Wikipedia-Projekt Bamberger Islam-Enzyklopädie (BIE): immer noch einzigartig

Bearbeiten
 
Screenshot der Eingangsseite der Bamberger Islam-Enzyklopädie

Seit 2013 baut Patrick Franke das Themenfeld Islam in der Wikipedia aus. Mit der BIE ist eine Durchdringung von Wikipedia- und universitären Strukturen entstanden, zu der es bis heute kaum vergleichbare Projekte gibt. Bei einer Projektvorstellung 2015 anläßlich des 10. Geburtstags der WMDE vermutete unser Kollege PaFra, dass fehlende Autoreninformationen bei Artikeln eine Rolle spielen und der erleichterte Zugang zu Fachmedien als Incentive für universitäre Autoren dienen könnte. 2024 haben wir XTools-Autorenlinks und die Wikipedia Library, aber die BIE ist immer noch einzigartig. Woran liegt das?

Dass die BIE nicht rezipiert wurde, scheint als Grund recht unwahrscheinlich: auf der zugehörigen Seite der Uni Bamberg finden sich Projektinfos und ein Pressespiegel, jenseits der dort verlinkten Quellen schrieben noch RND, rbb24 und noch einige mehr, und die Frage liegt nahe, ob die Wikipedia selbst nicht auch zu Nachahmeprojekten animieren könnte. Diese Frage ist mitnichten neu, denn bereits 2016 referierte Barnos über Wege zur Neuautorengewinnung auf der WikiCon und verwies dabei auf das Modell BIE:

"Mir erscheint dieses Modell insgesamt als eine geradezu mustergültige Einladung an Wissenschaftler aller Fakultäten, auf einer ebenso gearteten Basis an und in der Wikipedia mitzuwirken. Wir sollten das gern an die ganz große Glocke hängen!"

Auf die BIE stieß ich nicht etwa in der Wikipedia, sondern bei einer mehr oder weniger zufälligen Unterhaltung im Fediverse. Mein Gegenüber meinte, er würde gerne mehr Projekte wie die BIE in der Wiki sehen. Ich klickte auf seinen Link und es folgte ein "Oh, ich auch"-Gedanke. Auf diesen folgten die Fragen, warum ich von so etwas nicht in der Wikipedia hörte und warum es nach wie vor das einzige Projekt dieser Art ist. Einige der Hemmnisse aus dem vorigen Jahrzehnt sind behoben. An welchen liegt es heute?

Benutzer:PaFra: Einige der Gründe, die hauptberufliche Wissenschaftler von einer Beteiligung an der Wikipedia abhalten, bestehen bis heute weiter und können wahrscheinlich auch nicht beseitigt werden. Dazu gehören der große Zeitaufwand, der mit der Erstellung von Wikipedia-Artikeln verbunden ist, die Skepsis hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Investitionen in dieses Medium, weil eigene Beiträge jeder Zeit von anderen verändert werden können, der nach wie vor geringe Wert von Wikipedia-Artikeln für die wissenschaftliche Karriere und Reputation, und die fehlende Zitierfähigkeit. Hinzu kommt das Verbot der Theoriefindung, das wissenschaftlicher Arbeit in der Wikipedia enge Grenzen setzt und dieses Medium insbesondere für solche Wissenschaftler unattraktiv macht, denen die Generierung und Verifikation von Hypothesen als wichtigstes Kriterium wissenschaftlicher Forschung gilt. Man will sich ja als Wissenschaftler nicht darauf beschränken, nur zu referieren, was andere Wissenschaftler zu einem bestimmten Thema zu sagen haben, sondern auch Neues erforschen. Diese Dinge haben sich also seit 2015 nicht verändert.

