Der Anspruch der Wikipedia steckt bereits im Namen: Es ist eine Enzyklopädie, die auf dem Wege eines Wikis erstellt wird. Nun gibt es Kritiker, die wie in der Überraschungsei-Werbung einwenden: "Das sind ja gleich zwei Wünsche auf einmal! Das geht nun wirklich nicht!" Zumal, wenn beide Ansprüche sich oft diametral entgegenzustehen scheinen. Sehen wir uns das einmal näher an.

Was ist eine Enzyklopädie?

Die Frage scheint simpler als sie bei näherer Betrachtung ist. Man kennt den Brockhaus und die Encyclopædia Britannica und die Adepten des hehren Wissensideals in der Wikipedia wird man ihr ewiges Mantra wiederholen hören: So, genau so wollen wir auch werden! Auf dass in unserem Werke nicht nur jeder Artikel die nötige Relevanz besitze, enzyklopädisch formuliert sei, natürlich auch hinreichend belegt und auf dass wir keine bloßen Datensammlungen bieten, denn uns geht es ums edle Wissen, nicht um die banale Information (igitt). Und weil es nicht nur guten Willen braucht, um diesem Anspruch gerecht zu werden, sondern auch Kompetenz, muss man sicherstellen, dass der gemeine Pöbel uns unser Werk nicht kaputtmacht, nein, die erleuchtete Elite muss dafür Sorge tragen, dass die Wikipedia nicht vor die Hunde geht, ergo braucht es eine benevolente Meritokratie; der Brockhaus hat schließlich auch eine ausgebildete Redaktion und was dem Brockhaus Recht ist, kann uns nur billig sein. Was aber ist nun dran an dem hehren Anspruch, und: passt er überhaupt immer zu einem Projekt, das so aufgebaut ist wie die Wikipedia? Gehen wir die Punkte durch:

Da ist die Gretchenfrage: Wie hältst Du's mit der Relevanz? Klarer Fall, wir haben ja unsere Relevanzkriterien, die, man wird es nicht müde, das zu wiederholen, Blut, Schweiß und Tränen gekostet haben, ehe man sich auf sie im Konsens geeinigt hat. Doch schaut man genau hin, wird man unsicher. Von hinreichenden und notwendigen Bedingungen liest man. Und es gibt Ausnahmen. Eine C-Prominente, ein Kleinstadtbürgermeister, eine Hiphopband erfährt dann doch die Gnade der Aufnahme in die Wikipedia, weil es etwas gibt, was sie dann doch auszeichnet, obwohl sie eigentlich die Messlatte reißen. Oder ein Ortsteil bleibt, weil ein Benutzer es schafft, dessen Geschichte so lebendig zu schildern, dass es fast als Sakrileg erscheint, das Fünfhäusernest löschen zu wollen, das da plötzlich seinen ganz eigenen Reiz gewinnt. Was entscheidet also, die Relevanzregel? Nein, das Interesse! Und wie mein Deutschlehrer schon so schön meinte: Es gibt nichts Uninteressantes - nur Uninteressierte. Was nicht heißt, dass unzureichende Artikelversuche und gar zu kleinteilige Details und völlig unbedeutende Personen nicht auch gelöscht werden sollten; in solchen Fällen nämlich, in denen sie beim besten Willen nicht interessant dargestellt werden können. Das ist die Position eines moderaten Inklusionisten.

