Existenzial bezeichnet eine Wirklichkeit, die das zeitliche Wesen des Menschen bestimmt.

Das Menschsein wird gebildet von Wirklichkeiten, in denen der Mensch "so sehr wurzelt, dass er sich von ihnen nicht trennen kann, ohne zu verkümmern oder zugrunde zu gehen, ähnlich wie ein Baum verkümmert oder eingeht, wenn man seine Wurzeln schädigt oder die Verbindung zwischen Wurzel und Stamm (partiell oder total) unterbricht." (Lay, Manipulation durch die Sprache, 54) Diese Wurzeln des Menschseins, diese Urgründe (archai) des Menschen sind z. B. Individualität, Sozialität, Weltlichkeit, Geschichtlichkeit und Grenzhaftigkeit. „In ihnen wurzelt Person wie ein Baum in seinem Grund und Boden. Analog spreche ich vom Grund von Person." (Lay, Krisen und Konflikte, 26) Diese Gründe von Person sind die Gründe der Existenz des Menschen, des „Seins“ des Menschen. Eine Lehre über diese Seins-Gründe des Menschen nennt Martin Heidegger „Existential-Analytik“ bzw. „Fundemantalontologie“. Diese Archai (Wurzelgründe) des Menschseins nannte Heidegger „Existenziale“, weil sie nicht über das überzeitliche und unvergängliche Wesen des Menschen sprechen, sondern über jene Grund-Wirklichkeiten, die das Leben des Menschen fundamental bestimmen.

Philosophiegeschichtliches zu den Existenzialien

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"Existenziale: Seins-Charaktere des Menschsein (Grundbegriff der Existentialphilosophie Heigggers)." [1] Die Existenzphilosophie fragt nach der "'Existenz', d. h. das 'Sein' des Menschen, das sich hinter seiner erfahrbaren 'Erscheinung' verbirgt."[2] Es soll dabei die "Tiefendimension des menschlichen Seins, also das Wesentliche am Menschen" (ebd.) erhellt und "den Sinn und die tiefere Bedeutung des Menschseins" (ebd.) erschlossen werden. "Die 'Erhellung' der Existenz (Jaspers) wird möglich durch eine Analyse der Situation des menschlichen Daseins [...] Vor allem die [...] existenzbedrohenden und -zerstörenden Mächte, die 'Grenzsitutaionen' des Daseins fesseln die Aufmerksamkeit der Existentialisten: die Ohnmacht der Vernunft, die sinnlose Zerstörung, das Böse in der Welt, Schmerz und Leid, Verzweiflung, Kampf und Tod." (AaO, 77) Existenz (Dasein) wird von Heidegger verstanden als "In-der-Welt-Sein, [...] Ergreifen der eigenen Möglichkeiten, Sich-vorweg-Sein, Sorge, Angst, Sein zum Tode, Hineingehaltensein in das Nichts, kurz: Zeitlichkeit."[3]

Zu einzelnen Existenzialien

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Individualität

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Individualität bezeichnet die Wirklichkeit, dass Menschen einmalig und unteilbar sind und trotz allen Wandels mit sich identisch bleiben.
Das Wissen des Menschen um seine Individualität [dass er einmalig ist, unteilbar (in wesentlichen Elementen nicht weiter rückführbar) und in Veränderung mit sich identisch ist] wird von der Gen-Identität, der Erinnerung und vom begriffliches Selbstbewusstsein (Ichbewusstsein) her gebildet:

  • Die psychische Identität wird durch unsere Erinnerungen begründet und durch unsere reflexive Bewusstseinsstruktur, unser begriffliches Selbstbewusstsein: Wir haben nicht nur ein Bewusstsein, sondern können uns das, was wir empfinden und wahrnehmen, nochmals begrifflich gegenüberstellen, verobjektivieren. Das begriffliche Selbstbewusstsein ist es, das uns "erlaubt, dass wir (uns) als in Zeit durchhaltendes Aktzentrum verstehen, das in allem Wandel 'irgendwie' mit (uns) selbst identisch bleibt." (Lay, Krisen und Konflikte, 33)
  • Und wir fühlen uns als identisch, obgleich wir uns total wandelten, weil wir Erinnerungen an unser früheres, anderes Leben haben. Nicht wir selbst bleiben identisch, sondern unsere reflexive Bewusstseinsstruktur.

Gesellschaftlichkeit (Sozialität)

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Gesellschaftlichkeit bezeichnet die Wirklichkeit, dass Menschen auf soziale Bezüge unbedingt angewiesen sind und ohne sie nicht leben können.