Nach wie vor bin ich aber der Meinung, dass die Kennzeichnung der Autorenschaft unter jedem Artikel und die Wikipedia Library gute Instrumente sind, um die Bereitschaft von Wissenschaftlern, an der Wikipedia mitzuwirken, zu erhöhen, nur sind diese Dinge vielen Wissenschaftlern nicht bekannt. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Wissenschaftler, denen ich den Autoren-Button am Ende von Artikeln zeigte, waren sehr überrascht. Ich meine, dass man diese Vorzüge des Mediums noch viel aktiver bewerben könnte, etwa indem man bei unangemeldeten Benutzern ähnlich dem Spenden-Banner ab und zu ein Banner mit dem folgenden oder ähnlichen Wortlaut einblenden würde: „Sie sind Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler? Tragen Sie mit Ihrem Wissen zu diesem globalen zivilgesellschaftlichen Projekt bei. Arbeit an der Wikipedia ist Arbeit für die Allgemeinheit. Wir bieten: Ausgewiesene Autorenschaft und freien Zugang zu den Publikationen und Zeitschriften renommierter internationaler Verlage.“ Die Seiten, auf denen detailliertere Informationen zu den Autoren-Links und zur Wikipedia Library geboten werden, sollten dann entsprechend verlinkt werden. Ich könnte mir vorstellen, dass man mit diesem Angebot vor allem viele nebenberufliche Wissenschaftler gewinnen könnte, die nach dem Ausscheiden aus der Universität keinen Zugang mehr zu Fachmedien haben, diesen aber vermissen. Wenn das Angebot entsprechend gut und vollständig ist, wird es aber auch für hauptberufliche Wissenschaftler attraktiv. Das ist es im Moment aber noch nicht.

Ich vermisse in der Wikipedia Library noch einige wichtige Fachverlage, zum Beispiel Routledge und I.B. Tauris. Der Zugang zur Brill-Sammlung funktioniert schon seit Wochen nicht mehr. Und für einen Zugang zum Angebot des persischsprachigen Noormags-Verlag habe ich mich schon vor mehr als einem Jahr beworben, ihn aber immer noch nicht erhalten. Mit diesem Zustand der Wikipedia-Library kann man noch nicht viele Wissenschaftler locken. Da gibt es meines Erachtens noch viel Luft nach oben.

Warum ist die Bamberger Islam-Enzyklopädie (BIE) immer noch einzigartig? Liegt es an der dewiki, am Wissenschaftsbetrieb oder an der Gesamtsituation, und wer könnte möglicherweise etwas tun?

Die Bamberger Islam-Enyzklopädie war ursprünglich dafür gedacht, zwei der oben genannten Probleme (fehlende Kennzeichnung von Autorschaft und fehlender Wert des Wikipedia-Engagements für die Karriere) zu beheben und andere Wissenschaftler meines Fachs und angrenzender Fächer dadurch dazu zu motivieren, sich an der Wikipedia zu beteiligen. Als ein abgegrenzter Raum innerhalb der Wikipedia, der unter wissenschaftlicher Herausgeberschaft steht und in dem die Autorschaft der Artikel klar gekennzeichnet wird, sollte sie anderen Wissenschaftlern ermöglichen, „auf für die Fachwelt sichtbare Weise ebenfalls Beiträge zum Islam-Bereich der deutschsprachigen Wikipedia zu leisten“. Nach acht Jahren Laufzeit muss ich allerdings konstatieren, dass die Beteiligung anderer Wissenschaftler an dem Projekt immer noch sehr gering ist. In diesem Punkt bleibt die BIE weit hinter meinen Erwartungen zurück.

Allerdings ist die BIE ein sehr erfolgreiches Branding-Instrument. Dadurch, dass ich meinem Wikipedia-Projekt einen Namen gegeben habe und es auf der Website meines Lehrstuhls als „Enzyklopädie“ präsentiere, ist es in der Fachwelt und darüber hinaus inzwischen sehr bekannt geworden, zum Teil auch in den islamischen Ländern. Ich werde mittlerweile relativ häufig von Wissenschaftlern ganz anderer Fächer kontaktiert, die dieses Projekt „interessant“ oder „nachahmenswert“ finden, selbst mit dem Gedanken spielen, in der Wikipedia aktiv zu werden, und sich von mir strategisch beraten lassen. Von daher halte ich für durchaus wahrscheinlich, dass es in ein paar Jahren Projekte gibt, die ähnlich funktionieren, weil die Einsicht in die Sinnhaftigkeit solcher Projekte zunimmt.