Dann die enzyklopädische Formulierung. Da ist was dran, der Stil ist wichtig und nicht nur, weil's im Brockhaus auch so steht. Dennoch gebe ich nur mal zu bedenken, wie die Mutter aller Enzyklopädien der Herren Diderot und Voltaire mit dem schönen Titel Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers ausgesehen hat. Es war eine Zusammenstellung von Essays, äußerst geistreiche Aufsätze etwa über Demokratie, Freiheit oder die Natur. Essayistischer Stil gilt in heutigen Enzyklopädien als Todsünde; in unserer positivistischen Epoche haben wir es uns angewöhnt, glasklare, fast mathematische Definitionen zu verwenden, um nicht ins Wischiwaschi zu verfallen. Nun ist in der Tat ein gut strukturierter Artikel der Art "A ist ein B und zeichnet sich durch die Merkmale C, D und E aus" nicht nur gut lesbar und, wenn omifiziert, für Laien nachvollziehbar, ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit zu verlieren, hin und wieder kann es aber Fälle geben, wo auch die gute alte Essayistik hier ihre Berechtigung hat. Ich nenne da gerne den Artikel Dummheit, nicht nur, weil er zu weiten Teilen aus meiner eigenen Feder stammt :-), sondern weil seine ursprüngliche "enzyklopädische Form" - er beschrieb die Dummheit zunächst als rein medizinisches Phänomen der Intelligenzminderung - der Sache nicht gerecht wurde.

Und die Quellen. Wir haben da ja unsere Experten, denen man gleich anmerkt, dass sie exzellente Fachwissenschaftler sind. So exzellent, dass sie nur noch in Fußnoten, bibliographischen Hinweisen, Literaturangaben, op. cit., ebda., ders., o.J. und ff. denken. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen einer Doktorarbeit und einer Enzyklopädie. Nicht alles, was keine explizite Quellenangabe hat, ist deshalb gleich wertlos und muss gestrichen werden. Bei banalen, allgemein bekannten Fakten wirkt es ohnehin lächerlich, wenn man erst belegen wollte, woher man denn etwa wisse, dass meinetwegen Frau Merkel 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt wurde (siehe Nachrichten/Berichterstattung vom Soundsovielten). Anders sieht es bei Informationen aus, die man sich aus Büchern zusammensucht. Da ist es schlicht ein Gebot der Höflichkeit, seinen Mitschreibern an diesem Werk mitzuteilen, wo man seine Weisheit her hat. Tut man es nicht, bürdet man anderen unnötig die Arbeit auf, die Information zu überprüfen, man macht sich also mehr oder weniger eines Wikiquette-Verstoßes schuldig, die Information, so sie denn stimmt, wäre aber trotzdem von Nutzen. Was die Scholastiker unserer Tage, die auf die Autorität des gedruckten Wortes pochen, übrigens auch gerne übersehen: Papier ist geduldig und eine fundierte Angabe im Internet ist mir allemal lieber als Unsinn, der zwischen Buchdeckeln zu finden ist. Da sind Argumente allemal wichtiger als (echte oder vermeintliche) Autoritäten.

Wikipedia ist keine Datenbank. Auch das ist richtig. Was aber natürlich nicht heißen darf, dass alles und jedes in Fließtext stehen muss. Listen, Übersichten, Tabellen dienen, wenn sie gut aufbereitet sind, mitunter mehr dem Wissensgewinn, als wenn man sich dieselben Informationen aus einem Text herausfiltern muss. Wie bei allen enzyklopädischen Informationen kommt es auch hier wieder darauf an, dass das relevant und (für eine minimale Anzahl an Personen) interessant sein muss. Da gibt es dann natürlich Kritiker, die sagen: "Eine Liste von U-Bahnhöfen? Eine Aufzählung von Flüssen? Eine Tabelle mit allen Arten von Graugänsen? Das kann doch keinen interessieren! Ich finde es jedenfalls unendlich langweilig." Nunja, man darf eben nie von sich auf andere schließen. Auch die Train (Bahnhofs-, Flüsse-, wasauchimmer-)spotter haben ein Erkenntnisinteresse, das man nicht geringschätzen muss, weil man sie für exzentrisch hält. Richtig ist allerdings, dass es häufig bessere Alternativen zu solchen Auflistungen im Netz gibt. Natürlich gibt es jede Information, die in der Wikipedia steht, bereits irgendwo im Internet, aber man wird doch zumindest abwägen müssen, ob sich eine solche spezielle Datensammlung in das Gesamtkunstwerk Wikipedia einfügt oder nicht. Bei einer 1:1-Kopie des Telefonbuchs von Berlin bestehen wahrscheinlich berechtigte Zweifel daran. Das, und nur das ist gemeint, wenn man sagt, die Wikipedia sei keine Datenbank.

