Energetische Seelsorge ist ein Konzept der Seelsorge, das Manfred Josuttis im Jahr 2000 in seiner Monografie Segenskräfte entwarf.

Segenskräfte Bearbeiten

Zur Psychologie Bearbeiten

Im Kapitel „Zur Psychologie“ setzt Josuttis bei den prägenden Umbrüchen in den letzten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts an, die sich auf die Praktische Theologie und Seelsorge ausgewirkt haben. Seelsorgebewegung und Studentenbewegung gehen für ihn Hand in Hand, daneben erwähnt er „Psychoboom“ und Austrittswellen. In der dialektischen Theologie sei kaum ein methodisches Instrumentarium angeboten worden, aber nun sei ein solches Instrumentarium unabdingbar. Die Praktische Theologie transportiere nicht mehr einfach exegetische und systematisch-theologische Ansichten in die kirchliche Praxis, sondern reihe sich selbst in die Humanwissenschaften als eine Handlungswissenschaft ein. Glaube, religiöse Einstellung und die kirchliche Institution werden weniger als dogmatische Größen behandelt, sondern eher als empirische Phänomene verstanden. In diesem Zuge wird der Religionsbegriff in der Praktischen Theologie aufgewertet, wodurch auch die christliche Religion mittels Religionssoziologie und -psychologie untersucht werden kann. Während C. G. Jung schon länger positiv rezipiert worden sei, setzten sich allmählich auch Sigmund Freud und Carl Rogers durch. Die Seelsorge habe eine besonders prägende Kraft für die Praktische Theologie, weil sie mit Grundfragen des Menschen zu tun hat und dabei Problembewusstsein und die Arbeit mit lebendigen Menschen zu verbinden weiß.

Josuttis beschreibt die Hinwendung zur Psychologie, womit das „Verbot der Psychologisierung“ aufgehoben worden sei.[1] Die Religion habe ihren Sitz im Leben des Individuums. Mit dieser Entdeckung ist der Mensch in den Blick gerückt, der durch Konflikte, Triebe, Phantasien, gesellschaftlichen Ansprüche, Lebenswille des Ichs, Suche nach Heil(ung) geprägt sei. Theologinnen und Theologen erlernten nun Selbtwahrnehmung, und Gesprächsprotokolle dienten als Quelle für Theologien vordogmatischen Glaubens. Die Schlüsselaufgabe, die die Seelsorgebewegung der Praktischen Theologie gegeben hat, sei „Kommunizieren lernen“. Kommunikation, die zu tiefer Ergriffenheit führt, geschiehe eher im Seelsorgekontext als auf der Kanzel.

Die Seelsorgebewegung beschäftige sich nicht nur mit Konflikten, sondern löse sie auch aus.[2] Es gibt Vorbehalte gegen die Seelsorgebewegung: Sie betreibe die Auflösung der Theologie in die Psychologie, die Beseitigung der Pastorenrolle oder die Manipulation durch psychotherapeutische Methoden. Dem hält Josuttis entgegen, dass die Seelsorgebwegung sehr wohl am Profil des Pastorenberufs bemüht sei, auch wenn er in eine Reihe anderer helfender Berufe gestellt werde. Methodenreflexion sei ein Weg, um Manipulation zu verhindernn. Josuttis räumt ein, dass die Betonung des Hörens auf den anderen die eigene Sprachlosigkeit kaschieren könne.

Josuttis verweist auf K. Winkler, der die Frage "Wie hältst du's mit der Psychologie" zur Grechtchenfrage erklärt. Josuttis selbst will aber die Aufmerksamkeit auf die ursprüngliche Gretchenfrage zurücklenken: "Wie hältst du's mit der Religion?" Denn wenn Seelsorge psychotherapeutische Konzepte einbezieht, stellt sich die Frage nach ihrem Spezifikum oder auch Proprium. H. Faber führt die Erwartungshaltung der Klienten an: Man sucht einen Pastor nicht als Arzt oder Therapeut auf, sondern als Lebensleiter, der mehr vom Geheimnis des wahren Lebens weiß als man selbst. D. Stollberg versucht es mit einer Reformulierung der Rechtfertigungslehre. J. Scharfenberg identifiziert religiöse Symbole als die Eigenart der Seelsorge. K. Winkler spricht von der Ermöglichung eines persönlichkeitsspezifischen Credos. Josuttis selbst sieht das religiöse Spezifikum darin, dass Seelsorge "mit dem unbekannten Gott" arbeiten muss. Dabei versteht er das Göttliche als das Heilige als eigenständige Macht. Die Gottheit bleibt unbekannt, wenn man zu wenig, gar nicht oder zu viel von ihr redet. Man kann sie weder durch Theologie einbinden noch durch Psychologie aussperren, sondern: "Gott wird bekannt, wo und wann er selber zur Sprache kommt." Josuttis bringt seine eigene Position wie folgt auf den Punkt:

