Ein stochastisches Exponential ist ein stochastischer Prozess, der im mathematischen Teilgebiet der stochastischen Analysis ein Analogon zur Exponentialfunktion der gewöhnlichen Analysis darstellt. Nach der französischen Mathematikerin Catherine Doléans-Dade wird es auch als Doléans-Dade-Exponential oder kurz als Doléans-Exponential bezeichnet.

Drei Realisierungen eines Standard-Wiener-Prozesses (oben) und dessen stochastischen Exponentials (unten)

Die Exponentialfunktion lässt sich dadurch charakterisieren, dass sie mit ihrer Ableitung übereinstimmt. Will man ein analoges Verhalten für die Exponentialfunktion eines stochastischen Prozesses erreichen, so muss wegen der Itō-Formel dessen quadratische Variation mitberücksichtigt werden, wenn diese wie beispielsweise beim Wiener-Prozess nicht verschwindet.

Stochastische Exponentiale spielen unter anderem eine wichtige Rolle bei der expliziten Lösung von stochastischen Differentialgleichungen und treten beim Satz von Girsanow auf, der das Verhalten stochastischer Prozesse bei einem Wechsel des Maßes beschreibt. Eine wichtige Fragestellung ist in diesem Zusammenhang, unter welchen Bedingungen ein stochastisches Exponential ein Martingal ist. Viele Modelle der Finanzmathematik beinhalten Prozesse, die stochastische Exponentiale sind, so zum Beispiel die geometrische brownsche Bewegung beim Black-Scholes-Modell.

Einführung Bearbeiten

Die Exponentialfunktion   ist eindeutig bestimmt durch die beiden Bedingungen   und  . Etwas allgemeiner folgt mit der Kettenregel, dass   die eindeutig bestimmte Lösung der linearen gewöhnlichen Differentialgleichung   mit der Anfangsbedingung   ist.

Diese Zusammenhänge gelten bei stochastischen Differentialgleichungen in dieser einfachen Form nicht mehr, da hierbei die Kettenregel durch die Itō-Formel ersetzt werden muss, das die quadratische Variation der Prozesse mit berücksichtigt. Ist beispielsweise   ein Standard-Wiener-Prozess, so ergibt sich für das Differential des Prozesses   wegen   mit der Itō-Formel

 .

Der zusätzliche Term in dieser stochastischen Differentialgleichung lässt sich vermeiden, wenn anstelle der Exponentialfunktion der „korrigierte“ Ansatz   verwendet wird: Dann ergibt sich  , analog zum Fall gewöhnlicher Differentialgleichungen. Zudem ist nun der Prozess   wie der Wiener-Prozess ein Martingal.

Definition Bearbeiten

Es sei   ein Semimartingal. Dann heißt das (eindeutig bestimmte) Semimartingal  , das Lösung der stochastischen Differentialgleichung

 

mit Anfangsbedingung   ist, das stochastische Exponential von   und wird mit   bezeichnet, d. h.  .

Mit   wird dabei der linksseitige Grenzwert des Prozesses   an der Stelle   bezeichnet. Falls   stetig ist, so ist auch   stetig; es gilt dann  .

Dass der Prozess   Lösung des genannten Anfangswertproblems ist, bedeutet explizit, dass er die Itō-Integralgleichung

 

erfüllt.

Explizite Darstellung und Rechenregeln Bearbeiten

Ist   ein stetiges Semimartigal, so hat das stochastische Exponential die explizite Darstellung

 ,

wobei   die quadratische Variation von   bezeichnet.

Im allgemeinen Fall müssen zusätzlich die Sprungstellen von   berücksichtigt werden. Hier ergibt sich

 

mit dem Sprungprozess  .

Anstelle der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion gilt für das stochastische Exponential von Semimartingalen   und   die Rechenregel

 .[1]

Ist   stetig mit  , so gilt

 .

Martingaleigenschaften Bearbeiten

Im Folgenden sei   ein stetiges Semimartingal und ohne Einschränkung gelte  , also  . Gemäß Definition ist das stochastische Exponential stets ein Semimartingal. Ist   ein lokales Martingal, so zeigt die Darstellung als Itō-Integral, dass   ebenfalls ein lokales Martingal ist. Allerdings muss, selbst wenn   ein Martingal ist, das stochastische Exponential kein echtes Martingal sein; als nichtnegatives lokales Martingal ist es dann jedoch ein Supermartingal. Ist   als Lévy-Prozess ein Martingal, ist auch   ein Martingal.[2]

Für viele Anwendungen ist es wichtig, einfach nachzuprüfende Kriterien zu haben, die garantieren, dass das stochastische Exponential eines lokalen Martingals ein (echtes) Martingal ist. Die bekannteste hinreichende Bedingung ist die Novikov-Bedingung (nach dem russischen Mathematiker Alexander Novikov): Sei   ein stetiges lokales Martingal mit  . Gilt   für alle  , dann ist   ein Martingal auf  .

Eine stärkere Aussage liefert die Kazamaki-Bedingung: Sei   ein stetiges lokales Martingal. Wenn das Supremum über die beschränkten Stoppzeiten   von   nach oben beschränkt ist, d. h. wenn  , dann ist   ein gleichgradig integrierbares Martingal.[3]

Anwendungen Bearbeiten

Lineare stochastische Differentialgleichungen Bearbeiten

Mit Hilfe des stochastischen Exponentials lassen sich die Lösungen linearer stochastischer Differentialgleichungen explizit angeben. Eine lineare stochastische Differentialgleichung hat die Gestalt

 

mit stetigen Funktionen oder stetigen adaptierten stochastischen Prozessen  . Die zugehörige homogene Gleichung

 

besitzt die Lösung   mit   und ohne Einschränkung  . Die allgemeine Lösung lautet somit explizit

 

mit

 

und

 .

Eine partikuläre Lösung der inhomogenen Gleichung lässt sich hieraus durch Variation der Konstanten finden, also durch den Ansatz  .

Satz von Girsanow Bearbeiten

Es seien   ein Wiener-Prozess auf dem Intervall   bezüglich des Wahrscheinlichkeitsmaßes   und   ein Prozess mit  . Falls das stochastische Exponential   ein Martingal ist, dann gilt   und   kann als Radon-Nikodým-Dichte eines Wahrscheinlichkeitsmaßes   bezüglich   aufgefasst werden:

 .

Bezüglich des so definierten Maßes   ist der Drift-Prozess

 

ein Standard-Wiener-Prozess.

Literatur Bearbeiten

  • Nicholas H. Bingham, Rüdiger Kiesel: Risk-Neutral Valuation: Pricing and Hedging of Financial Derivatives. 2. Auflage, Springer, London/Berlin/Heidelberg 2004, ISBN 1-85233-458-4, S. 197, 215–217.
  • Fima C. Klebaner: Introduction to Stochastic Calculus with Applications. 3. Auflage, Imperial College Press, London 2012, ISBN 978-1-84816-831-2.
  • Philip E. Protter: Stochastic Integrals and Differential Equations. 2. Auflage, Version 2.1, Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-00313-4.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Auch Yor's Formula genannt, nach dem französischen Mathematiker Marc Yor.
  2. Christoph Kühn: Vorlesungsskript "Stochastische Analysis mit Finanzmathematik". S. 52, abgerufen am 6. Februar 2024 (Bemerkung 3.72).
  3. Philip E. Protter: Stochastic Integration and Differential Equations. 2. Auflage. Springer, Berlin / Heidelberg / New York 2005, ISBN 3-540-00313-4, S. 139.