Benutzer:WolfgangRieger/Erotische Literatur des Mittelalters

Im Fall der antiken Literatur kann man von einer erotischen Literatur im engeren Sinn noch nicht sprechen. Es gibt mehr oder minder stark ausgeprägte erotische Aspekte in einzelnen Werken, zum Beispiel bei Ovid und den römischen Satirikern, gehäuft in manchen Gattungen, zum Beispiel der griechischen Komödie. Demgegenüber tauchen im Mittelalter in den entstehenden europäischen Nationalliteraturen mehrere Gattungen auf, bei denen Erotik und Sexualität eine zentrale Rolle spielen. Es ist die zuerst und vor allem die Dichtung der höfischen Liebe bei den Trobadors in Südfrankreich, den Trouvères in Nordfrankreich und im normannischen England und in der mittelhochdeutschen Minnedichtung. Als weitere Form kann man die Epik des Rittertums betrachten, den höfischen Roman, zuerst in Nordfrankreich und England, wo Stoffe aus der keltischen Dichtung und Mythologie aufgenommen und zum Kreis der Artusdichtungen umgeformt wurden, dann übernommen von den mittelhochdeutschen Dichtern. Schließlich gibt es noch die derb-komische Erzählung in verschiedenen Ausprägungen in den Schriften der Humanisten, in der Novellistik der Renaissance in Italien und England und in der Schwankdichtung bis in die frühe Neuzeit.

Ob es sich bei den genannten Gattungen und Formen schon um Genres in modernen Sinn der Verbindung von Leser- bzw. Hörererwartung und Konvention handelt, kann im Fall der Dichtung der höfischen Liebe wohl bedingt bejaht werden. Man hat zum Beispiel bei der Trobadordichtung vermerkt, dass gegenüber einer großen Vielfalt und Originalität im Formalen im Inhaltlichen oft die Konvention herrscht.[1] In der Epik des Rittertums ist wie in der Trobadordichtung das zentrale Thema die höfische Liebe, also die meist als hoffnungslos dargestellte Liebe des Ritters zur verheirateten, hochstehenden Dame. Die sich daraus ergebenden tragischen Schicksalsverflechtungen haben oft ein starkes erotisches Moment, siehe Tristan und Isolde oder Lancelot und Guinevere). Bei den verschiedenen Formen der derb-komischen Erzählung schließlich herrscht in vieler Hinsicht Unklarheit betreffend der Rolle, die Sexualität und Erotik dort spielt.

Was für Altertum und Antike gilt, nämlich, dass jede Einordnung von Themen und Werken der Literatur als „erotisch“ nur retrospektiv sein kann, gilt ebenso auch für das Mittelalter. So wie wir nicht wissen, was man sich dachte und wollte, als man auf uns als obszön wirkende Skulpturen wie die Sheela-na-Gig an den Fassaden der Kirchen anbrachte oder zu Tausenden gleicherweise obszöne Pilgerabzeichen aus Zinnblech anfertigte, so wissen wir nicht, wie damals die Texte rezipiert wurden, die wir heute als „erotisch“ oder „obzön“ oder beides einstufen.[2]


Sehr bedeutend als theoretisch-praktisches Grundwerk der höfischen Liebe ist De amore von Andreas Capellanus, ein Liebesratgeber in der Tradition des Ovid, jedenfalls was die beiden ersten der drei Bücher des Werkes betrifft, welche den Erwerb und die Erhaltung der Liebe behandeln. Das dritte ist eine Frauenschmähung, ein misogynes Pamphlet, das mit den ersten beiden Büchern gar nicht zusammen passen will. Man hat darüber gerätselt, ebenso wie über die Person des Autors, der sich als Angehöriger des Hofes der Marie de Champagne, der Tochter der Eleonore von Aquitanien, auszugeben scheint, tatsächlich aber wohl Prinzenerzieher am Hof des französischen Königs Philipp II.. Nun war der Hof der Marie de Champagne die Hochburg der höfischen Liebe und der Trobadordichtung, Philipp war aber ihr politischer Kontrahent, weshalb man eine literarische False-Flag-Operation vermutet hat. Wie auch immer dem sei, kann man den krassen Gegensatz zwischen den ersten beiden und dem letzten Buch von De amore als sinnbildhaft sehen für Gegensätze und Unklarheiten im Verständnis der Dichtungen der Trobadors und der Minnesänger. Der dritte Teil von De amore steht für sich genommen in der mittelalterlichen Literatur ja keineswegs isoliert da. Die Herabsetzung der Frau war im moralisierenden Schrifttum eine etablierte Gattung. Was also entspricht der mittelalterlichen Realität, die ersten beiden Bücher von De amore oder das letzte?


