Sequenzenkalkül

Methodik der Beweistheorie der Mathematik und der Programmanalyse der Informatik

In der Beweistheorie und der mathematischen Logik bezeichnet man mit Sequenzenkalkül formale Systeme (oder Kalküle), die einen bestimmten Stil der Ableitung und gewisse Eigenschaften teilen. Die ersten Sequenzenkalküle, LK für die klassische und LJ für die intuitionistische Logik, sind von Gerhard Gentzen im Jahre 1934 als formaler Rahmen für die Untersuchung von Systemen des natürlichen Schließens in der Prädikatenlogik 1. Ordnung eingeführt worden.

Der Gentzensche Hauptsatz über LK und LJ besagt, dass die Schnittregel in diesen Systemen gilt, ein Satz mit weitreichenden Konsequenzen in der Metalogik. Die Flexibilität des Sequenzenkalküls zeigte sich später, im Jahr 1936, als Gentzen die Technik der Schnitt-Elimination verwendete, um die Widerspruchsfreiheit der Peano-Arithmetik zu beweisen.

Die auf Gentzen zurückgehenden Sequenzenkalküle und die allgemeinen Konzepte, die dahinterstehen, werden in weiten Bereichen der Beweistheorie, mathematischen Logik und des maschinengestützten Beweisens standardmäßig verwendet.

Notationen und KonventionenBearbeiten

In diesem Artikel werden folgende Zeichen verwendet:

  •  ,   …: Formelmengen
  •  ,  ,   …: Formeln der Prädikatenlogik
  •   : Zeichen für Herleitungsbeziehung
  •  ,   : Zeichen für die Beziehung der logischen Wahrheit/Folge
  •   : Negationszeichen
  •   : Adjunktionszeichen
  •   : Existenzquantor
  •  ,   : Klammern als Hilfszeichen für mehr Übersichtlichkeit
  •   : Kennzeichnung für die Erweiterung einer Formelmenge
  •   : Zeichen für Modell
  •   : (Zeichen für Variablenbelegungsfunktion)

Es werden folgende Konventionen eingeführt:

  • Mittels diverser Regeln lassen sich die übrigen Junktoren   in Formeln umformen, die dann nur noch   und   enthalten. Die Umformungregeln folgen:
    •  
    •  
    •  
  • Mittels einer Umformungsregel lässt sich der Quantor   (Allquantor) wie folgt darstellen:
    •  

Von diesen Umformungen wird in den Beispielen Gebrauch gemacht.

EinleitungBearbeiten

Der Sequenzenkalkül dient dazu, das Vorgehen beim mathematischen Beweisen von Theoremen möglichst genau abzubilden. Ein Bestandteil dieser Beweismethode ist, dass an jeder Stelle des Beweises Zusatzvoraussetzungen eingebracht werden können, die dann entweder bis zum Schluss stehen bleiben oder aber wieder eliminiert werden können.

Die Grundeinheit des Sequenzenkalküls ist eine Zeichenfolge (eine Sequenz) aus Variablen  , die jeweils für Ausdrücke des jeweils betrachteten logischen Systems stehen; z. B. für Ausdrücke einer Sprache erster Stufe. Eine solche Sequenz bezeichnen wir mit

 

oder kürzer mit

 

wobei   für die Folge der Ausdrücke   steht. Die Idee dabei ist, dass in   die Voraussetzungen stehen und das letzte Glied   die Folgerung aus diesen Voraussetzungen bezeichnet. Die Voraussetzungen werden auch als Antezedens bezeichnet und die Folgerung als Sukzedens. Während in der hier dargestellten Variante des Kalküls das Sukzedens aus nur einer Formel besteht, lassen andere Varianten, darunter Gentzens LK, beliebig viele Formeln im Sukzedens zu.

Der Sequenzenkalkül beschäftigt sich mit der Ableitung von Sequenzen. Gibt es im Kalkül eine Ableitung der Sequenz  , dann schreibt man auch

 

Definition: Der Ausdruck   heißt aus   ableitbar (kurz:  ), wenn es   aus   gibt mit  .

Die Sequenzenregeln: Allgemeine GestaltBearbeiten

Im Folgenden werden die Regeln für den Sequenzenkalkül der klassischen Prädikatenlogik erster Stufe aufgeführt. Sequenzenregeln haben dabei die allgemeine Gestalt

 

Oberhalb des Striches stehen bereits abgeleitete Sequenzen, und unterhalb die daraus ableitbare Sequenz.

Andere SchreibweiseBearbeiten

Sequenzenregeln findet man in der Literatur auch in der Form

 

oder auch als

 

notiert.

