Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen

literarisches Werk

Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen ist ein kurzer Aufsatz von Immanuel Kant aus dem Jahr 1797, in dem er die Auffassung vertrat, dass es selbst bei Gefahr für Leib und Leben kein Recht auf eine Lüge („Notlüge“) gibt.

Inhalt Bearbeiten

Kant wandte sich mit dem Aufsatz gegen Benjamin Constant. Dieser hatte in einem Teilstück seiner Schrift Von den politischen Gegenwirkungen, das als "Sechstes Stück, Nr. I" in der Anthologie Frankreich im Jahr 1797 erschien, die Auffassung vertreten: „Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.“ ([1])[2] Constant hatte ebd. S. 124 folgendermaßen argumentiert: „Es ist eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Der Begriff von Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht ist, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspricht. Da, wo es keine Rechte gibt, gibt es keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.“

Kant hingegen, der den Artikel Constants auf sich bezog,[3] verteidigte seine These: „Die Lüge also, bloß als vorsätzlich unwahre Deklaration gegen einen andern Menschen definiert, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem anderen schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen (mendacium est falsiloquium in praeiudicium alterius.[4]) Denn sie schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“

Zunächst verwies Kant auf den Unterschied von Wahrheit als erkenntnistheoretischem Begriff und Wahrhaftigkeit (Ehrlichkeit) als moralischer Tugend: „Weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehn werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird“, kam Kant zu dem Schluss: „Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.“

Grundlage für diese Auffassung ist die in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelte Pflichtethik Kants, die ihn zum Kategorischen Imperativ führt. Eine Lüge beeinträchtigt immer den Wert der Wahrhaftigkeit. Kant wandte sich damit gegen ethische Auffassungen, die die Zweckrationalität eines am Nutzen orientierten Utilitarismus als vorrangiges Prinzip verfolgen (Konsequentialismus). Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit ist hingegen eine unbedingte Pflicht, weil das Vertrauen auf Versprechen einer der Grundsätze ist, die die menschliche Gesellschaft zusammenhalten.

Im rechtlichen Bereich ist eine Lüge nur strafbar, wenn die Falschrede in betrügerischer Absicht (falsiloquium dolosum) erfolgt. In anderer Hinsicht ist die Lüge ein Verstoß gegen eine Tugendpflicht. Tugendpflichten sind zunächst nur subjektiv. Kant klammert die Frage der persönlichen Haltung zur Lüge und damit die Frage der Güterabwägung aus und behandelt die Frage als Rechtsproblem, so der Hinweis in der Fußnote. Für ihn kann es kein Recht auf Lüge geben.[5] Das Verbot der Lüge, die Pflicht zur Wahrhaftigkeit, gilt dennoch allgemein, weil sonst die Grundlage jeder Gemeinschaft und damit auch die Möglichkeit des Kategorischen Imperativs formal aufgehoben ist. Wann gelogen werden darf, würde dann nach subjektiven Maßstäben bestimmt werden. Wer diesem Prinzip folgt, schließt sich a priori von der Gemeinschaft aus. Deshalb kann auch kein Gesetz den Menschen zum Lügen zwingen.[6]

Rezeption Bearbeiten

Für den Aufsatz gilt alle Kritik, die sich gegen Kants Moralphilosophie überhaupt richtet, wie die These einer Leerformel von Hegel.[7] Ähnlich die Feststellung von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung: „Die reine Vernunft wurde zur Unvernunft, zur fehler- und inhaltslosen Verfahrensweise.“[8]

