Benutzer:Delphan Gruss/In der Sowjetunion unterdrückte Forschung

Die Naturwissenschaften können sich in Russland auf alte Traditionen berufen, schon lange vor dem Russischen Bürgerkrieg. [1]

Wissenschaft spielte in der sowjetischen Ideologie eine einzigartige Rolle: Eine Reihe von unbewiesenen Ideen wurden vom Regime propagiert und verwendet, um die angebliche Überlegenheit des Sowjetstaates zu rechtfertigen. Im Prinzip wurden diese Ideen aus Interpretationen der kanonischen Texte von Marx, Engels und Lenin abgeleitet und sollten die sowjetischen Realität, auch die in der Wissenschaft und Forschung, gestalten.

Da sie allumfassend und konsistent erscheinen sollten, mussten wissenschaftliche Erkenntnisse und ganze Forschungsfelder den Richtlinien der Kommunistischen Partei angepasst und, wenn nötig, gewaltsam verdrängt werden: [2]

Bourgeoise Pseudowissenschaft Bearbeiten

Unter dem Kampfbegriff Bourgeoise Pseudowissenschaft wurden unter anderem und zu verschiedenem Grad, Genetik, Kybernetik, Soziologie, Semiotik und Vergleichende Sprachwissenschaft subsumiert. Diese Wissenschaftsgebiete oder gewisse Interpretationen davon wurden als mit dem Sozialismus inkompatibel angesehen und ihre Erforschung durch die KPdSU unterdrückt.

Geschichtswissenschaft Bearbeiten

Unter Historizismus versteht der Philosoph Karl Popper die sozialistische Theorie, dass die Gesellschaft sich zwangsläufig ändern wird, jedoch entlang eines vorgegebenen Pfades, der nicht geändert werden kann, diktiert von unabwendbaren Notwendigkeit. “Gesellschaftsformation“ ist der hierfür in der marxistischen Theorie verwendete zentrale Begriff. [3] Diese Verschwörungstheorie prägte die sowjetische Geschichtswissenschaft und erschwerte so unvoreingenommene historische Forschung.

Während der Stalinära, wurde ernste historische Forschung dann vollends aufgegeben. Stalin autorisierte das Werk 'Die Geschichte der Russischen Kommunistischen Partei' von 1938 als historische Wahrheit: keine sowjetische Veröffentlichung durfte von dem hierin durch die KPdSU gezeichneten Bild abweichen; der Zugang zu sowjetischen Archiven wurde stark eingeschränkt und missliebige Fakten, beispielsweise über das Massaker von Katyn, geheimgehalten.[4][5]

Biologie Bearbeiten

Genetik Bearbeiten

Ein Amt für Eugenik, an dem genealogische Untersuchungen der Intelligenz unternommen wurden, wurde in den 1920er Jahren in der Sowjetunion gegründet, um den "Neuen Menschen" (Homo sovieticus) zu erschaffen.[6]

Mit einer sich abzeichnenden Hungersnot wurde die Biologie der Landwirtschaft und die hierbei eine Rolle spielende Biologie jedoch mehr und mehr betont.

Trofim Lyssenko propagierte die pseudowissenschaftliche lamarckistische Idee, Tiere und Pflanzen könnten erworbenen Eigenschaften an ihre Nachkommen über veränderte Erbanlagen weiterreichen. Diese These wurde unter anderem von Stalin begrüßt, da sie sich in seine Vorstellung von der Erschaffung des Homo sovieticus passend einfügte.[7] Im Gegenzug wurde die klassische Genetik und die Mendelsche Vererbungslehre als "konterrevolutionär" abgelehnt und die Forschung an Fruchtfliegen oder anderen Modellorganismen als sinnlos oder sogar umtriebig abgetan.

Lyssenkos Konkurrent, der Genetiker Nikolai I. Wawilow, wurde auf Lyssenkos Anregung zuerst in Gewahrsam genommen und dann nach Sibirien deportiert, wo er 1943 starb.