Regeln des Sequenzenkalküls der Prädikatenlogik erster Stufe mit IdentitätBearbeiten

Die Regeln des Sequenzenkalküls der Prädikatenlogik erster Stufe mit Identität werden in folgende Gruppen eingeteilt:

Grundregeln, Junktorenregeln, Quantorenregeln und Identitätsregeln.

GrundregelnBearbeiten

Zu den Grundregeln gehören die Antezedensregel und die Annahmeregel.

AntezedensregelBearbeiten

 

wobei gilt:  

In Worten: Man kann problemlos Annahmen hinzufügen.

AnnahmeregelBearbeiten

  wobei gilt:  

In Worten: Man kann Annahmen aus denselben schließen.

JunktorenregelnBearbeiten

Zu den Junktorenregeln gehören die Fallunterscheidung, die Kontradiktion, die Adjunktionseinführung im Antezedens und die Adjunktionseinführung im Konsequens.

FallunterscheidungBearbeiten

 

In Worten: Wenn man   einerseits unter der Annahme von   und andererseits unter der Annahme von   herleiten kann, darf man, ohne irgendeine Annahme über   oder   machen zu müssen, auf   schließen.

KontradiktionBearbeiten

 

In Worten: Wenn   zu einem Widerspruch führt, dann darf auf   geschlossen werden.

Adjunktionseinführung im AntezedensBearbeiten

 

In Worten: Disjunktionen der Form   im Antezedens können auf zwei Weisen verwendet werden – einerseits im Fall   und andererseits im Fall  .

Adjunktionseinführung im KonsequensBearbeiten

 
 

In Worten: Man darf immer das Konsequens durch eine Adjunktionseinführung abschwächen.

QuantorenregelnBearbeiten

Zu den Quantorenregeln gehören die Existenzeinführung im Konsequens und die Existenzeinführung im Antezedens.

Existenzeinführung im KonsequensBearbeiten

 

In Worten: Wenn man aus   herleiten kann, dass   eine durch   ausgedrückte Eigenschaft hat, dann darf man auch darauf schließen, dass etwas existiert, welches eine Eigenschaft hat, die durch   ausgedrückt wird.

Existenzeinführung im AntezedensBearbeiten

 , wenn   in der Sequenz   nicht frei vorkommt.

IdentitätsregelnBearbeiten

Zu den Identitätsregeln gehören die Reflexivität und die Substitutionsregel.

ReflexivitätBearbeiten

 

In Worten: Die Äquivalenzrelation auf dem Gegenstandsbereich   ist reflexiv.

SubstitutionsregelBearbeiten

 

In Worten: Einsetzung von Identischem in Identisches.

Nützliche HerleitungenBearbeiten

Mit den oben aufgestellten Regeln des Sequenzenkalküls werden nun in endlich vielen Schritten einige weitere nützliche Regeln hergeleitet. Zur Unterscheidung von den obigen Grundregeln heißen sie auch abgeleitete Regeln. (Zur Erinnerung: Herleitung ist gleichzusetzen mit Sequenzenmanipulation durch Anwendung der Regeln.) Diese einmal abgeleiteten Regeln können dann problemlos verwendet werden, das heißt, es reicht, deren Herleitung hier einmal zu zeigen. Hier werden folgende Regeln bewiesen: der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, die Trivialität, der Kettenschluss, die Kontraposition und der disjunktive Syllogismus. Zur Notation: Jede Herleitung ist in drei Spalten aufgeteilt. In der linken Spalte befindet sich die Nummerierung der einzelnen Modifikationen. Sie sind für eine unmissverständliche Bezugnahme durch andere Modifikationen nützlich. Die mittlere Spalte enthält die neue Modifikation, mit einer Abfolge von Sequenzen als Ergebnis. Die rechte Spalte enthält die Information, wie die Sequenz in der mittleren Spalte erreicht wurde. Dabei ist die Regel in Klammern geschrieben, und eventuell, durch ein Doppelpunkt eingeleitet (zu lesen als „angewendet auf“), sind die für das Ergebnis relevanten Zeilennummern notiert. Bsp.: „(Ant):1.,2.“ wird gelesen als „Antezedensregel, angewendet auf Zeile eins und zwei“.

Satz vom ausgeschlossenen DrittenBearbeiten

 

Herleitung:

 

TrivialitätBearbeiten

 

Herleitung:

 

KettenschlussBearbeiten

 

Herleitung:

 

Anmerkung: Bei dieser Herleitung wurde die Regel (Triv) verwendet. An diesem Beispiel sieht man, dass eine Regel bloß einmal fehlerfrei hergeleitet zu werden braucht; in der Folge kann sie als Abkürzung verwendet werden. Durch die Verwendung der Regel (Triv) wurden fünf Herleitungsschritte ausgespart (nämlich genau die fünf Schritte, die man benötigt, um (Triv) herzuleiten).