Aber auch gegen das absolute Lügenverbot findet sich eine breite Front der Kritik. Schon früh kritisierte Schopenhauer: „Die, auf Kants Veranlassung, in manchen Kompendien gegebenen Ableitungen der Unrechtmäßigkeit der Lüge aus dem Sprachvermögen des Menschen sind so platt, kindisch und abgeschmackt, dass man, nur um ihnen Hohn zu sprechen, versucht werden könnte, sich dem Teufel in die Arme zu werfen und mit Talleyrand zu sagen: ‚Der Mensch hat die Sprache erhalten, um seine Gedanken verbergen zu können‘.“[9] Allgemein wird Kant Rigorismus vorgeworfen, weil er zugunsten des Prinzips des Kategorischen Imperativs die Möglichkeit der Lösung eines Interessenkonflikts hintanstellte.[10] Eine bekannte Kritik ist die von Ernst Tugendhat, der vorschlägt, einen Wertekonflikt, der auf der Entgegensetzung zweier unterschiedlicher Maximen beruht, zu lösen, indem man in einem Zwischenschritt eine neue Maxime entwickelt, die beiden Werten (dem Schutz des Lebens ebenso wie dem Gebot der Wahrhaftigkeit) Rechnung trägt. Genau diesen Weg ist Kant aber nicht gegangen. Tugendhat stellt fest: „Kant selbst hat das genannte Beispiel freilich gerade umgekehrt entschieden, mit einer sehr merkwürdigen Argumentation. Der prinzipielle Grund, warum für Kant Pflichtenkollisionen kaum eine Rolle spielten, war die Annahme, dass negative Pflichten [etwas nicht zu tun] immer vor positiven Pflichten [etwas zu tun] einen Vorrang haben. Auf diese Weise kann, außer innerhalb konfligierender positiver Pflichten, keine Kollision entstehen, da die negative Pflicht immer auch schon erfüllt ist, wenn die Person nichts tut. Zwischen negativen Pflichten können daher keine Kollisionen auftreten, und jede Kollision zwischen einer negativen und einer positiven Pflicht ist für Kant schon zugunsten der negativen entschieden.“[11]

Gerhard Schönrich verweist zugunsten Kants darauf, dass dieser in seinem Aufsatz durchaus nicht einer reinen Gesinnungsethik folgt, sondern ebenso die Frage der Folgen der Handlung diskutiert. Kritiker, die das übergehen, werden Kant nicht gerecht. Ein wichtiges Argument Kants ist, dass die tatsächlichen Folgen einer Handlung nicht mit Sicherheit abzusehen sind. Fraglich ist insbesondere, wer bestimmt, wann ein Rechtsbruch zu rechtfertigen ist. Im Interesse einer funktionierenden Gesellschaft, die auf die Einhaltung moralischer Regeln angewiesen ist, kann dies keiner Willkür unterliegen.[12] Dies wird zum Beispiel bedeutsam bei der Frage eines Widerstandsrechts (siehe auch Radbruchsche Formel). So hat auch die Rechtsprechung im Daschner-Prozess bei der Entführung von Jakob von Metzler selbst die Androhung von Folter (als bewusst vorgebrachte Lüge des Polizisten zum Zweck, ein Geständnis zu erzwingen) bei aller Sympathie für das Entführungsopfer als nicht legitim beurteilt.

Literatur Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Benjamin Constant: Von den politischen Gegenwirkungen (Fortsetzung). In: Karl Friedrich Cramer (Hrsg.): Frankreich im Jahr 1797. Aus den Briefen Deutscher Männer in Paris. mit Belegen. 1. Auflage. 2, sechstes Stück. Altona 1797, S. 123.
  2. Constant bezog sich auf Johann David Michaelis: Moral, hrsg. von Carl Friedrich Stäudlin, Göttingen 1792.
  3. so auch die Fußnoten im Text
  4. Übersetzung: Eine Lüge ist eine Falschaussage, zum Schaden [Vorurteil/Irrtum] eines Anderen.
  5. Otfried Höffe: Kant. Beck, München 7. Aufl. 2007, 199f
  6. Hariolf Oberer: Kant. Analysen, Probleme, Kritik. Band 3, Königshausen & Neumann, 1997, 69
  7. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Theorie-Werkausgabe. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 20. Suhrkamp, Frankfurt 1971, 367–369
  8. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer, Frankfurt 1969, Nachdruck als Taschenbuch 1988, 82
  9. Arthur Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik. Über die Grundlage der Moral, § 17, Zürich 1977, 265
  10. Michael Hauskeller: Ich denke, aber bin ich? Beck, München 2003, 123–125; siehe auch: Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung, Suhrkamp, Frankfurt 1988, 328ff; Jürgen Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik, Suhrkamp, Frankfurt 1991, 23; Albrecht Wellmer: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Suhrkamp, Frankfurt 1986, 26
  11. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp, Frankfurt 3. Aufl. 1995, 148f
  12. Gerhard Schönrich: Bei Gelegenheit Diskurs, Suhrkamp, Frankfurt 1994, 9-16