Hræsvelgr, auch Hräsvelgr oder Hräswelg, ist in der nordischen Mythologie ein Riese in Adlergestalt, der mit seinen Schwingen den Wind entfacht.

In der Lieder-Edda wird Hræsvelgr nur im Lied Vafþrúðnismál genannt. Dort heißt es:

„Seg [...] hvaðan vindr of kemr,
svá at ferr vág yfir;
æ menn han sjálfan of sjá.

Hræsvelgr heitir,
er sitr á himins enda,
jötunn í arnar ham;
af hans vængjum
kvæða vind koma
alla menn yfir.“[1]

„Sag [...] woher der Wind kommt,
sodass er übers Wasser weht;
nie sieht man ihn selbst.

Hräswelg heißt er,
der am Himmelsrand sitzt,
ein Riese in Adlergestalt;
von seinen Flügeln
– so sagt man – kommt der Wind
über alle Menschen.“[2]

Vafþrúðnismál 36–37

Snorri Sturluson fügt in der Prosa-Edda noch hinzu, dass der Adler am nördlichen Himmelsrand sitzt und der Wind dadurch entsteht, dass Hræsvelgr die Flügel ausbreitet.

„Hvaðan kemr vindr? [...]
Á norðanverðum himins enda sitr jötunn sá,
er Hræsvelgr heitir.
Hann hefir arnarham, en er hann beinir flug,
þá standa vindar undan vængjum hans.“[3]

„Woher kommt der Wind? [...]
Am nördlichen Himmelsrand sitzt der Riese,
der Hräswelg heißt. Er hat die Gestalt eines Adlers,
und wenn er die Flügel ausbreitet,
so entsteht der Wind unter seinen Schwingen.“[4]

– SNORRI STURLUSON: Prosa-Edda: Gylfaginning 18

Des Weiteren führen die Þulur den Namen sowohl als Heiti für Riesen (Jötunn) als auch für Adler auf.[5] Das heißt, ein Dichter konnte Hræsvelgrs Namen als Synonym für Adler oder Riese verwenden.

Rezeption

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Nach dem Lied Vafþrúðnismál sitzt Hræsvelgr am Rand der Welt, und zwar im Norden wie Snorri Sturluson weiß.

Seine kosmologische Bedeutung besteht darin, dass er die Personifikation des Windes ist. Wenn er seine Schwingen hebt, entfacht er den Wind, der über die Menschen kommt.[6] Die Vorstellung ist naheliegend, auch andere Völker kennen einen Riesenvogel, der den Wind verursacht.[7]

Genau genommen ist Hræsvelgr aber kein Adler, sondern ein Riese, der nur wie ein Adler aussieht.[8] Außen Adler, innen Riese. In der nordischen Mythologie ist es nicht ungewöhnlich, dass Riesen oder Götter Adlergestalt annehmen. Mehrfach ist überliefert, dass sie in ein Adlergewand schlüpfen, um fliegen zu können. Jacob Grimm war der Ansicht, dass Wind und Riese miteinander verbunden wurden, weil beide als gefräßig galten. Diese Eigenschaft gab den Riesen im Nordischen sogar ihren Namen. Altnordisch iǫtunn ‚Riese‘ stammt von germanisch *etunaz ‚Vielfraß‘, einer Ableitung von germanisch *etan ‚essen‘.[9][10] Nach neuerer Ansicht geht die Riesennatur eher auf den Umstand zurück, dass man sich den Adler einfach als riesig groß vorstellte.[7]

Hræsvelgrs Name, altnordisch Hræsvelgr, bedeutet ‚Leichenverschlinger, Leichenfresser‘.[7] Das Wort wird gebildet aus altnordisch hræ ‚Leichnam‘ und svelga ‚verschlingen‘, das mit neuhochdeutsch schwelgen verwandt ist.[10] Der Name wird [hrɛːsvɛlgr] ausgesprochen. Im Dänischen wird er Ræsvelg, im Schwedischen Räsvelg genannt.

Der Name deutet somit auf eine Beziehung Adler – Wind – Tod (Aas). Diese Beziehung findet man auch in der Natur. Denn der Adler hat nicht nur große Schwingen, sondern er ist auch ein Aasfresser. Schon allein das könnte Hræsvelgrs Namen erklären.[7] Der Wind, insbesondere der Sturm, galt bei den Germanen wie der Riese als gefräßiges Wesen. Noch in späterer Zeit brachte man in Deutschland dem Sturm ein Opfer, um ihn zu besänftigen. Man nannte das Windfüttern.

„Den sturmwind […] stellt sich das volk vor als ein gefrässiges, hungriges wesen und sucht ihn durch in die luft geschüttetes mehl zu beschwichtigen.“

Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Band 1, S. 528[11][12]

Auch glaubte man in Deutschland, dass Sturm entsteht, wenn sich jemand erhängt. Nahender Sturm künde davon.[11] Da der Adler auch auf germanischen Gräbern zu finden war, scheint er eine Rolle als Seelenführer gehabt zu haben – als jemand, der die Seelen ins Reich der Toten geleitet.[13]

Literatur

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Siehe auch

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Einzelnachweise

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  1. Textausgabe nach Titus Projekt, URL: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/germ/anord/edda/edda.htm, aufgerufen am 14. Dezember 2009.
  2. Übersetzung nach Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15050-047-7.
  3. Textausgabe nach CyberSamurai Encyclopedia of Norse Mythology, URL: Archivlink (Memento des Originals vom 28. Januar 2011 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.cybersamurai.net, aufgerufen am 14. Dezember 2009.
  4. Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15000-782-2
  5. Þulur III 5. − Jǫtna heiti und Þulur III 53. – Ara heiti, 1 I.
  6. Lieder-Edda: Vafþrúðnismál 36-37
  7. a b c d Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 201.
  8. Lieder-Edda: Vafþrúðnismál 37
  9. Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. 3 Bände. Marix Verlag, Wiesbaden 2007, Neudruck der 4. Auflage Berlin 1875-78, ISBN 978-3-86539-143-8, Bd. 1, S. 429 f.
  10. a b Gerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003 (online).
  11. a b Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. 3 Bände. Marix Verlag, Wiesbaden 2007, Neudruck der 4. Auflage Berlin 1875-78, ISBN 978-3-86539-143-8, Bd. 1, S. 528
  12. Vergleiche auch Handbuch des deutschen Aberglaubens – Bd. 9, Sp. 511 - Gebrüder Grimm: Kinder und Hausmärchen. Bd. 1, Anhang „Einiges aus dem Kinderglauben“, Nr. 59: „Lege dich, - lieber Wind, - bringe das - deinem Kind!“
  13. Handbuch des deutschen Aberglaubens – Bd. 1, Sp. 176