Das Gauge-Integral (auch: Eichintegral, Henstock-Integral, Henstock-Kurzweil-Integral, Denjoy-Perron-Integral) ist ein Integraltyp deskriptiver Natur, dessen heutige Formulierung erst Mitte des 20. Jahrhunderts von dem Mathematiker Jaroslav Kurzweil (1926–2022)[1] entdeckt wurde. Ralph Henstock widmete sich der Entwicklung der Theorie dieses Integraltyps. Eine zentrale Abschätzung, das sog. Henstock-Lemma, ist nach ihm benannt. Vorläufer ist das (äquivalente) Denjoy-Perron-Integral, das allerdings auf einer sehr technischen und unanschaulichen Definition beruht.

Die Besonderheit des Gauge-Integrals besteht darin, dass jede Ableitungsfunktion automatisch (das heißt ohne Zusatzvoraussetzungen) integrabel ist mit . Daneben treten in der Theorie des Gauge-Integrals bedingt integrable Funktionen auf. Darunter versteht man Funktionen, die zwar integrabel sind, nicht aber deren Betrag. Sowohl bei der Riemann- als auch bei der Lebesgue-Definition folgt aus der Integrierbarkeit einer Funktion stets die Integrierbarkeit ihres Betrags.

Das Gauge-Integral enthält sowohl das Riemann- als auch das Lebesgue-Integral als Spezialfälle, d. h., jede Riemann- bzw. Lebesgue-integrable Funktion ist Gauge-integrabel; da es jedoch Funktionen gibt, die weder Riemann- noch Lebesgue-integrabel, aber dennoch Gauge-integrabel sind, stellt das Gauge-Integral eine echte Erweiterung des Lebesgue-Integrals dar.

Den Namen „Eichintegral“ („gauge“ ist der englische Ausdruck für Eichung) verdankt das Integral seiner Definition: Ähnlich wie das Riemann-Integral kommen auch beim Eichintegral Zerlegungen und Riemann-Summen zum Einsatz, die Feinheit einer Zerlegung wird allerdings mit einer speziellen intervallwertigen Funktion, genannt Eichfunktion, beurteilt.

Einleitung Bearbeiten

Der Hauptsatz Bearbeiten

Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung (in der gängigen Zählung sein 1. Teil) ist ein zentraler Satz in der Theorie des Riemann- und des Lebesgue-Integrals. Er lautet:

  • Satz: Ist eine Ableitungsfunktion   von   über dem Intervall   Riemann- (bzw. Lebesgue-) -integrierbar, so gilt:  .

Der Hauptsatz liefert in der Praxis eine der wichtigsten Methoden, den Wert eines Integrals konkret und exakt zu bestimmen. Möchte man etwa die Funktion   mit   über   integrieren, so fasst man f als Ableitungsfunktion einer Funktion  , genannt Stammfunktion, auf. Offenbar ist durch   eine Stammfunktion von   gegeben, sodass folgt:

 

Sowohl beim Riemann- als auch beim Lebesgue-Integral muss allerdings die Integrierbarkeit von   als Voraussetzung angeführt werden – nicht jede Ableitungsfunktion ist unbedingt auch integrabel. Vielmehr zeigt sich, dass es Ableitungsfunktionen gibt, die weder Riemann- noch Lebesgue-integrabel sind. Ein Beispiel ist die Funktion   mit

 
Abbildung 1: Darstellung der Funktion g und ihrer Ableitung (die Funktion g wurde mit dem Faktor 150 skaliert)
 

(vgl. Abb. 1). Ihre Ableitung ist durch

 

gegeben. Da   nicht beschränkt ist, ist   auch nicht Riemann-integrabel. Man kann zeigen, dass   auch nicht Lebesgue-integrierbar ist.

Eine (anschauliche) Analyse der Gründe, aus denen   nicht Riemann-integrabel ist, führt zu einer entscheidenden Verbesserung der Riemann-Definition. Dazu überlegt man sich zunächst, woher die Formel   überhaupt kommt.

