Das französische Paradox bezeichnet eine niedrigere Inzidenz in der Mortalität durch Kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinfarkte in Frankreich im Vergleich zu anderen Ländern,[1] obwohl dort die durchschnittliche Ernährung vergleichsweise viel gesättigte Fettsäuren[2] und Alkohol[3] enthält. Die Ursache dieser Inzidenz wird wissenschaftlich diskutiert.

Champagner und Käse, vermeintlich ungesunde französische Spezialitäten

Geschichte Bearbeiten

1819 stellte der irischen Arzt Samuel Black einen Zusammenhang zwischen Weintrinken und niedriger Herzinfarktrate her.[4]

Eine 1981 veröffentlichte epidemiologische Studie der französischen Forscher Jacques L. Richard, François Cambien und Pierre Ducimetière[5] kam zu den Schluss, dass weniger tödliche Herzinfarkte bei Franzosen beobachtet wurden, die häufiger rauchten und höhere Mengen gesättigter Fette zu sich nahmen.[6] Der Begriff französisches Paradox wurde 1992 von Serge Renaud und Michel de Lorgeril geprägt, Forscher an der Universität Bordeaux.[7] Renaud und de Lorgeril vermuteten antioxidative Polyphenole des Rotweins und insbesondere Resveratrol als Ursache.[8] Die Inzidenzen sowohl von kardiovaskulären Ereignissen als auch von der Mortalität zeigen eine J-förmige Kurve mit zunehmendem Weinkonsum mit einem Minimum bei Konsum von 21 Gramm Ethanol in Form von Wein pro Tag.[9][10]

1991 erlangte das Paradox große Popularität, als Morley Safer in der US-amerikanischen Sendung „60 Minutes“ sagte, US-Amerikaner hätten ein dreimal höheres Risiko für Herzinfarkte als Franzosen und folgerte: „Es steht nun unumstößlich fest: Alkohol – insbesondere Rotwein – reduziert das Risiko für Herzerkrankungen“. In der Folge stieg der Absatz an Rotwein in den USA um 44 %. Eine Gallup-Umfrage zeigte, dass 58 % der Amerikaner nun davon ausgingen, dass moderater Alkoholkonsum das Herzinfarktrisiko senke. Auch als die Fernsehepisode fünf Monate später erneut ausgestrahlt wurde, stiegen die Rotweinverkäufe um 49 %. In den darauffolgenden Jahren nutzte die Rotwein- und Lebensmittelbranche diese Assoziation, um ihre Produkte als gesund zu vermarkten: Rotwein wurde als ein Gegenmittel zu ungesundem fettigem Essen dargestellt.[11]

Während sich die Forschung zunächst auf Resveratrol konzentrierte, werden heute zunehmend auch Milch und Käse als mögliche Ursache untersucht.[3] Weiterhin werden andere Stoffe aus über 25.000 Stoffen in der menschlichen Ernährung und ihre gemeinsame Wirkung untersucht.[1][12]

Erklärungsansätze Bearbeiten

Verschiedene Erklärungsansätze, von denen einige sich auf Bestandteile der französischen Küche fokussieren, sind diskutiert worden.

Rotwein Bearbeiten

Polyphenole und insbesondere Resveratrol in Rotwein wurden als eine mögliche Ursache diskutiert.[13] Resveratrol bindet an verschiedene Proteine.[14][15] Die antioxidativen Eigenschaften von Resveratrol und anderen Polyphenolen aus Wein tragen vermutlich hauptsächlich zur Wirkung bei, allerdings werden weitere klinische Studien benötigt für eine gesicherte Aussage.[10] Weiterhin wird Quercetin aus Rotwein untersucht.[16] Vermutlich hemmt Resveratrol eine Entzündung in Blutgefäßen.[17]

Alkohol Bearbeiten

Renaud und de Lorgeril vermuteten, dass das Rotweintrinken, trotz des für den menschlichen Organismus giftigen Alkohols, offenbar gesund sein müsste.[7] Dieser Effekt ergäbe sich daraus, dass mäßige Alkoholmengen von der Leber schadlos abgebaut werden könnten, andererseits aber durch den gefäßerweiternden Effekt des Alkohols die Wahrscheinlichkeit bestimmter Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinke. Alkohol beeinflusst den Lipidstoffwechsel.[17]

Eine Metaanalyse von 2023 hat dagegen ergeben, dass ein täglicher geringer bis moderater Alkoholkonsum (25 g Ethanol) keine günstige Auswirkung auf die Mortalität zeigt.[18] Ein höherer Alkoholkonsum (bei Frauen über 25 g Ethanol, bei Männern über 45 g Ethanol) erhöht sogar die Mortalität. Zudem übt die alkoholproduzierende Industrie einen starken Einfluss auf entsprechende Forschung aus, wodurch wie bei der Tabakindustrie ein Bias der so geförderten, alkoholfavorisierende Studien vorliegt.[19][20]