Medizin Bearbeiten

Psychologie und Psychoanalyse Bearbeiten

Die Pawlowsche Reflexpsychologie wurde mit der Etablierung des Stalinismus als einzige "politisch-korrekte" Unterart der Psychologie etabliert. Die vorher von Trotzki teilweise akzeptierte Psychoanalyse geriet auch mit seinem Ausschluss aus dem inneren Zirkel der KPdSU immer mehr in die Kritik. Der "bourgeoise Individualismus" sowie die wesentliche Bedeutung der Sexualität in Freuds Theorien wurden mit der sozialistischen Ideologie als unvereinbar empfunden und sozialistische "Freudomarxisten" wurden marginalisiert und das Staatliche Institut für Psychoanalyse 1925 geschlossen. 1936 verbot Stalin dann die Verbreitung und das Zitieren aus den Werken Freuds vollends.[8]

Pädologie Bearbeiten

In der frühen Sowjetunion der 1920er Jahre befasste sich die staatlich geförderte Wissenschaft der Pädologie unter anderem mit der Zusammensetzung der Schulklassen und mit geistig gestörten und schwer erziehbaren Kindern. Pädologie darf hierbei nicht mit Pädagogik verwechselt werden.[9]

Als jedoch Tests unter anderem Intelligenzunterschiede zwischen Kindern aus unterschiedlichen Schichten offenbarten, oder Kinder aus ethnischen Minderheiten in Befragungen Stolz auf ihre Herkunft ausdrückten, wurde die Pädologie einer staatlichen Zensur unterworfen, damit die Ergebnisse den von der kommunistischen Ideologie erwarteten Statistiken angepasst werden konnten[10]

Physik Bearbeiten

Theoretische Physik Bearbeiten

Die Quantenmechanik und Relativitätstheorie in der Physik wurden von Stalin persönlich abgelehnt, da sie möglicherweise die marxistisch-leninistische materialistische Erkenntnistheorie untergruben. Andererseits waren diese Erkentnisse auch unverzichtbar für den theoretischen Hintergrund der Fertigung von Atomwaffen, die die Sowjetunion dringend benötigte.[11]

Kybernetik Bearbeiten

Sowjetische Kybernetiker strebten danach, diverse kybernetische Theorien, die im Westen ausgearbeitet worden waren, zu vereinheitlichen - Kontrolltheorie, Informationstheorie, Automatentheorie und weitere - in einem einzigen übergreifenden konzeptionellen Rahmen, der als Grundlage für eine allgemeine Methodik für eine breite Palette von sozialen Anwendungen der Kybernetik dienen würde.[12]

In den frühen 1950er Jahren, im Zuge einer Welle der stalinistischen ideologischen Kampagnen gegen westlichen Einfluss in der sowjetischen Wissenschaft, wurde die Kybernetik als "modische Pseudowissenschaft" und "eine reaktionäre imperialistische Utopie" gebrandmarkt.[13][14]

Siehe auch Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. vgl. etwa Loren R. Graham, Science in Russia and the Soviet Union. A Short History. Series: Cambridge Studies in the History of Science, Cambridge 2004.
  2. „Ethan Pollock - Stalin and the Soviet Science Wars“ Abgerufen am 16. November 2014.
  3. „Extracts from The Open Society and Its Enemies Volume II“ Abgerufen am 16. November 2014.
  4. vgl. etwa Jonathan Brent, Inside the Stalin Archives: Discovering the New Russia, Washington 2008.
  5. „Paper Trail “ Abgerufen am 16. November 2014.
  6. „Aufstand der Ketzer Die sowjetische Genetik“ Abgerufen am 16. November 2014.
  7. „Aufstand der Ketzer Die sowjetische Genetik“ Abgerufen am 16. November 2014.
  8. „Geschichte der Psychoanalyse in Russland“ Abgerufen am 16. November 2014.
  9. Aktueller Überblick aus der Zeitschrift "Pädologie & Pädiatrie" Abgerufen am 16. November 2014.
  10. „Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Der Fall Rot.“ Abgerufen am 16. November 2014.
  11. „Ethan Pollock - Stalin and the Soviet Science Wars“ Abgerufen am 16. November 2014.
  12. „Machines of Communism": The USSR, Cybernetics, (and the CIA)“ Abgerufen am 16. November 2014.
  13. „Machines of Communism": The USSR, Cybernetics, (and the CIA)“ Abgerufen am 16. November 2014.
  14. „Ethan Pollock - Stalin and the Soviet Science Wars“ Abgerufen am 16. November 2014.

Literatur Bearbeiten

  • John L. H. Keep: "A History of the Soviet Union 1945-1991: Last of the Empires"
  • Mark Walker: "Science and Ideology. A Comparative History. Series: Routledge Studies in the History of Science, Technology and Medicine. Routledge." ISBN 978-0-415-27122-6
  • Loren R. Graham: "Science and philosophy in the Soviet Union." New York, 1972
  • Loren R. Graham: "Science in Russia and the Soviet Union. A Short History. Series: Cambridge Studies in the History of Science." Cambridge University Press, 2004
  • Alexander Alexandrowitsch Sinowjew: Homo sovieticus. aus dem Russischen von G. von Halle, 1978, ISBN 3-257-21458-8.

Kategorie:Zensur Kategorie:Wissenschaft (Sowjetunion)