Das Straddle-Lemma und die Probleme des Riemann-Integrals Bearbeiten

Nach dem Mittelwertsatz der Differenzialrechnung gibt es zu einer differenzierbaren Funktion   auf einem Intervall   ein   mit

 

Wählt man zu einer Zerlegung   Zwischenstellen   nach dem Mittelwertsatz, so erhält man als Ergebnis für Riemannsummen  :

 
 
Abbildung 2: Die Tangente im Punkt an der Stelle   und die Sekante über dem Intervall  , in dem   liegt, sind nahezu parallel, die Sekantensteigung (mittlere Steigung über  ) also eine gute Näherung der Tangentensteigung (punktuelle Steigung).

Die letzte Summe stellte dabei eine Teleskopsumme dar. Für andere Zwischenstellen gilt in der obigen Rechnung i. A. keine Gleichheit, doch für den Nachweis von   ist es auch nicht erforderlich, dass alle Riemannsummen exakt gleich   sind. Es genügt, dass sich die Riemannsummen der Zahl   für irgendwelche Zwischenstellen beliebig nähern, sofern man die betrachteten Zerlegungen nur hinreichend fein wählt. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn eine Funktion   auf jedem Intervall   für alle   die Näherung

 

erfüllt, wobei der durch die Näherung entstehende Fehler beliebig klein wird, sofern das Intervall   nur hinreichend klein ist (Abb. 2).

Nun gibt es aber Funktionen, die genau dieses Verhalten nicht zeigen. Eine solche Funktion ist die Funktion   aus dem vorherigen Abschnitt. Man betrachte etwa das Intervall   für irgendein (auch beliebig kleines)  :   oszilliert nahe 0 „wild hin und her“, daher lässt sich auf jedem Intervall dieser Form (egal, wie klein es auch sei) eine Stelle   finden, sodass   eine beliebig große positive oder negative Zahl ist. Die durchschnittliche Steigung über dem Intervall hingegen strebt gegen 0, wenn   gegen 0 tendiert. Schließlich ist   und die durchschnittliche Steigung von g über dem Intervall   gerade der Differenzenquotient von   an der Stelle 0:

 

  kann also beliebig stark von der durchschnittlichen Steigung auf dem Intervall   abweichen. Da jede Zerlegung Z ein Intervall dieser Form „enthält“, gibt es für jede Zerlegung ein Teilintervall und bestimmte Zwischenstellen, für die die Näherung   verletzt ist. Dies kann – wie im Fall der Funktion g – dazu führen, dass   nicht Riemann-integrabel ist, denn nach der Riemannschen Definition müssen ja alle Zwischenstellen zu einer Zerlegung Z untersucht werden. Wünschenswert wäre eine Integraldefinition, bei der zu bestimmten Teilintervallen auch nur bestimmte Zwischenstellen betrachtet zu werden brauchen. Zwecks Integration der Funktion   wäre es z. B. hilfreich, für das Teilintervall   nur die Zwischenstelle 0 zuzulassen, denn nach   wäre Näherung   damit erfüllt.

Eine Integrationstheorie, die auf Riemannsummen basiert und in der jede Ableitungsfunktion integrabel ist, sollte nach den vorherigen Überlegungen nur solche Paare von Zerlegungen   und Zwischenstellen   berücksichtigen, für die

 

gilt. Der folgende Satz eröffnet eine Möglichkeit, solche Paare zu identifizieren:

  • Satz (Straddle-Lemma): Sei   differenzierbar in  . Dann gibt es zu jedem   ein   mit   für alle   mit   und  .