Die BIE ist ein typisches Pilotprojekt: Es ist ein Großversuch bzw. Demonstrationsprojekt, bei dem ich ein neuartiges Modell des Wissenschaftstransfers erprobe, das es bisher so noch nicht gibt. Es besteht daraus, eine digitale Fachenzyklopädie aufzubauen, die nicht auf einer separaten Plattform gehostet wird, sondern in das weltweit größte kooperativ erstellte Enzyklopädieprojekt eingebettet ist. Die Frage ist, ob so etwas überhaupt machbar ist und ob es die gewünschte Akzeptanz findet. Es liegt aber in der Natur von Pilotprojekten, dass erst einmal einzelne vorangehen und die vorhandenen Möglichkeiten erkunden. Von den Erfahrungen, die ich dabei mache, können andere Wissenschaftler profitieren. Je erfolgreicher dieses Experiment ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Nachahmer findet. Ich denke, wir müssen hier aber in größeren Zeiträumen denken, weil auch der Aufbau von neuen Projekten sehr viel Zeit erfordert.

Gäbe es hier beispielsweise Optionen zur Revitalisierung von Portalen und Projekten? Wäre ein "BIE-Nachahmer willkommen: $infotext"-Baustein möglicherweise eine aktivierendere Ansicht als eine Portaldisk ohne Beiträge und einer Archivliste bis einschließlich 2020?

Ein Kollege, mit dem ich mich einmal über die BIE unterhielt, schlug vor, es wäre doch schön, wenn die Artikel der BIE in der Wikipedia selbst gekennzeichnet würden, analog zu den Bewertungsbausteinen „Exzellenter Artikel“ oder „Lesenswerter Artikel“. Auf diese Weise wüsste man gleich, welche Artikel Teil des Projekts sind. Nehmen wir an, das würde tatsächlich umgesetzt werden und man fände demnächst in einigen Islam-Artikeln ein Symbol vor, bei dem ein Tooltip mit dem Text „Dieser Artikel ist Teil der Bamberger Islam-Enzyklopädie“ erscheint, dann würde das die Sichtbarkeit der BIE innerhalb Wikipedia stark erhöhen. Möglicherweise würde es andere Wissenschaftler noch stärker motivieren, sich an der BIE zu beteiligen, und es könnte ein Ansporn für andere Wissenschaftler sein, ähnliche Projekte auf die Beine zu stellen, um damit Sichtbarkeit in der Wikipedia zu erlangen. Es könnte also eine neue Dynamik im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wikipedia in Gang setzen. Sollte es irgendwann eine Bayreuther Afrika-Enzyklopädie, eine Greifswalder Baltistik-Enzyklopädie und eine Augsburger Computerlinguistik-Enzyklopädie usw. geben, deren Artikel in der Wikipedia gekennzeichnet wären, dann könnte das auch für die Wikipedia von Vorteil sein, weil so immer mehr Artikel von wissenschaftlicher Seite betreut würden. Ich habe aber Zweifel, dass eine solche Kennzeichnung von universitär betreuten Artikeln innerhalb der Wikipedia auf Zustimmung stoßen würde, weil sie im Grunde auch Standortwerbung darstellen und damit gegen das Prinzip der Neutralität verstoßen.

Langfristig könnte man aber über Textbausteine wie „Dieser Artikel wird von der Fachgesellschaft für... empfohlen“ nachdenken. Solche Textbausteine würden das Vertrauen in die Qualität von Wikipedia-Artikeln sicherlich erheblich erhöhen. Notwendig wären dafür aber stabile Qualitätssicherungssysteme, die in Zusammenarbeit mit den betreffenden Fachgesellschaften entwickelt werden müssten. Davon sind wir aber heute noch sehr weit entfernt, weil bisher – so weit ich weiß – noch keine Beziehungen zu den Fachgesellschaften bestehen.

Gäbe es so etwas wie "Keimformen", niedrigschwellige Aktionen, aus denen was größeres entstehen könnte? Welche Optionen siehst Du da?

Es gibt ja schon sehr viele kleinere Aktionen, beispielsweise Dozenten, die mit ihren Studierenden innerhalb eines Seminars einen gemeinsamen Wikipedia-Artikel erstellen oder von ihren Studierenden mehrere kleinere Artikel erstellen lassen. Solche Aktionen sind aber sehr betreuungsintensiv, nicht zuletzt deshalb, weil viele Studierende mit solchen Aufgaben eigentlich überfordert sind. Üblicherweise entwickelt sich aus solchen Einzelaktionen auch nichts Größeres, weil man dafür eine langfristige Wikipedia-Strategie braucht, die den meisten Wissenschaftlern, soweit ich sehe, fehlt.