"Die biblisch begründete, phänomenologisch entfaltete, poimenisch zu realisierende Grundlage für alles, was in diesem Buch gesagt werden soll, lautet: Das Heilige kommt in Segenskräften zur Welt."[3]

Zur Phänomenologie Bearbeiten

Josuttis beginnt das Kapitel "Zur Phänomenologie" mit seiner Rezeption Scharfenbergs. Er fordert für die Pastoralpsychologie, dass sie sich als Konfliktpsychologie auf dem Hintergrund religiöser Anthropologie entwickelt. Josuttis versteht unter Konflikten "Auseinandersetzungen zwischen Mächten und zwischen Größen, in denen sich diese Mächte manifestieren", und zwar im sozialen, politischen Raum, in zwischenmenschlichen Beziehungen, innerpsychischen Spannungen und im Gottesverhältnis. In Anlehnung an Scharfenberg werden drei Thesen für eine transpsychologische Seelsorge aufgezeigt:

  1. Seelsorge ist eine übermenschliche Handlung
  2. Seelsorge ist ein Kampfgeschehen
  3. Seelsorge ist ein pneumatisches Geschehen

Josuttis sieht in der Phänomenologie die Lösung für die zuvor ungelöste Frage nach dem Proprium der Seelsorge, weil die Phänomenologie die Alternative zwischen theologischer Dogmatisierung des Heiligen und psychologischer Reduzierung dieses Wirklichkeitsbereichs hinter sich lässt. Auf dem Weg zur Lösung stehen die Fragen im Vordergrund, worin die Macht des Heiligen besteht, ob es eine Pneumatologie ohne naive Dämonologie gibt und was passiert, wenn religiöse Praxis als methodisches Instrumentarium in der Seelsorge eingesetzt wird.

Konflikte spielen sich in Machtkonstellationen ab, die man mit Freud als Ich, Über-Ich, Es oder mit der Transaktionsanalyse Kindheits-Ich, Erwachsenen-Ich, Eltern-Ich beschreiben kann. Alternativ bietet sich bietet sich das Spannungsmodell zwischen göttlichen und dämonischen Mächten an.[4] Josuttis thematisiert verschiedene Varianten dieses Spannungsmodells:

Zunächst kommt er auf die französische Analytikerin Favret-Saada zu sprechen, die den Hexenglauben in Westfrankreich untersucht. Es handelt sich um ein Ringen von Zauberei und Gegenzauberei. Sodann wird die amerikanische Anthropologin Myerhoff angeführt, die die Reise nach Wirikuta des mexikanischen Indianerstamms Huichol beschreibt. Ausgewählte treten nach strenger Präparation unter Anleitung eines Schamanen die Reise an, nehmen dosiert den Peyote-Kaktus ein und sehen Visionen durch die wirklichkeitserweiternde Kraft des Rituals. Die amerikanisch Kulturanthropologin erforscht den Zustand von Trance und Ekstase in verschiedenen Kulturen, der durch veränderte Körper- und Bewusstheitszustände mittels Drogen und Musik erreicht wird. Die Ethnologin Rösing untersucht den Umgang mit Trauer der Callawaya, die Trauer als externe Macht verstehen, die man vom Familiengelände durch verschiedene Rituale (z. B. Zerbrechen von Gegenständen, Verbrennung von Stoffen, Tötung von Tieren, ...) vertreiben muss, um sich in einer abschließenden Waschung von der Trauer zu reinigen. Die deutsch-türkische Therapeutin Özelsel hat eine klassische Derwischklausur absolviert, die sich in der Spannung zwischen Reizentzug und Reizüberflutung bewegt, wobei Lehrer, die Anrufung des Gottesnamen und Körperbewegungen zentrale Rollen spielen. Zusammenfassend identifiziert Josuttis übergreifende Gemeinsamkeiten:

  • schädigende Machterfahrungen
  • befreiende Machterfahrungen
  • Personen, die beim Vollzug des Transitus helfen

Für ihn liegen die Parallelen zur Psychotherapie auf der Hand, sodass Psychotherapie als säkulare Form dieser religiösen Modelle angesehen werden kann. Die geschilderten exotischen Konfliktmodelle rechnen mit Faktoren, die sich in psychischen Reaktionen manifestieren, aber in eine transpsychische Realität gehören.

Die Seelsorge, die mit der Wirklichkeit von ergreifenden Mächten rechnet, muss lernen und dazu anleiten, wie man mit ihnen umgeht. Wenn man den heiligen Geist mit Pannenberg als Kraftfeld versteht, hat das Konsequenzen:

"Seelsorge würde dann darin bestehen, das Kraftfeld des heiligen Geistes durch gestaltete, morphische Resonanz so zu realisieren, daß schäidgende Mächte beseitigt werden und heilende Ströme neue Strukturen schaffen."[5]