Wenn man die Ungleichung des Straddle-Lemmas durch   dividiert, wird seine Kernaussage offenbar: Zu jedem Punkt   gibt es ein abgeschlossenes Intervall  , für das

 

gilt. Die Zahl   gibt den Fehler dieser Näherung an. Da   beliebig, also insbesondere beliebig klein sein darf, kann sogar stets ein Intervall   gefunden werden, auf dem die obige Näherung beliebig gut ist. Voraussetzung ist lediglich, dass sich die Intervallgrenzen   und   hinreichend nahe bei   befinden, oder anders formuliert: Voraussetzung ist, dass das Intervall   in einer hinreichend kleinen Umgebung von   liegt:

 

Wählt man nun nur solche Paare aus der Zerlegung   zusammen mit Zwischenstellen   aus, für die die Bedingung

 

zutrifft (wobei   nach dem Straddle-Lemma gewählt ist), so ist die Näherung   stets erfüllt, und alle zugehörigen Riemann-Summen liegen nahe bei  , wie gewünscht.

 
Abbildung 3: Der Feinheitsbegriff Riemanns reicht nicht aus, um zu beurteilen, ob eine Zerlegung und zugehörige Zwischenstellen die Bedingung   befriedigen. Die Zerlegungen   und   sind im Sinne Riemanns gleich fein (das größte Teilintervall ist jeweils gleich lang). Für die Zwischenstelle   ist Bedingung   für die Zerlegung   zwar erfüllt, für   trotz gleicher Feinheit jedoch nicht.

Es stellt sich nun die Frage, wie man aus allen möglichen Kombinationen von Zwischenstellen und Zerlegungen solche „geeigneten“ Kombinationen auswählt. Der Riemannsche Feinheitsbegriff, d. h. die Betrachtung der größten Intervalllänge  , taugt dazu nicht. Offensichtlich gehen die gewählten Zwischenstellen und damit die Positionen der Teilintervalle   gar nicht in die Bewertung der Feinheit der Zerlegung   ein. Die maßgebliche Zahl   aus dem Straddle-Lemma wird jedoch i. A. vom Ort   abhängen! Man wird z. B. erwarten, dass   umso kleiner ist, desto stärker   in der Nähe dieses Punktes oszilliert. Deswegen kann es durchaus passieren, dass für eine Zerlegung   und Zwischenstellen   die Bedingung   erfüllt ist, für eine genauso feine Zerlegung   jedoch nicht (vgl. Abbildung 3) – sogar dann nicht, wenn die gleiche Zwischenstelle betrachtet wird. Ziel wird es also sein, einen verbesserten Feinheitsbegriff zu schaffen, der die Position der Teilintervalle   berücksichtigt.

Grundideen Bearbeiten

Zusammengefasst lauten die „Leitlinien“ für die Definition des Gauge-Integrals:

  • Im Rahmen eines neuen Integraltyps sollte jede Ableitungsfunktion   automatisch (d. h. ohne Zusatzvoraussetzungen) integrierbar sein mit  .
  • Dafür muss das Verhältnis zwischen Zwischenstellen und Zerlegungen neu geregelt werden, sodass es möglich wird, Zwischenstellen mit solchen Zerlegungen zu kombinieren, die „gut zusammenpassen“. Dazu muss ein Feinheitsbegriff geschaffen werden, der
    • die Positionen der Teilintervalle  ,  , berücksichtigt und
    • der es erlaubt, zu bestimmten Teilintervallen auch nur bestimmte Zwischenstellen zuzulassen.

Die formale Definition Bearbeiten

Vorarbeiten Bearbeiten

Da für das neue Integral nur zueinander „passende“ Zerlegungen und Zwischenstellen betrachtet werden sollen, liegt es nahe, die beiden Begriffe zunächst in einem Begriff zusammenzufügen.

  • Definition (markierte Zerlegung). Seien   eine Zerlegung eines Intervalls   und   zu Z gehörige Zwischenstellen, d. h., es gelte   für  . Die Menge   nennt man eine markierte Zerlegung (engl.: tagged partition) des Intervalls  .

Eine markierte Zerlegung enthält also geordnete Paare der Form  , wobei   ein abgeschlossenes Intervall und   eine Zahl mit   ist. Riemannsummen   bzgl. einer Funktion   und einer markierten Zerlegung   definiert man genau wie Riemannsche Zwischensummen durch:

 

Die folgende Definition legt den Grund für einen verbesserten Feinheitsbegriff:

  • Definition (Eichfunktion): Eine intervallwertige Funktion   auf dem Intervall   heißt Eichfunktion, wenn   und   ein offenes Intervall ist.
 