Man sieht, die Wikipedia ist eine Enzyklopädie, aber eben eine Enzyklopädie der besonderen Art. Was macht sie besonders? Zum Einen der Umfang, das Medium Internet, durch das sie erstellt wird, last but not least aber eben die Tatsache, dass es eine Wikipedia ist. Damit kommen wir zur zweiten Frage:

Was ist ein Wiki?

Ein Wiki ist ein Essay, ein Work in Progress, eine unvollendete Symphonie, ein Kunstwerk und, ganz wichtig, eine Gemeinschaft von Menschen. Es sind keine Maschinen, die diese Enzyklopädie schreiben, darum enthält sie Fehler. So, wie der Mensch ein fehlerhaftes Wesen ist und trotzdem "funktioniert", obwohl die Natur ihn mit Zahnschmerzen, Kurzsichtigkeit und Bandscheibenvorfällen ärgert. Die Natur hat uns aber zum Glück auch mit Intelligenz und sozialen Fähigkeiten ausgestattet, mit denen können wir diesen Gebrechen begegnen, indem wir die Zähne putzen, Sport treiben, eine Brille kaufen oder einen Arzt konsultieren, der uns operiert. Mit der Wikipedia ist es genauso. Jeder Beiträger verfügt über ein, im Vergleich zum Gesamtwerk, relativ unbedeutendes Quantum an Wissen. Das bringt er ein, dabei macht er Fehler, vertippt sich, deutet Zusammenhänge falsch oder sein Wissen ist vielleicht veraltet. Das Wikiprinzip baut nun darauf, dass diese Schwächen durch die Summe aller Bearbeitungen nicht nur gegenseitig eliminiert werden, sondern dass sich am Ende die Kompetenz, die beste Version durchsetzt. Das ist idealistisch gedacht, wir alle wissen, dass der Mensch zwar häufig gut sein will, es aber nicht immer ist. Da gibt es Vandalen, deren Geltungsdrang oder Zerstörungssucht sie dazu treibt, die Arbeit anderer kaputtzumachen. Nun gut, dagegen haben wir Putzkolonnen und Revertierungsfunktionen. Nicht schön das, aber c'est la vie. Wir haben den einen oder anderen Administrator, der bei seiner Qualitätssicherung übers Ziel hinausschießt und seine Sicht der Dinge versucht durchzudrücken; da wird es mitunter schwieriger, das zu korrigieren, weil die Elite Vertrauensvorschuss genießt, aber auch nicht unmöglich. Die Erfahrung lehrt, dass man auch hier wohl alle eine Zeit lang und manche dauernd, aber nicht alle dauernd für dumm verkaufen kann, wie es mal ein kluger Geist ausgedrückt hat.

