Diskussion:Drei Tode
Ist nicht Sergoja der dritte Tote?
BearbeitenZugegeben: ich bin kein wirklicher Tolstoi-Spezialist und habe diese Kurzgeschichte daher eher unbedarft gelesen. Ich wundere mich etwas, dass es im Text kein explizit genanntes drittes.menschliches Todesopfer gibt, sondern dass vielmehr in der allgemeinen Rezeption die junge Esche als drittes Todesopfer betrachtet wird, zumal ein Baum ja auch ein Lebewesen ist. Das kommt mir etwas seltsam vor, aber meine Internet-Recherche zeigt, dass dies tatsächlich die allgemeine Überzeugung und gängige Interpretation ist. Warum eigentlich? Mit erscheint Tolstoi als ein grandioser Kenner der seelischen Feinstruktur der Menschen, und weshalb sollte er in einer Geschichte, welche ja offenbar drei verschiedene, den jeweiligen Umständen geschuldete und gänzlich andersartige Varianten des Ablebens beleuchten soll, auf einen dritten menschlichen Protagonisten verzichten wollen? Dies leuchtete mir nicht ein, und daher las ich den letzten Teil mehrfach und genau - und ich komme zu folgendem Schluss: der dritte Tote ist Sergoja, welcher vom fallenden Baum erschlagen wird. Der textliche Hinweis ist folgender: "Für einen Augenblick wurde alles still, doch der Baum neigte sich wieder, in seinem Stamm krachte es, und er stürzte, die Äste brechend und die Zweige senkend, mit dem Wipfel auf die feuchte Erde. Die Axthiebe und die Schritte verstummten". Also: die Schritte verstummten. Das eigentliche Vorhaben Sergojas war ja gewesen, aus der jungen Esche ein Kreuz für das Grab des Kutschers Fjodor zu zimmern - ersatzweise auf Drängen Anderer sozusagen, da er sich der Erfüllung seines Versprechens, einen Grabstein zu beschaffen. stets verweigert hatte. Also wäre nach dem Fällen der Esche zu erwarten gewesen, dass er den Baum entasten und Äste zurechtsägen würde, um ein Kreuz, evtl. mit Dach - wie in einem früheren Textabschnitt angedeutet - zu zimmern. Derlei Aktivitäten Sergojas werden aber nicht mehr geschildert. Der Grund hierfür könnte sein, dass Tolstoj es nun der Phantasie der Leser überlässt, den Tod Sergojas zu vermuten. Und meines Erachtens macht genau dies Sinn in einer vermutlich beabsichtigen Abstufung des Ablebens durch den Autor: während die Gutsherrin sozusagen ante und post mortem "erste Klasse" stirbt, sind die Umstände bei Fjodor - seinem geringen sozialen Stand entsprechend - "zweiter Klasse", aber immerhin in menschlicher Gesellschaft, mit einer letzten guten Tat des Schenkens seinerseits und mit einem Grabhügel als Ruheort. "Dritter Klasse" aber stirbt Sergoja: unerwartet, ausserhalb der Zivilisation, nach einem gebrochenen Versprechen, erschlagen von einem Baum, welchem er soeben das Leben genommen hat - womöglich wird Sergoja nie gefunden, und falls doch, vermutlich kaum beweint von seinen Mitmenschen, denn er hat selbst den "Geringen" Fjodor, seinen Verwandten, noch hintergangen. Zur Strafe bleibt sein Ende auch vom Dichter sozusagen unbesungen. Das macht aus meiner Sicht mehr Sinn als die gängige Ansicht, dass die junge Esche der dritte Tote sei.