Semi-Gotha

antisemitische Polemik in Form eines genealogisch-biographischen Nachschlagewerkes

Das Weimarer historisch-genealoges [sic] Taschenbuch des gesamten Adels jehudäischen Ursprunges, kurz Semi-Gotha (oder Semigotha) ist eine antisemitische Polemik in Form eines genealogisch-biographischen Nachschlagewerkes. Ziel der Publikation war es, die darin aufgeführten Adeligen zu denunzieren, indem für sie oder ihre Ehefrauen die tatsächliche oder (häufiger) unterstellte jüdische Abstammung publik gemacht wurde. Titel und Ausstattung des Werkes imitieren bewusst den „Gotha“, ein etabliertes genealogischen Handbuch des Adels. Die auch in der Publikation selbst benutzte Bezeichnung Semi-Gotha spielt einerseits auf das Vorbild an („Halb-Gotha“), andererseits auf die Bezeichnung der Juden als „Semiten“.

Anzeige im ersten Band des Semi-Gotha von 1912

Das anonyme Werk wurde Wilhelm Pickl von Witkenberg[1] (1866–1922) unter Mitarbeit von Philipp Stauf, Bernhard Koerner[2] und anderen in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschvölkischen Schriftstellerverband erstellt.[3][4] Insgesamt erschienen drei Bände, alle im eigens dafür gegründeten Kyffhäuser-Verlag in Weimar bzw. München. Der erste Band erschien 1912, der zweite mit leicht verändertem Titel 1913, der dritte mit dem Titel Semigothaisches genealogisches Taschenbuch ari(st)okratisch-jüdischer Heiraten 1914. Der Verlagsname lehnte sich an ein Vorgängerwerk von 1889 an.[5][6] Seinem Anspruch nach war das Verzeichnis eine Matrikel des jüdischen deutschen Adels.

Die Herausgeber und Nutzer des Werkes waren völkische Denker, deren rassebiologischen Vorstellung von „Blutsadel“ sich sowohl gegen den traditionellen Adel als auch gegen Juden wandte. Die Zahl der tatsächlich nobilitierten Juden war extrem gering, aber die Unterstellung jüdischer Herkunft war gegenüber vielen Adeligen gerade deshalb eine erfolgversprechende denunziatorische Praxis, weil antisemitische Vorstellungen auch im Adel weit verbreitet waren. Mehrere Adelige und Adelsfamilien wehrten sich gegen entsprechende Unterstellungen durch Publikationen, Gutachten und Gerichtsprozesse (so z. B. Kuno von Westarp[7], Theobald von Bethmann Hollweg[8] oder die von Bismarck[9]), was dem Thema jeweils noch größere Aufmerksamkeit einbrachte. Auch nichtadelige Juden wurden aufgenommen, etwa der Vater von Walter Rathenau.[10] Auch andere völkische Genealogen veröffentlichten im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnliche Werke.[11][12] Philipp Stauf z. B. veröffentlichte 1913 den Semi-Kürschner (in Anlehnung an Kürschners Literatur-Kalender), der schwedische Nationalsozialist Elof Eriksson (1883–1965) publizierte 1939/41 ein zweibändiges Werk mit dem Titel Semi-Gotha.[13] Eine „umgekehrte“ Fortsetzung des Semi-Gotha war auch das erstmals 1925 erschienene Eiserne Buch Deutschen Adels Deutscher Art (EDDA), in das nur Adelige nachweislich „arischer“ Abstammung aufgenommen wurden.

Quellen Bearbeiten

  • Weimarer historisch-genealoges [sic] Taschenbuch des gesamten Adels jehudäischen Ursprungs. Aufsammlung all’ der im Mannesstamme aus jüdischem Geblüt, d. h. aus dem echt orientalischen Rassentypus der (eigentlich unrichtig Israeliten genannten) Juden und Hebraeer hervorgegangenen Adelsfamilien von einst und jetzt, ohne sonderliche Ansehung ihrer eventuell derzeit christlichen Konfession oder etwaiger Blutzumischung durch Einheirat arischer Frauen – vom Rassenstandpunkte aus besehen. Kyffhäuser, Weimar 1912 (uni-duesseldorf.de).
  • Weimarer historisch-genealoges [sic] Taschenbuch des gesamten Adels jehudäischen Ursprungs (Hebraici et conversi et de geneere Juda) [...] Kyffhäuser, München 1913 (uni-duesseldorf.de).
  • Semigothaisches genealogisches Taschenbuch ari(st)okratisch-jüdischer Heiraten : mit Enkel-Listen (Deszendenz-Verfolgen). Kyffhäuser, München 1914 (uni-duesseldorf.de).