Resveratrol, Catechin Bearbeiten

Es wurde postuliert, dass Resveratrol, eine Komponente in Trauben und daraus hergestelltem Rotwein, sich positiv auf gewisse Autoimmunkrankheiten oder Herzkrankheiten auswirken kann. Jedoch gibt es hierfür keine hochwertigen Evidenzen aus Tier-[21] oder Humanstudien[22].

Statt Resveratrol wird Catechin für die positiven Gesundheitseffekte verantwortlich gemacht.[23]

Mittelmeerdiät Bearbeiten

Nach den Daten des von 1979 bis 2002 dauernden MONICA-Projekts der WHO liegt die Zahl der Herzerkrankungen im Norden Frankreichs erheblich höher als im Süden Frankreichs. Dies wird als Hinweis auf eine große Bedeutung der mediterranen Ernährung auf die Herzgesundheit interpretiert.[24] Pierre Ducimetière, einer der Wissenschaftler, die das Paradox als erste beschrieben hatte, distanzierte sich später von der Theorie und vermutete die Mittelmeerdiät als verantwortlich für die niedrigeren Raten an koronarer Herzerkrankung.[25] Er kommt zu dem Schluss, dass aktuelle Daten zur koronaren Herzerkrankung die Existenz des Paradox widerlegen.[26]

Milchprodukte Bearbeiten

Im Jahr 2004 wurden Daten aus der sogenannten Rotterdam-Studie veröffentlicht, die eine angemessene Versorgung mit Menachinon (Vitamin K2) mit einer Reduktion an Atherosklerose und einer geringeren Sterblichkeit in Verbindung brachte.[27] Deshalb wurde vermutet, dass ein hinreichender Anteil von menachinonreichen Lebensmitteln Bedeutsamkeit für die Vorbeugung gegen kardiovaskuläre Komplikationen haben kann.[28] Hartkäse, Weichkäse und Butter sind relativ ergiebige Quellen für Vitamin K2. Weiterhin wurde ein hoher Anteil an Rohmilchkäse und eine geringe Aufnahme von Oxysterol als Ursache vermutet.[29]

Vorgeburtliche und frühkindliche Ernährungssituation im 19. Jahrhundert Bearbeiten

David J. P. Barker nennt Frankreich als Beispiel für eine Kultur, die gute pränatale und postnatale Versorgung schätzt und somit chronischen Erkrankungen vorbeugt, womit das französische Paradox von einem langjährigen Engagement für hervorragende Schwangerschaftsbetreuung herrühren würde.[30][31]

Seit mehr als einem Jahrhundert haben die Franzosen ein hochentwickeltes System pränataler Versorgung für schwangere Frauen institutionalisiert, um die optimale Entwicklung der Föten sicherzustellen.[32] Dies kam unter anderem aufgrund der weit verbreiteten Mangelernährung im Europa des 19. Jahrhunderts zustande, die von der französischen Regierung als Problem betrachtet wurde, da sie um ihre nationale Stärke fürchtete.[33] Daher wurden gesetzliche Maßnahmen eingeleitet – einschließlich der routinemäßigen Speisung von Schulkindern und des regelmäßigen Wiegens von Schwangeren und Neugeborenen durch Hebammen –, um die Ernährung von Babys, Kindern und werdenden Müttern zu verbessern.[34] Im Jahre 1871, nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg, machte es sich die französische Regierung endgültig zu ihrer institutionellen Verpflichtung, den Bestand an Soldaten durch erhöhte Aufmerksamkeit bezüglich der Gesundheit von zukünftigen Müttern und der richtigen Ernährung von Säuglingen zu erhöhen.[35]

