter Bestrahlung oft 2 Gy Einzeldosis, daher spricht man auch oft von einer EQD2, also einer Gesamtdosis bei 2 Gy Einzeldosis) in andere Fraktionierungsschemata umzurechnen. So auch im folgenden Beispiel.

Acht Monate nach Erstdiagnose und Operation eines Endometriumkarzinoms (initiales Stadium pT2 cN0 cM0, endometrioides Adenokarzinom G1) hat eine über 85 Jahre alte Frau ein Lokalrezidiv im Bereich des Scheidenstumpfes sowie pelvine und paraaortale Lymphknotenmetastasen. Es soll eine Bestrahlung im Bereich des Beckens und der Metastasen durchgeführt werden. Die EMBRACE-II-Studie (allerdings für das Zervixkarzinom) sieht für befallene Lymphknoten eine Dosis von 60 Gy mit 2 Gy Einzeldosis (d. h. 60 Gy EQD2) vor. Diese Dosis soll bei der Patientin auch appliziert werden. Als Grundplan ist allerdings eine Bestrahlung mit 50,4 Gy in 28 Fraktionen bei 1,8 Gy Einzeldosis geplant. Wie muss man die Einzeldosis auf die befallenen Lymphknoten wählen, damit man im Rahmen eines simultan integrierten Boosts dort eine EQD2 von 60 Gy in 28 Fraktionen erreicht? Aus der EMBRACE-II-Studie ergibt sich implizit, dass ein   = 9 Gy angenommen wurde.

Nach oben genannter Formel muss gelten:  , dabei nehmen wir (bei natürlich willkürlicher Numerierung der Indices)   als die gesuchte Einzeldosis in   = 28 Fraktionen an, die einer EQD2 von 60 Gy, also   = 2 Gy in   = 30 Fraktionen entsprechen soll. Weiterhin gilt gemäß Vorgabe (Ohne diese Angabe müsste man den Wert schätzen, dies verursacht oft aber nur geringe Änderungen am Ergebnis):   = 9 Gy.

Wir dividieren durch   und multiplizieren aus:  . Diese quadratische Gleichung lässt sich mit Formel oder mathematisch ästhetischer mit quadratischer Ergänzung lösen. Es ergibt sich:   Gy. Die einzig sinnvolle Lösung ist eine positive Dosis. Somit ergibt sich als Einzeldosis   = 2,12 Gy. Um in den befallenen Lymphknoten eine EQD2 von 60 Gy zu erreichen, benötigt man also bei 28 Fraktionen eine Einzeldosis von 2,12 Gy (anstelle von 2,0 Gy bei 30 Fraktionen).

Biologisch effektive Dosis

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Die Grundformel lautet hier:  .

Das entspricht also oben genanntem   dividiert durch  . RBE steht für relative biological effectiveness, das ist gleichbedeutend mit BED für biologisch effektive Dosis. Es handelt sich dabei eigentlich nicht um eine Dosis.   ist unabhängig vom zeitlichen Muster der Bestrahlung,   nicht; daher kann durch Division durch   normiert werden.[6]

Beispiel

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Am besten sehen wir die Anwendung an einem Beispiel: Eine Patientin ist vor acht Jahren bei Mammakarzinom an Thoraxwand und supraklavikulärem und parasternalem Lymphabfluss rechts bestrahlt worden und hat nun ossäre Metastasen unter anderem im Bereich BWK 3. An dieser Stelle ist das Rückenmark aus der Bestrahlung des Lymphabflusses mit 29 Gy vorbelastet. Die Bestrahlung damals erfolgte in 28 Fraktionen, also kamen 1,04 Gy pro Fraktion auf das Rückenmark im Bereich des BWK 3. Wir rechnen mit einem  -Wert von 2 Gy für das Rückenmark und gehen davon aus, dass man das Rückenmark bis etwa 45 Gy a 1,8 Gy belasten kann.

Jetzt rechnen wir alles in RBE bzw. BED um: Aus der Bestrahlung vor acht Jahren ist das Rückenmark vorbelastet mit:  . Hierbei haben wir nur die oben genannten Werte in die Grundformel eingesetzt.

Nach mindestens einem Jahr, das nach der Bestrahlung vergangen ist, kann man empirisch eine Erholung von 40 % annehmen. (Aber nach zwei Jahren nicht nochmal 40 % usw., sondern nur einmal 40 %). Damit können wir von einer Vorbelastung von aufgerundet(!)   ausgehen.

Als Toleranzdosis für das Rückenmark kann man 45 Gy annehmen, etwa als 25 Fraktionen zu 1,8 Gy. Umgerechnet ergibt das:  .

Aus der Differenz von Toleranzdosis und Vorbelastung ergibt sich eine Reserve von  .

Diese wollen wir jetzt bei geplanten palliativen Bestrahlung an BWK 3 mit 10 mal 3 Gy auf keinen Fall überschreiten. Dazu setzen wir aus der Grundformel wie folgt an:  , da es 10 Fraktionen werden sollen. Gesucht ist die Dosis d einer Fraktion. Hier ergibt sich wieder eine quadratische Gleichung mit zwei Lösungen. Nur die positive Dosis ist sinnvoll. Somit ergibt sich d = 2,5637 Gy, also abgerundet d = 2,5 Gy.

Als Randbedingung sollte man also in die Planung geben, dass das Rückenmark im Bereich BWK 3 pro Fraktion nicht mehr als 2,5 Gy erhalten soll.

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Einzelnachweise

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  1. ro-journal.biomedcentral.com CM van Leeuwen et al.: The alfa and beta of tumours: a review of parameters of the linear-quadratic model, derived from clinical radiotherapy studies. Radiat Oncol (2018), 13(1):96.
  2. pubmed Rainer J Klement et al.: Estimation of the α/β ratio of non-small cell lung cancer treated with stereotactic body radiotherapy. Radiother Oncol. 2020 Jan;142:210-216. doi:10.1016/j.radonc.2019.07.008.
  3. pubmed Jian Z Wang, M Guerrero, X Allen Li: How low is the alpha/beta ratio for prostate cancer? Int J Radiat Oncol Biol Phys (2003), 55(1):194-203.
  4. pubmed X Sharon Qi, Julia White, X Allen Li: Is α/β for breast cancer really low? Radiother Oncol. 2011 Aug;100(2):282-8. DOI: 10.1016/j.radonc.2011.01.010
  5. Haviland et al. 2013: START-A
  6. Wannenmacher, Wenz, Debus: Strahlentherapie, Springer-Verlag, 2. Auflage, S. 52.