KontrapositionBearbeiten

 
 
 
 

Herleitung von (KP1):

 

Die Aussagen (KP2) bis (KP4) lassen sich analog beweisen.

Disjunktiver SyllogismusBearbeiten

 

Herleitung:

 

Eigenschaften des SequenzenkalkülsBearbeiten

KorrektheitBearbeiten

Der Korrektheitssatz lautet wie folgt:

Für alle Formelmengen   und alle Formeln   gilt: Wenn  , dann  .

Die Korrektheit des Sequenzenkalküls wird dadurch gezeigt, dass für jede einzelne Regel des Sequenzenkalküls gezeigt wird, dass sie korrekt ist, das heißt, dass jedes Modell   und jede Variablenbelegung s, die die Prämissen der Regel wahr machen, auch deren Konsequenz wahr machen. Alle Korrektheitsbeweise zusammengenommen ergeben dann den Beweis des Korrektheitssatzes.

DefinitionenBearbeiten

Um den Korrektheitssatz zeigen zu können, müssen zuvor noch „Modell“, „Variablenbelegung“ und „wahr machen“ (logische Wahrheit) definiert werden.

ModellBearbeiten

Ein Modell ist ein geordnetes Paar  , sodass gilt:

  1.   ist eine nicht-leere Menge (der Träger oder der Gegenstandsbereich, englisch domain, über den die Quantoren laufen)
  2.   ist die Interpretationsfunktion für Prädikate, Funktionen und Konstanten (in der Folge nicht relevant)
VariablenbelegungBearbeiten

Eine Variablenbelegung s über einem Modell   ist eine Funktion  .

Logische Wahrheit/FolgeBearbeiten

Für alle Formeln   und alle Formelmengen   gilt:   folgt logisch aus   (kurz:  ) gdw für alle Modelle   und alle Variablenbelegungen s über   gilt: Wenn  , dann  . (M.a.W.: Jedes  , das   wahr macht, macht auch   wahr.)

Korrektheit der Regeln des SequenzenkalkülsBearbeiten

Die Korrektheit der Regeln des Sequenzenkalküls zeigt man, indem man die logische Wahrheit der Regeln zeigt. Dabei stützt man sich auf die Definition der logischen Wahrheit/Folge. Nun wird gezeigt, dass jede einzelne Regel des Sequenzenkalküls logisch wahr ist. (Es werden nicht alle Beweise gezeigt. Es reicht, lediglich einige wenige zu skizzieren. Die restlichen Beweise sind von der Struktur her ähnlich.)

Korrektheit von (Ant)Bearbeiten

Angenommen,   ist korrekt, d. h.  . Sei   eine Formelmenge, sodass gilt:  . Seien   beliebig gewählt, sodass gilt:  . Dann gilt auch   und laut Voraussetzung auch  . Daraus folgt  . Also ist   korrekt.

Korrektheit von (Ann)Bearbeiten

Wenn  , dann gilt  . Somit ist   korrekt.

Korrektheit von (FU)Bearbeiten

Angenommen   und   sind korrekt, d. h.   und  . Seien   beliebig gewählt, sodass gilt:  .

Fall 1:  . Dann   und somit nach Voraussetzung  .

Fall 2:  . Dann  . Dann   und somit nach Voraussetzung  .

In beiden Fällen gilt  . Somit ist   korrekt.

Korrektheit von (KD)Bearbeiten

Angenommen   und  . Dann gilt für alle   mit  :

  und  . Dann gibt es kein  , sodass gilt:  . Dann gilt für alle   mit  :  . Somit gilt   und somit ist   korrekt.

Hat man noch zusätzlich die restlichen Regeln bewiesen, also deren Korrektheit gezeigt, so ist der Korrektheitssatz bewiesen und es kann gesagt werden: Ist eine Formel im Sequenzenkalkül herleitbar, so ist diese Formel auch logisch wahr.

VollständigkeitBearbeiten

Der Kalkül ist außerdem auch noch vollständig. Das heißt, es gilt:

Für alle Formelmengen   und alle Formeln   gilt: Wenn  , dann  .

Intuitiv bedeutet dies, dass alle wahren Sequenzen mit Hilfe der oben angegebenen Regeln hergeleitet werden können.

BeispieleBearbeiten

Zum Schluss sollen noch zwei Beispiele mit dem Sequenzenkalkül vorgeführt werden.

Beispiel 1Bearbeiten

 

Herleitung:

 

Beispiel 2Bearbeiten

 

Herleitung:

 

LiteraturBearbeiten

WeblinksBearbeiten