Abbildung 4: Oben: Eine Eichfunktion weist jedem Punkt   ein offenes Intervall   (grün) zu. Unten: Eine markierte Zerlegung   ist  -fein, wenn   für  .

Eine Eichfunktion ordnet also jedem Punkt   ein offenes Intervall   zu, das   enthält. Über den Begriff der Eichfunktion   lässt sich nun ein sehr flexibles Feinheitsmaß definieren, das nicht nur die Position der Teilintervalle   einer Zerlegung   berücksichtigt, sondern über das sich auch die Beziehung zwischen Zerlegung und Zwischenstellen regeln lässt: Eine markierte Zerlegung   soll dann  -fein heißen, wenn   eine Eichfunktion ist und jedes Teilintervall   innerhalb desjenigen offenen Intervalls liegt, das   an der zu dem Teilintervall gehörenden Zwischenstelle   liefert:

  • Definition: Sei   eine Eichfunktion auf dem Intervall [a,b] und   eine markierte Zerlegung dieses Intervalls.   heißt  -fein, wenn   für alle  .

Beispiel Bearbeiten

Durch Beschränkung auf  -feine Zerlegungen ist es – durch geschickte Wahl der Eichfunktion   – möglich, nur passende Paare von Zerlegungen und Stützstellen auszuwählen. Sei etwa   und   eine Zerlegung dieses Intervalls. Soll (wie im Beispiel der Funktion  ) die   als einzige mögliche Zwischenstelle zum Teilintervall   zugelassen werden, so definiert man   wie folgt:

 

Dabei sei   und   beliebig. Dann ist   das einzige durch   gegebene offene Intervall, das die 0 enthält. Für jede markierte Zerlegung   von   muss aber gelten:  . Wegen   kann eine markierte Zerlegung nur dann  -fein sein, wenn  . Das Teilintervall   tritt also in jeder  -feinen markierten Zerlegung ausschließlich zusammen mit der Zwischenstelle 0 auf. Weiterhin kann aufgrund der  -Abhängigkeit der Funktion   die Kleinheit eines Teilintervalls   einer markierten Zerlegung   in Abhängigkeit von der Zwischenstelle   und damit von der Position des Teilintervalls „eingestellt“ werden.

Definition des Gauge-Integrals Bearbeiten

 
Abbildung 5 Approximation der Fläche zwischen dem Graphen einer Funktion   und der  -Achse durch Riemannsche Zwischensummen (orange Rechtecke)

Das Gauge-Integral wird nun - ähnlich wie das Riemann-Integral - definiert als eine feste Zahl  , der sich Riemannsummen bzgl. markierter Zerlegungen   eines Intervalls   beliebig nähern, sofern diese Zerlegungen fein bzgl. geeigneter Eichfunktionen   gewählt werden:

  • Definition (Gauge-Integral): Eine Funktion   heißt Gauge-integrabel (eichintegrabel, Henstock- (Kurzweil-) integrabel) über  , wenn es zu einer festen Zahl   zu jedem   eine Eichfunktion   auf   gibt, sodass   für jede  -feine markierte Zerlegung   gilt.   heißt Gauge-Integral (Eichintegral, Henstock- (Kurzweil-) Integral) von   über  , in Zeichen:  .

Die Definition erinnert stark an die (ursprüngliche) Definition des Riemann-Integrals. Der wichtige Unterschied besteht darin, dass das grobe Riemannsche Feinheitsmaß (Betrachtung des längsten Teilintervalls der Zerlegung  ) durch das neue, verbesserte Maß ersetzt wurde. Henstock spricht in seinem Werk Theories of Integration daher auch von einem „Integral of Riemann-Type“.

Eigenschaften des Gauge-Integrals Bearbeiten

Wie für jeden anderen Integraltyp gilt:

  • Der Wert des Gauge-Integrals ist eindeutig bestimmt.