Im Abschnitt III. des Kapitels "Zur Phänomenologie" kommt Josuttis explizit auf "Energetische Seelsorge" zu sprechen. Als prominentestes Beispiel geht er auf den Exorzismus Blumhardts bei der Gottliebin Dittus ein. Scharfenberg interpretiert den Vorfall unter seinen psychoanalytischen Voraussetzungen: Im Gespräch liegt der Schlüssel des Erfolgs, das zur Bewusstwerdung frühkindlicher Konflikte geführt hat, Sprachfähigkeit und Eigenverantwortung ermöglicht hat. Demgegenüber sieht Josuttis mehr in dem Seelsorgegeschehen Blumhardts. Josuttis interpretiert es von der Perspektive der Energetischen Seelsorge her, die ernst nimmt, dass das Evangelium eine Gotteskraft ist (Röm 1,16), also weder Lehre, Kerygma noch Emotion, sondern Macht. Der Erfolg Blumhardts liegt für ihn an seiner Arbeit mit Ritualen, Formeln und Handauflegung. In der Gottliebin Dittus stoßen zwei Kraftfelder endgültig aufeinander. Nachdem der Seelsorger völlig entleert ist und aus sich heraus nichts mehr zu tun weiß, muss er auf die Macht des Göttlichen bauen, was den Durchbruch bringt.

"Energetisch ist eine Seelsorge dann, wenn sie destruktive Machtfeldern die Geistesgegenwart des Heiligen entgegenzusetzen vermag."[6]

Im Abschnitt IV. des Kapitels "Zur Phänomenologie" stellt Josuttis seine phänomenologische Anthropologie vor, die den Mensch als ein spannungsgeladenes Machtfeld versteht und auf cartesianische Vorstellungen eines mündigen oder autonomen Menschen verzichtet. Phänomenologie begreift Josuttis in expliziter Abgrenzung zu dogmatischen und psychologischen Ansätzen: Die Dogmatik gründet die Existenz der Gottheit auf offenbarte Texte, die Psychologie bestreitet sie mit Verweis auf die Projektionshypothese. Die Phänomenologie hingegen rechnet damit,

"dass sich in den Wirkungen affektiver Betroffenheit eine eigenständige Wirklichkeit manifestiert."[7]

Josuttis will dabei das Postulat relativieren, dass vorpsychologisches Handlungsrepertoire zu überwinden sei. Seelsorge handelt für Josuttis mit der Macht des Heiligen, die er als atmosphärische Größe im weiteren Verlauf des Buches näher bestimmt.

Zu den göttlichen Energien Bearbeiten

Im Menschen als spannungsgeladenem Machtfeld operieren energetische Potenzen gegeneinander. Was man früher oder in anderen Kulturen als mana (Macht) oder baraka (Segenskraft) bezeichnet, bringt Josuttis im Begriff der Vitalkraft zusammen, die sich durch heilige Räume, Zeiten, Riten und Personen konzentriert vermittelt. Die Wissenschaften können die in der Ethnologie und Phänomenologie gesammelten Erfahrungen mit der Vitalkraft weder generell bestreiten noch genau fassen, weil die Vitalkraft sich nicht mit den Mitteln der modernen Wissenschaften verifizieren lässt. Josuttis rezipiert die Bioenergetik Lowens und die feröstlich-esoterische Chakrenlehre. Die Macht der Vitalkraft wirkt heilsam, weil sie im Körper Energieströme auslöst.[8]

Heiligung geschehe durch den machvollen Einfluss des Heiligen. Ein biblisches Beispiel hierfür sei Mk 5,30, wo Jesus wahrnehme, dass seine energetische Ladung angezapft werde. Lebenskraft werde aber nicht nur im Christentum vermittelt, sondern auch in anderen Religionen und Kulturen. Josuttis grenzt Seelsorge, die in die Heiligung führt, von psychotherapeutischer Poimenik ab, weil energetische Seelsorge nicht nur mit innerpsychischen Faktoren rechnet, sondern auch mit externen Konstellationen. Die heiligende Seelsorge im frühen Mönchtum durch Einsatz heiliger Worte beschreibt Josuttis wie folgt:

"Auf dem Machtfeld der Person tobte ein Kampf zwischen den negativen, zerstörerischen Mächten des Bösen und der Heilsmacht Gottes."[9]

Josuttis geht davon aus, dass auch heute in der Gemeinde der Heiligen, die vom göttlichen Geist bestimmt ist und in der göttliche Energien wirken, Segenskräfte auf allen Ebenen fließen werden.

Literatur Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Josuttis: Segenskräfte. S. Zur Psychologie. Abschnitt II.
  2. Josuttis: Segenskräfte. S. Zur Psychologie III.
  3. Josuttis: Segenskräfte. 2000, S. Zur Psychologie. Abschnitt IV. S. 28.
  4. Josuttis: Segenskräfte. S. 31–36.
  5. Josuttis: Segenskräfte. 2000, S. 39.
  6. Josuttis: Segenskräfte. 2000, S. 43.
  7. Josuttis: Segenskräfte. 2000, S. 45.
  8. Josuttis: Segenskräfte. S. Zu den göttlichen Energien. Abschnitt II.
  9. Josuttis: Segenskräfte. S. Zu den göttlichen Energien. Abschnitt III.