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b B. Khakimov, S. B. Engelsen: Resveratrol in the foodomics era: 1:25,000. In: Annals of the New York Academy of Sciences. Band 1403, Nummer 1, September 2017, S. 48–58, doi:10.1111/nyas.13425, PMID 28868614.
  2. Y. Matsumoto, Y. Katano: Cardiovascular Protective Effects of Polyphenols Contained in Passion Fruit Seeds Namely Piceatannol and Scirpusin B: A Review. In: The Tokai journal of experimental and clinical medicine. Band 46, Nummer 3, September 2021, S. 151–161, PMID 34498252.
  3. a b T. Ndlovu, F. van Jaarsveld, O. J. Caleb: French and Mediterranean-style diets: Contradictions, misconceptions and scientific facts-A review. In: Food research international. Band 116, Februar 2019, S. 840–858, doi:10.1016/j.foodres.2018.09.020, PMID 30717015.
  4. Arthur L. Klatsky: Alcohol and Cardiovascular Health. In: Integrative and Comparative Biology. 2004, Band 44, Nummer 4, S. 324–328 doi:10.1093/icb/44.4.324.
  5. J. L. Richard, F. Cambien, P. Ducimetière: [Epidemiologic characteristics of coronary disease in France]. In: La Nouvelle Presse Medicale. Band 10, Nr. 14, 28. März 1981, S. 1111–1114, PMID 7220281 (französisch).
  6. Sabine Weiskirchen, Ralf Weiskirchen: Resveratrol: How Much Wine Do You Have to Drink to Stay Healthy? In: Advances in Nutrition (Bethesda, Md.). Band 7, Nr. 4, Juli 2016, S. 706–718, doi:10.3945/an.115.011627, PMID 27422505, PMC 4942868 (freier Volltext) – (englisch).
  7. a b Serge Renaud, Michel de Lorgeril: Wine, alcohol, platelets, and the French paradox for coronary heart disease. In: Lancet (London, England). Band 339, Nr. 8808, 20. Juni 1992, S. 1523–1526, doi:10.1016/0140-6736(92)91277-f, PMID 1351198 (englisch).
  8. R. F. Pastor, P. Restani, C. Di Lorenzo, F. Orgiu, P. L. Teissedre, C. Stockley, J. C. Ruf, C. I. Quini, N. Garcìa Tejedor, R. Gargantini, C. Aruani, S. Prieto, M. Murgo, R. Videla, A. Penissi, R. H. Iermoli: Resveratrol, human health and winemaking perspectives. In: Critical reviews in food science and nutrition. Band 59, Nummer 8, 2019, S. 1237–1255, doi:10.1080/10408398.2017.1400517, PMID 29206058.
  9. E. Fragopoulou, S. Antonopoulou: The French paradox three decades later: Role of inflammation and thrombosis. In: Clinica Chimica Acta. Band 510, November 2020, S. 160–169, doi:10.1016/j.cca.2020.07.013, PMID 32653485.
  10. a b L. Liberale, A. Bonaventura, F. Montecucco, F. Dallegri, F. Carbone: Impact of Red Wine Consumption on Cardiovascular Health. In: Current medicinal chemistry. Band 26, Nummer 19, 2019, S. 3542–3566, doi:10.2174/0929867324666170518100606, PMID 28521683.
  11. The French Paradox, Health and Alcohol Use in France. 2000, abgerufen am 14. März 2024.
  12. U. Saqib, T. T. Kelley, S. K. Panguluri, D. Liu, R. Savai, M. S. Baig, S. C. Schürer: Polypharmacology or Promiscuity? Structural Interactions of Resveratrol With Its Bandwagon of Targets. In: Frontiers in pharmacology. Band 9, 2018, S. 1201, doi:10.3389/fphar.2018.01201, PMID 30405416, PMC 6207623 (freier Volltext).
  13. M. Biagi, A. A. Bertelli: Wine, alcohol and pills: What future for the French paradox? In: Life sciences. Band 131, Juni 2015, S. 19–22, doi:10.1016/j.lfs.2015.02.024, PMID 25841977.
  14. S. Cho, K. Namkoong, M. Shin, J. Park, E. Yang, J. Ihm, V. T. Thu, H. K. Kim, J. Han: Cardiovascular Protective Effects and Clinical Applications of Resveratrol. In: Journal of medicinal food. Band 20, Nummer 4, April 2017, S. 323–334, doi:10.1089/jmf.2016.3856, PMID 28346848.
  15. Izabela Szymkowiak, Małgorzata Kucińska, Marek Murias: Between the Devil and the Deep Blue Sea—Resveratrol, Sulfotransferases and Sulfatases—A Long and Turbulent Journey from Intestinal Absorption to Target Cells. In: Molecules. 2023, Band 28, Nummer 8, S. 3297 doi:10.3390/molecules28083297. PMID 37110530. PMC 10140952 (freier Volltext).
  16. A. Artero, A. Artero, J. J. Tarín, A. Cano: The impact of moderate wine consumption on health. In: Maturitas. Band 80, Nummer 1, Januar 2015, S. 3–13, doi:10.1016/j.maturitas.2014.09.007, PMID 25449821.