Weiterhin ist die Integralfunktion   linear:

  • Sind zwei Funktionen   über   Gauge-integrabel und  , dann ist auch   Gauge-integrabel über   und es gilt:  .

Das Riemann-Integral fügt sich zwanglos in den Rahmen des Gauge-Integrals:

  • Jede Riemann-integrable Funktion ist auch Gauge-integrabel und die beiden Integrale stimmen überein.

Sei dazu   das Riemann-Integral von   über   und   so gewählt, dass   für jede Zerlegung   mit   und beliebige Zwischenstellen  . Wählt man die Eichfunktion   zu

 

so gilt für jede  -feine markierte Zerlegung   per Definition:  , also  . Definiert man die Zerlegung   durch  , so ist   und somit:

 

Auch gilt die vom Riemann- und Lebesgue-Integral bekannte Intervalladditivität:

  • Seien   und   zwei nicht überlappende, abgeschlossene Intervalle (d. h., die beiden Intervalle haben höchstens einen Randpunkt gemeinsam) und   über   Gauge-integrabel. Dann ist   auch über   Gauge-integrabel und es gilt:  .

Umgekehrt findet man:

  • Sei   über den nicht-überlappenden Intervallen   Gauge-integrabel. Ist  , so ist   auch über   integrabel und es gilt:
 

Das Gauge-Integral ist monoton:

  • Ist   Gauge-integrabel über   und   (d. h.  ), dann gilt:
 
Insbesondere ist  , falls  .

Besonders interessant ist, dass jede Ableitungsfunktion Gauge-integrabel ist:

  • (Hauptsatz, Teil 1). Sei   differenzierbar. Dann ist   über   Gauge-integrabel mit  .

Das Ergebnis erhält man nach wenigen geschickten Umformungen, indem man zu   die (symmetrische) Eichfunktion   wählt, wobei   nach dem Straddle-Lemma festgesetzt wird. Dann wertet man für eine beliebige  -feine markierte Zerlegung den Ausdruck   aus. Der 2. Teil des Hauptsatzes lautet für das Gauge-Integral:

  • (Hauptsatz, Teil 2). Sei   Gauge-integrabel über  . Dann ist die Funktion   mit   fast überall in [a,b] differenzierbar mit  .

Es ist also für das indefinite Integral   einer Gauge-integrablen Funktion   die Aussage „  ist nicht differenzierbar oder es gilt  “ höchstens auf einer Lebesgue-Nullmenge richtig. Wichtig ist, dass nur die Integrierbarkeit von   vorausgesetzt werden muss. Ist   sogar stetig, so ist   überall in   differenzierbar mit  .

Für das Gauge-Integral gelten die beiden zentralen, vom Lebesgue-Integral bekannten Konvergenztheoreme. Diese beschreiben, unter welchen Umständen die Grenzfunktion   einer Funktionenfolge   Gauge-integrabler Funktionen wiederum Gauge-integrabel ist und Integration und Grenzwertbildung vertauscht werden dürfen:

 

Man erhält:

 
Abbildung 6: Darstellung der ersten 6 Glieder einer Funktionenfolge  , die monoton wachsend, nicht aber gleichmäßig gegen   konvergiert. Die Funktionenfolge   ist außerdem gleichmäßig beschränkt.
  • Satz über monotone Konvergenz: Sei   ein Intervall,   eine Folge von Funktionen  , die über   Gauge-integrabel sind und  . Konvergiert   monoton wachsend gegen  , d. h., gilt   und   für alle  , so ist   genau dann Gauge-integrabel über  , wenn  . In diesem Falle gilt:
 

Konvergiert also eine Funktionenfolge punktweise gegen eine Grenzfunktion   und ist die Folge   für jedes   monoton wachsend und jede Funktion   über   Gauge-integrabel, so ist die Grenzfunktion   dann und nur dann über   Gauge-integrabel, wenn die Folge   beschränkt ist. In diesem Fall darf die Integration und die Grenzwertbildung vertauscht, dürfen die beiden Operationen also in umgekehrter Reihenfolge ausgeführt werden.