Mir begegnen gelegentlich missglückte Versuche a la "Wir wurden von $dozent in die Wiki geschickt, um $thema zu recherchieren und zu korrigieren". Gäbe es da Optionen/best practises, so etwas in produktivere Bahnen zu lenken, gar auszubauen?

Für das Einbeziehen von Wikipedia in die Hochschullehre gibt es eigentlich schon ein paar nützliche Informationsseiten, insbesondere die Seite Wikipedia:Seminararbeit. Dort wird zum Beispiel erklärt, was sinnvolle und was weniger sinnvolle Projekte sind. Das größte Problem dürfte darin bestehen, dass viele Lehrveranstaltungsleiter selbst über keine oder nur wenig Wikipedia-Erfahrung verfügen. Dann können sie natürlich ihre Studierenden auch nicht ausreichend beraten.

Was kann da die universitäre Struktur leisten? Und wahrscheinlich wichtiger, weil ein Hebel, an dem wir selber sitzen: was können wir seitens Wikipedia tun, anbieten, anstoßen?

Unterstützung von universitärer Seite ist bei solchen Projekten sicherlich sehr hilfreich. Für mich zum Beispiel ist es sehr angenehm zu wissen, dass sowohl meine Universität als auch meine Fakultät hinter dem Projekt der Bamberger Islam-Enzyklopädie stehen und dieses für förderungswürdig erachten. Es dient beiden als ein Beispiel für gelungenen Wissenschaftstransfer, was deshalb nicht ganz unwichtig ist, weil der Transfer als third mission neben Forschung und Lehre für die Universitäten heute immer wichtiger wird. In meinem Bundesland Bayern ist der Wissenschaftstransfer 2022 durch das Bayerische Hochschulinnovationsgesetz (Art. 59) sogar zur Dienstaufgabe der Professoren erhoben worden. Andere Bundesländer werden diesem Beispiel wahrscheinlich folgen. Es ist nicht auszuschließen, dass Wissenschaftler diesbezüglich irgendwann sogar berichtspflichtig werden. Will man zukünftig gezielt um Wissenschaftler werben, könnte man die Werbung auf diesen Punkt abstellen und deutlich machen, dass die betreffenden Personen durch Beiträge zur Wikipedia auch ihrer Aufgabe zum Wissenschaftstransfer nachkommen können.

Allerdings ist bezüglich der Werbung um die Mitarbeit von Wissenschaftlern nicht so sehr die Community der Wikipedianer gefordert. Das ist eher eine Sache für den Verein WMDE (und in geringerem Maße WMAT und WMCH), der seinen Umsatz hauptsächlich durch Spenden von Menschen erwirtschaftet, die das Projekt der Wikipedia unterstützen wollen. Wenn er ein paar von seinen 160 Mitarbeiter:innen dafür abstellen würde, Programme zu entwickeln, um Wissenschaftler:innen an die Wikipedia heranzuführen, würde das sicherlich seine Wirkung haben. Wichtig dafür wäre die Schaffung von Anreizsystemen, zum Beispiel durch die regelmäßige Verleihung von Preisen für Wissenschaftler, die sich bei Wikipedia engagieren, oder etwa Wikipedia-Freisemester, die von der WMDE (teil)finanziert werden. Auch bei der Verleihung des Communicator-Preises sollte die WMDE zukünftig mitreden können, in der betreffenden Jury ist sie nicht vertreten. Wissenschaftstransfer ist an den Universitäten eigentlich in aller Munde, aber die wenigsten denken dabei an Wikipedia. Das muss sich ändern.

Lieber PaFra, ich danke für das informative Gespräch!

Und mit Sicherheit finden sich - wie von Barnos seinerzeit angeregt - auch größere Glocken, an die man die BIE hängen könnte. Die Glocke "Kurier" für ein ganz vorzügliches Stück Wikipedia läutete an dieser Stelle der

Korrupt, 07.07.2024