Man hat in diesen Dichtungen mit ihrer Auffassung von fin’amors bzw. Minne auf dem Höhepunkt des christlichen Jahrtausends eine Idealisierung und Ideologisierung des Ehebruchs. Es wurde daher immer wieder in die eine oder andere Richtung spekuliert, theoretisiert und gefragt, inwiefern und inwieweit zum Beispiel der beschriebenen Form von Minne eine gesellschaftliche Realität entsprach. Die Auffassungen reichen von einem Verständnis dieser Dichtungen als rein literarisch bis zu der Annahme, dass sie verfeinert und kultiviert eine durchaus existierende, wesentlich derbere und brutalere Realität abbilden.

Gattungen Bearbeiten

Werke Bearbeiten

Latein

Fritz Peter Knapp, De amore (Nachwort):

  • Concilium in Monte Romarici (Liebeskonzil von Remiremont, ca. 1150)
  • Boncompagno da Signa: Rota Veneris (Rad der Liebe, ca. 1200)
  • De nuntio sagaci (Vom klugen Boten) / Ovidius puellarum (Ovid der Mädchen) (11. Jh.?)
  • Pamphilus de amore (12. Jh.)
  • Carmina Burana: Altercatio Phyllidis et Florae (Carmen Buranum 92)
  • Andreas Capellanus: De amore (ab 1174; Parodie auf oder Beschreibung der amor courteois)
Französisch + Okzitanisch

Jürgen Grimm, Susanne Hartwig: Französische Literaturgeschichte. Metzler, 2014, ISBN 978-3-476-02420-6.

Deutsch
Englisch
  • Exeter Book (Sammlung teilweise obszöner altenglischer Rätsel, 10. Jahrhundert, s. Brulotte)
  • Geoffrey Chaucer: Canterbury Tales (mittelenglisch, ca. 1387, s. Brulotte)
Spanisch
  • Juan Ruiz: Libro de buen amor (1330–1343)

Beispiele Bearbeiten

Wilhelm IX. von Aquitanien (1071–1127) Einhundertundachtzigmal[3]

Hörts: Denen verpasste ich meinen Pfahl
einhundertundachtzigmal.
Den Riemen rubbelte ich mir kahl
und mein rüstiges Ding.
Schweig ich lieber von der Qual,
die ich mir dabei fing.

Literatur Bearbeiten

* Carolin Fischer: ''Gärten der Lust. Eine Geschichte erregender Lektüren.'' Metzler, Stuttgart/Weimar 1997, ISBN 3-476-01563-7, S. 
* [[Werner Fuld]]: ''Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens.'' Galiani, 2014, ISBN 978-3-86971-098-3, S. 

* Gaëtan Brulotte (Hrsg.), John Phillips: ''Encyclopedia of Erotic Literature.'' Routledge, New York (NY) u. a. 2006, ISBN 1-57958-441-1, S. 
* [[Pascal Pia]] (Hrsg.): ''Dictionnaire des œuvres érotiques.'' Laffont, 2001, ISBN 2-221-09318-6, S. 

* In: Jay Ruud (Hrsg.): ''Encyclopedia of Medieval Literature.'' Facts on File, 2005, ISBN 0-8160-5497-5, S.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Vgl. Jürgen Grimm, Susanne Hartwig: Französische Literaturgeschichte. Metzler, 2014, ISBN 978-3-476-02420-6, S. 55.
  2. Vgl. Kim M. Phillips, Barry Reay: Sex Before Sexuality : A Premodern History. Wiley, 2011, Kap. 5: Before Pornography.
  3. Übersetzun von C Dessin in: Hermann Kinder: Die klassische Sau : Handbuch der literarischen Hocherotik. Haffmanns Verlag 1986, ISBN 3-251-00070-5, S. 24.

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