Auch gilt der

  • Satz über majorisierte Konvergenz. Sei   ein Intervall,   eine Folge von Funktionen  , die über   Gauge-integrabel sind und  . Konvergiert   punktweise gegen   und gibt es Gauge-integrable Funktionen   mit   fast überall in   und alle  , so ist   über   Gauge-integrabel und es gilt:
 

Gibt es also eine über   Gauge-integrable Minorante   und eine über   Gauge-integrable Majorante   für  , so ist auch die Grenzfunktion   der Funktionenfolge   Gauge-integrabel über  . Auch in diesem Fall dürfen Grenzwertbildung und Integration vertauscht werden.

Erweiterungen Bearbeiten

Im Folgenden ist unter dem Begriff Messbarkeit (und entsprechend verwandten Begriffen) stets Lebesgue-Messbarkeit zu verstehen. Das betrachtete Maß ist also das Lebesgue-Maß auf  .

Erweiterungen in einer Dimension Bearbeiten

Das Gauge-Integral lässt sich auf unendliche Intervalle ausdehnen. Dies scheint zunächst verwunderlich. Betrachtet man das Intervall   als Beispiel, so steht man zunächst vor dem Problem, dass das Intervall nicht abgeschlossen ist. Dieses Problem lässt sich einfach beheben, indem man nicht  , sondern die erweiterten reellen Zahlen   zugrunde legt. Entsprechend geht man bei der Integration über jedes offene Intervall   vor: Man betrachtet dann stets den Abschluss des Intervalls in  , also das abgeschlossene Intervall  , wobei auch   und/oder   zugelassen sind. Damit sind aber die Probleme noch lange nicht behoben: Da das Gauge-Integral mit endlichen Zerlegungen arbeitet, ist im Falle eines unendlichen Integrationsbereiches   mindestens ein Teilintervall jeder markierten Zerlegung von   unendlich lang (entweder   oder   oder beide) und somit die Summe

 

bestenfalls unendlich, schlimmstenfalls noch nicht einmal definiert, sofern zwei unendlich lange Intervalle auftreten und f an den jeweiligen Zwischenstellen Werte mit unterschiedlichem Vorzeichen annimmt (dann tritt der undefinierte Ausdruck   auf). Man könnte nun ähnlich wie beim Riemann-Integral uneigentliche Integrale definieren, doch es zeigt sich, dass dies durch die Verwendung eines Tricks nicht nötig ist: Dazu untersucht man im Falle eines unendlichen Definitionsintervalls   nicht das Integral über  , sondern über  , gegeben durch:

 
 
Abbildung 7: Oben: Darstellung einer auf   erweiterten Funktion  .
Unten: Die Flächenstücke zwischen   und der  -Achse über den beiden unendlich langen Intervallen (rot hinterlegt) entfallen, sofern für diese   bzw.   als Zwischenstellen gewählt werden.

Insbesondere gilt  . Innerhalb der Riemannsumme   soll dann die Konvention   gelten. Demnach ist jede Riemannsumme   auch dann definiert, wenn   unendlich lange Intervalle enthält, insofern diese nur mit den Zwischenstellen   zusammen auftreten. Dies lässt sich aber durch die folgende Definition erzwingen:

  • Definition: Das Intervall   mit   heißt offenes Intervall, das   enthält. Analog heißt   mit   offenes Intervall, das   enthält.

Damit ist es nun möglich, Eichfunktionen   so zu definieren, dass unendlich lange Teilintervalle ausschließlich zusammen mit   als Zwischenstellen auftreten, z. B. für das Intervall  :

 

Dabei können   beliebige reelle Zahlen und   beliebige positive reelle Funktionen sein. Da   und   die einzigen Intervalle aus dem Wertebereich von   sind, die unendlich lang sind, kann das Teilintervall   aus einer  -feinen markierten Zerlegung   aufgrund der Bedingung   nur mit der Zwischenstelle   zusammen auftreten. Entsprechendes gilt für das Teilintervall  , das nur zusammen mit der Zwischenstelle   auftreten kann. Am Beispiel der Zerlegung