  17. a b E. Fragopoulou, M. Choleva, S. Antonopoulou, C. A. Demopoulos: Wine and its metabolic effects. A comprehensive review of clinical trials. In: Metabolism: clinical and experimental. Band 83, Juni 2018, S. 102–119, doi:10.1016/j.metabol.2018.01.024, PMID 29408458.
  18. Jinhui Zhao et al.: Association Between Daily Alcohol Intake and Risk of All-Cause Mortality: A Systematic Review and Meta-analyses. In: JAMA network open. Band 6, Nr. 3, 1. März 2023, S. e236185, doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.6185, PMID 37000449 (englisch).
  19. Su Golder, Jack Garry, Jim McCambridge: Declared funding and authorship by alcohol industry actors in the scientific literature: a bibliometric study. In: European Journal of Public Health. Band 30, Nr. 6, 11. Dezember 2020, S. 1193–1200, doi:10.1093/eurpub/ckaa172, PMID 32939544, PMC 7733050 (freier Volltext) – (englisch).
  20. Marlene Cimons: No, moderate drinking isn’t good for your health. In: Washington Post. 31. März 2023, abgerufen am 11. März 2024 (englisch).
  21. Huber R. Warner: NIA's Intervention Testing Program at 10 years of age. In: Age (Dordrecht, Netherlands). Band 37, Nr. 2, 2015, S. 22, doi:10.1007/s11357-015-9761-5, PMID 25726185, PMC 4344944 (freier Volltext) – (englisch).
  22. Amirhossein Sahebkar et al.: Lack of efficacy of resveratrol on C-reactive protein and selected cardiovascular risk factors--Results from a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. In: International Journal of Cardiology. Band 189, 2015, S. 47–55, doi:10.1016/j.ijcard.2015.04.008, PMID 25885871 (englisch).
  23. Robert Ebermann, Ibrahim Elmadfa: Lehrbuch Lebensmittelchemie und Ernährung. 2. Auflage. Springer, Wien / New York 2011, ISBN 978-3-7091-0210-7, S. 202, doi:10.1007/978-3-7091-0211-4.
  24. J.W.G. Yarnell, A.E. Evans: The Mediterranean diet revisited—towards resolving the (French) paradox In: QJM: An International Journal of Medicine Bd. 93, Ausgabe 12, 2000, S. 783–785, https://doi.org/10.1093/qjmed/93.12.783.
  25. Pierre Ducimetière, Thierry Lang, Philippe Amouyel, Dominique Arveiler, Jean Ferrières: Why mortality from heart disease is low in France. In: BMJ : British Medical Journal. Band 320, Nr. 7229, 22. Januar 2000, ISSN 0959-8138, S. 249, PMID 10642245, PMC 1117444 (freier Volltext).
  26. From Washington Post: French Study Debunks Red Wine 'Paradox'. 12. Juni 2000, abgerufen am 14. März 2024 (amerikanisches Englisch).
  27. Dietary Intake of Menaquinone Is Associated with a Reduced Risk of Coronary Heart Disease: The Rotterdam Study. auf: jn.nutrition.org
  28. G. C. Gast, N. M. de Roos, I. Sluijs, M. L. Bots, J. W. Beulens, J. M. Geleijnse, J. C. Witteman, D. E. Grobbee, P. H. Peeters, Y. T. van der Schouw: A high menaquinone intake reduces the incidence of coronary heart disease. In: Nutrition, metabolism, and cardiovascular diseases : NMCD. Band 19, Nummer 7, September 2009, S. 504–510, ISSN 1590-3729, doi:10.1016/j.numecd.2008.10.004. PMID 19179058.
  29. R. B. Brown: Phospholipid packing defects and oxysterols in atherosclerosis: Dietary prevention and the French paradox. In: Biochimie. Band 167, Dezember 2019, S. 145–151, doi:10.1016/j.biochi.2019.09.020, PMID 31586653 (Review).
  30. Stephen S. Hall: Size Matters: How Height Affects the Health, Happiness, and Success of Boys... S. 43.
  31. Grazyna Jasienska: The Fragile Wisdom: An Evolutionary View on Women’s Biology and Health. S. 93.
  32. Trevathan Wenda: Ancient Bodies, Modern Lives: How Evolution Has Shaped Women’s Health. 2010, S. 85.
  33. Health – French health mystery. auf: BBC News. abgerufen am 26. Februar 2015.
  34. Interior Designs Can ailments such as heart disease, diabetes, and high blood pressure be linked to poor conditions in the womb? David Barker thinks so — and he’s not alone. abgerufen am 26. Februar 2015.
  35. Stephen S. Hall: Size Matters: How Height Affects the Health, Happiness, and Success of Boys... S. 43.