Wenn nun so ein Wiki wie die Wikipedia also ein sozialer Verband ist, stellt sich die Frage der Organisation. Diejenigen, die das Brockhaus-Ideal vor Augen haben, schwören auf die Macht einer Redaktion, also der auserwählten Wenigen. Man misstraut dem gemeinen Volk. Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen, sagte bekanntlich schon Schiller. Ganz wird man das ursprüngliche Ideal von einer Enzyklopädie, "an der jeder mitschreiben kann", nie fallen lassen, weil es sich doch gar zu verführerisch anhört, aber man beharrt auf Sicherungsmechanismen. "Man" will hier natürlich heißen: Die Mitglieder der Elite. Das macht aber leicht anfällig für die Gefahren, denen auch im Reallife aristokratische, elitäre, oligarchische Gesellschaftssysteme ausgesetzt sind. Die herrschende Schicht, Kaste, Klasse braucht eine Legitimation, braucht Rechtfertigungen, sonst droht die Revolte; das gilt nicht nur in Staaten, das gilt genauso für eine Familie oder einen Betrieb. Also wird der Vater, der Aktionär, der Wikipedia-Administrator darauf verweisen, dass Regeln notwendig sind, damit nicht das Chaos ausbricht und überhaupt müsse man der Sache dienen. Dagegen ist schwer widersprechen. Wer sich ernsthaft an der Artikelarbeit beteiligt, hat Enthusiasmus und glaubt an das Projekt, wie der Sozialist an seine klassenlose Gesellschaft und der Liberale an den Fortschritt. Der eine bosselt fleißig an der Rechtschreibung sprachlich unzureichender Artikel, der andere schreibt systematisch Artikel aus seinem Themenbereich, bis der enzyklopädisch abgedeckt ist, der Dritte werkelt an der Struktur des Ganzen und kümmert sich um Kategorisierungen, der Vierte ist ein Allrounder und schreibt hier was im Bereich Geschichte und dort was über Staatssekretäre oder die Geographie Kaliforniens. Und die Admins? Nun, die sorgen idealerweise dafür, dass der Laden reibungslos läuft. In der Wirtschaft spricht man bisweilen vom Nachtwächterstaat, so sind wohl auch die Admins gedacht. Wer Stunk macht, kommt kurz vor die Tür, wer weiter Stunk macht, auch für länger, kloppen sich zwei um einen Artikel, wird der Artikel gesperrt, ansonsten steht man mit Rat und Tat zur Verfügung, der Admin, Dein Freund und Helfer. So sollte es sein, so ist es meist auch. Wenn auch nicht immer. Admins sind auch nur Menschen und so, wie es beim Fußvolk schwarze Schafe gibt, gibt es sie auch unter den Admins. Die schwarzen Schafe des Fußvolks neigen dann dazu, in den schwarzen Schafen der Admins System zu sehen, ein System, das sie unterdrücken, unbequeme Meinungen ausgrenzen, die Meinungsfreiheit und die Demokratie unterdrücken will. Ich halte eine solche Sichtweise für mächtig übertrieben. Immerhin helfen die Rufe mancher Querulanten bisweilen, sich tatsächlicher Missstände bewusst zu werden, wenn sie auch selten so katastrophal und schlimm sind, wie die Querulanten behaupten. Ich selbst sehe mich als kritischer Geist, der da genau hinschaut. Wenn ich Willkür beobachte, dann nenne ich sie auch beim Namen, mache dafür aber den fehlerhaften Menschen, nicht die gesamte Adminschaft verantwortlich, wie ich für eine vandalisierende IP den Vandalen, nicht die IPs kritisiere.

Solange wir über ausreichend Glasnost und Perestroika verfügen, sind das Vorgänge, die sich im offenen, herrschaftsfreien Diskurs regeln lassen. Genau darum vertraue ich dem System Wikipedia. Es vereint die Vorzüge einer guten Enzyklopädie mit denen eines sich selbst regulierenden sozialen Gemeinwesens. Es ist alles andere als vollkommen, bietet aber, frei nach Leibniz, die beste aller möglichen Enzyklopädien, eben weil sie fehlertolerant ist. Wir haben den Ehrgeiz, gut zu sein. Den Ehrgeiz haben auch die, die Fehler machen. Ehrgeiz kann manchmal intolerant machen, weil man eben so von den eigenen Qualitäten überzeugt ist. Bei allem berechtigten Stolz auf das Geleistete täte uns da immer wieder auch eine gute Portion Bescheidenheit gut - wir Wikipedianer wissen zwar eine ganze Menge, verglichen mit dem Wissen eines Durchschnittsmenschen sowieso, aber selbst verglichen mit dem Weltwissen, müssen wir uns nicht verstecken; dennoch gilt gerade für uns Intellektuelle, was schon Newton erkannt hat, der das größte Genie seiner Zeit war und doch bescheiden meinte, er käme sich manchmal nur vor, wie ein Kind, das am Meeresstrand ein paar schöne Steine entdeckt habe, während vor ihm ein riesiger Ozean der Erkenntnis erst noch der Entdeckung harre. Die Wikipedia ist der Versuch, in Millionen winzigen Schritten immer weiter diesen Ozean zu erfassen.

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