 

und einer Funktion   wird klar, warum dadurch das Problem der unendlichen/undefinierten Riemannsummen gelöst ist:

 

Die beiden potentiell unendlichen Summanden entfallen und die Riemannsumme ist endlich. Mit diesen neuen Definitionen kann das Gauge-Integral problemlos auf unendliche und/oder offene Teilintervalle ausgedehnt werden:

  • Definition: Sei   irgendein Intervall und   sein Abschluss in   (d. h., es sind auch   und   zugelassen).   heißt Gauge-integrabel (Henstock- (Kurzweil-) -integrabel, eichintergrabel) über  , wenn es zu einer festen Zahl   zu jedem   eine Eichfunktion   auf   gibt, sodass   für jede  -feine markierte Zerlegung Zerlegung   von  . Man nennt   das Gauge-Integral von   über  , in Zeichen:  .

Ist   irgendeine messbare Teilmenge eines Intervalls  , so nennt man   Gauge-integrabel über  , falls die Funktion   über   Gauge-Integrabel ist. Man definiert dann das Gauge-Integral von  f über   durch:

 

Ist   eine messbare Menge und   eine messbare Funktion, so heißt   Gauge-integrabel über  , wenn die Erweiterung von   auf  , also die Funktion   mit

 

über   Gauge-integrabel ist und man setzt

 

Es zeigt sich:

  • Definiert man uneigentliche Gauge-Integrale ähnlich wie die uneigentlichen Integrale in der Riemann-Theorie, so ist   genau dann uneigentlich Gauge-integrierbar über ein unendlich langes Definitionsintervall, wenn es im obigen Sinne eigentlich Gauge-integrabel ist, außerdem stimmen die Werte der Integrale überein.
  • Alle im vorherigen Abschnitt genannten Eigenschaften übertragen sich sinngemäß auf das auf unendliche Definitionsintervalle erweiterte Gauge-Integral. Der 1. Teil des Hauptsatzes gilt dann auf jedem endlichen Teilintervall eines unendlich langen Integrationsbereiches  , im 2. Teil ist ein beliebiger fester Punkt   zu wählen. Der Inhalt des Satzes gilt dann für die Funktion  , wobei   möglich ist.

Aufgrund der Intervalladditivität fallen alle erweiterten Definitionen mit der ursprünglichen Definition des Gauge-Integrals über Intervalle zusammen, falls   ein Intervall ist (jedes Intervall ist messbar). Mit diesen Definitionen gelingt der Anschluss an das Lebesgue-Integral. Es zeigt sich:

  • Sei   eine messbare Menge. Ist   Lebesgue-integrabel über  , so ist   auch Gauge-integrabel über   und die beiden Integrale stimmen überein. Insbesondere gilt:   ist genau dann Lebesgue-integrabel über  , wenn   absolut Gauge-integrabel über   ist, d. h. sowohl die Funktion   als auch ihr Betrag   über   Gauge-integrabel sind.

Damit ist das auch Lebesgue-Integral als Spezialfall im Gauge-Integral enthalten.

Das mehrdimensionale Gauge-Integral Bearbeiten

Sinngemäß wird das Gauge-Integral auf beliebige Dimensionen fortgesetzt. Wie in einer Dimension definiert man dazu das Integral zunächst über Intervallen. Die Erweiterung auf unendlich große Intervalle soll darin bereits enthalten sein.

  • Definition (n-dimensionales Intervall): Eine Menge   heißt (n-dimensionales) Intervall, wenn es Intervalle   gibt mit  .

Ein Intervall in n Dimensionen ist somit als das kartesische Produkt n eindimensionaler Intervalle definiert und besitzt folglich die Gestalt eines n-dimensionalen Quaders. Dabei gilt:

  • Definition (offen, abgeschlossen): Ein Intervall   heißt offen [abgeschlossen] in  , wenn alle   offen [abgeschlossen] in   sind.