Literatur Bearbeiten

  • Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. WBG, Darmstadt 2008, ISBN 3-534-21444-7. (Vor allem S. 137ff. zu „Neu-Adel auf rassischer Grundlage“.)
  • Georg Hufenreuter: Deutschvölkischer Schriftstellerverband. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. De Gruyter Saur, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-027878-1, S. 209–210, doi:10.1515/9783110278781 (google.de [abgerufen am 21. Mai 2022]).
  • Gregor Hufenreuter, Der ›Semi-Gotha‹ (1912–1919). Entstehung und Geschichte eines antisemitischen Adelshandbuches, in: Herold-Jahrbuch, N. F. 9 (2004), S. 71–88.
  • Gregor Hufenreuter: Semi-Gotha (Wilhelm von Witkenberg, 1912–1919). In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Band 6: Publikationen. De Gruyter Saur, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-030535-7, S. 634–636, doi:10.1515/9783110305357.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. H. Jäger-Sunstenau: Pickl von Witkenberg, Wilhelm. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL). Band 8, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1983, ISBN 3-7001-0187-2, S. 63.
  2. Horst Gies: Richard Walther Darré: Der „Reichsbauernführer“, die nationalsozialistische „Blut und Boden“-Ideologie und Hitlers Machteroberung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-412-51280-4, S. 232–233 (google.de [abgerufen am 22. Mai 2022]).
  3. Gregor Hufenreuter: Semi-Gotha (Wilhelm von Witkenberg, 1912–1919). In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Band 6: Publikationen. De Gruyter Saur, Berlin 2013, ISBN 978-3-11-030535-7, S. 634–636, doi:10.1515/9783110305357.
  4. Georg Hufenreuter: Deutschvölkischer Schriftstellerverband. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. De Gruyter Saur, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-027878-1, S. 209–210 (google.de [abgerufen am 21. Mai 2022]).
  5. [Theodor Schön?], Geadelte jüdische Familien. Kyffhäuser, Salzburg 1889, 2. Auflage 1891 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche ).
  6. Kai Drewes: Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts. Frankfurt 2013, ISBN 978-3-593-39775-7, S. 215–216.
  7. Stephan Malinowski: Kuno Graf von Westarp - ein missing link im preußischen Adel. Anmerkungen zur Einordnung eines untypischen Grafen. In: Larry Eugene Jones, Wolfram Pyta (Hrsg.): Ich bin der letzte Preusse: der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp. Böhlau, 2006, ISBN 978-3-412-26805-3, S. 9–32, 18 (google.de [abgerufen am 22. Mai 2022]).
  8. Kai Drewes: Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts. Campus Verlag, 2013, ISBN 978-3-593-39775-7, S. 266–267 (google.de [abgerufen am 22. Mai 2022]).
  9. Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat (= Elitenwandel in der Moderne. Band 4). 3., durchgesehene Auflage. Berlin 2003, ISBN 978-3-05-004840-6, S. 351 (google.de [abgerufen am 23. Mai 2022]).
  10. Kai Drewes: Die Rathenaus im Semi-Gotha. In: Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im 19. Jahrhundert. 13. August 2015, abgerufen am 22. Mai 2022.
  11. Kai Drewes: Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts. Frankfurt 2013, ISBN 978-3-593-39775-7, S. 215–216.
  12. Georg Hufenreuter: Deutschvölkischer Schriftstellerverband. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. De Gruyter Saur, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-027878-1, S. 209–210, 210 (google.de [abgerufen am 21. Mai 2022]).
  13. Semi-Gotha ...: En rasbiologisk studie med förord av Elof Eriksson. del [1]-2; 1939-41. Nationens förlag, 1939 (google.de [abgerufen am 22. Mai 2022]).