Man beachte, dass auch ein Intervall der Form   mit   oder   als abgeschlossen in   bezeichnet wird.

 
Abbildung 8: Eine markierte Zerlegung   eines abgeschlossenen 2-dimensionalen Intervalls. Eine solche Zerlegung heißt  -fein, wenn  .

Entsprechend erweitert man die Begriffe der markierten Zerlegung und der Eichfunktion auf   Dimensionen:

  • Definition (markierte Zerlegung): Sei   ein abgeschlossenes Intervall. Eine Menge   heißt markierte Zerlegung von  , wenn alle   Intervalle sind mit   und  .

Eine markierte Zerlegung eines abgeschlossenen Intervalls ist also eine Menge aus geordneten Paaren  , deren erster Eintrag ein Punkt aus  , deren zweiter Eintrag dagegen ein Intervall ist. Der zu dem Intervall   gehörige Punkt   muss dabei in   liegen, die Vereinigung aller   wiederum das zu zerlegende Intervall   ergeben (vgl. Abb. 8).

  • Definition (Eichfunktion): Sei   ein Intervall. Eine intervallwertige Funktion   heißt Eichfunktion auf  , wenn   ein offenes Intervall und   für alle  .

Wie im Eindimensionalen soll ein Intervall   auch als offen gelten, wenn ein   die Gestalt   oder   mit einer beliebigen reellen Zahl   besitzt. Genau wie in einer Dimension definiert man nun mit Hilfe dieser Begriffe die Feinheit einer markierten Zerlegung:

  • Definition: Sei   eine Eichfunktion auf dem abgeschlossenen Intervall  . Eine markierte Zerlegung   heißt  -fein, wenn   für  .

Das Volumen eines Intervalls   sei gegeben durch

 

wobei   die Länge des (eindimensionalen) Intervalls   darstellt. Auch hier soll die Konvention   gelten, d. h., besitzt eines der   die Länge  , so ist  , auch wenn ein oder mehrere unendlich lange Intervalle unter den   sind.

Jede Funktion   wird auf   fortgesetzt:

 

Insbesondere verschwindet   in jedem Punkt  , der mindestens eine unendliche Komponente aufweist. So ist etwa  . Riemannsche Zwischensummen   bzgl. einer Funktion   und einer markierten Zerlegung   werden definiert durch:

 

Auch hier sei die Konvention   gültig. Das Gauge-Integral in   Dimensionen kann dann wie folgt festgesetzt werden:

  • Definition (n-dimensionales Gauge-Integral): Sei   ein Intervall des  ,   dessen Abschluss in  .   heißt Gauge-integrabel (Henstock- (Kurzweil-) -intergrabel, eichintegrabel) über  , wenn es zu einer festen Zahl   und zu jedem   eine Eichfunktion   auf   gibt, sodass für jede  -feine markierte Zerlegung   gilt:  . Man schreibt:  .

Alle Erweiterungen auf beliebige messbare Teilmengen des   geschehen genauso wie beim eindimensionalen Gauge-Integral. Die o. g. Eigenschaften des eindimensionalen Gauge-Integrals übertragen sich sinngemäß auf das mehrdimensionale Gauge-Integral. Weiterhin lassen sich Versionen der Sätze von Fubini und Tonelli für das n-dimensionale Gauge-Integral aufstellen.

Charakterisierung Bearbeiten

Das Eichintegral ist deskriptiver Natur, d. h., es beruht auf der Beobachtung, dass Differentiation und Integration üblicherweise vertauschbar sind. Diese Beobachtung in den Vordergrund stellend garantiert das Eichintegral die Vertauschbarkeit im Allgemeinen. Es ergeben sich daher unmittelbar (ohne pathologische Beispiele heranziehen zu müssen) Funktionen, die zwar nicht Riemann-, aber Gauge-integrabel sind, wie z. B. das Reziproke der Wurzelfunktion oder das obige Leitbeispiel.

Literatur und Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Zemřel vědec Jaroslav Kurzweil, významná osobnost české matematiky, tn.nova.cz, 18. März 2022