Gesellschaftlichkeit ereignet sich in der Begegnung mit anderen Menschen, in der Ausübung von Rollen und in der Teilnahme an institutionellem Handeln. "Unser Leben ist eingebettet in soziale Systeme. Unser Schicksal erfüllt sich nicht selten im ihren. Über unsere Sozialität nehmen wir am Leben sozialer Systeme teil... Solche Systeme sind: der Staat, in dem wir leben; die Partei, der wir nahestehen; der Betrieb (oder das Unternehmen), in dem wir arbeiten; die Familie, die uns birgt und schützt. Deren Schicksal ist oft auch unseres. Wie sie ihre Funktionen erfüllen, so bestimmen sie weitgehend unser Leben – meist mehr als wir selbst es können." (Lay, Ethik für Wirtschaft und Politik, 148)

Weltlichkeit

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Weltlichkeit bezeichnet die Wirklichkeit, dass Menschen vom Kosmos, von der Natur, der Technik, der Wirtschaft... abhängig sind. Solche Abhängigkeiten erfährt man z.B. in Naturkatastrophen, Krankheiten, überraschenden lebensentfaltenden Entwicklungen.

Menschsein bedeutet ein In-der-Welt-Sein: eine dauerndes, nicht aufhebbares Angewiesensein und Abhängigsein von der Welt im Glück und im Unglück. Von dieser Abhängigkeit von Welt versuchen sich die Menschen seit ein paar Jahrhunderten zu emanzipieren, indem sie eine technische Welt erschaffen: eine Welt, die durch Technik beherrschbar, nutzbar und ausbeutbar gemacht wird und menschengerechter gemacht wird: durch Technik soll der Welt ihr Schrecken genommen werden, indem die Medizin die Krankheiten besiegt, die Chemie für gute Ernten sorgt und Staudämme und Flussbettbegradigungen Flutkatastrophen abschaffen. Aber die Technik ist erstens ambivalent: sie bringt Segen und gleichzeitig neuen Fluch über die Menschheit, wie die Medizintechnik klar zeigt: viele Krankheiten wurden erfolgreich bekämpft, wodurch die Sterblichkeit der Menschen so gemindert wurde, dass heute eine Überbevölkerung droht mit allen katastrophalen Folgen: Umweltverschmutzung, Regenwaldvernichtung, Kriege ... Zweitens scheint die Technik selbst aber wie die Natur unbeherrschbar zu sein: Atomkraftwerke haben wie alle Maschinen ein Restrisiko, sie können jederzeit durchbrennen und Erdteile atomar vergiften. Und durch versagende und defekte Maschinen kommen nicht wenige Menschen um. Die durch die Technik hervorgerufenen Umweltprobleme scheinen kaum beherrschbar. Artensterben, Waldsterben, Klimakatastrophe, Ozonloch, Wasserverschmutzung ... sind hierfür die bekannten Schlagworte. Die Hoffnung auf eine durch Technik dem Menschen versöhnte Welt zu schaffen, ist uns seit den 70-er Jahren gründlich abhanden gekommen. Wir wissen heute, dass wir uns von den Leiden, die die Welt einfach mit sich bringt, wenn wir in ihr leben wollen, niemals werden emanzipieren können. Leben ist nur möglich unter manchen leidhaften, und lebensbedrohlichen Abhängigkeiten. "In zahlreichen Abhängigkeiten (Ernte, Krankheit, Naturkatastrophen, Tod) erfahren wir Menschen uns nicht als Herrn, sondern als Sklaven der Natur, ihren Launen, Unberechenbarkeiten, ihrer Willkür nahezu hilf- und rechtlos ausgeliefert." (Lay, Krisen 50)

Geschichtlichkeit (Zeitlichkeit)

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Zeitlichkeit bezeichnet die Wirklichkeit, dass alles geworden ist, sich wandelt und vergeht.

Das Existenzial Zeitlichkeit bedeutet zweierlei für das Menschsein, nämlich

  1. dass nichts so bleibt, wie es ist, und dass alles im Zerfall und im Nicht-mehr-Sein endet,
  2. und dass der Mensch sich fragen muss und danach handeln muss, wie seine Zukunft aussehen soll und die der Gesellschaft. Das sei näher erläutert.
  • Alles, was wir kennen, ist geworden. Alles, was geworden ist, vergeht und endet – auch alles Erreichte, Schöne und Gute.
  • Menschen sind sterbliche Wesen, der Tod ist eine Wirklichkeit, auf die der Mensch eine sinngebende Antwort finden muss.
  • Alles, was geworden ist, ist nicht vollkommen, es verändert und entwickelt sich. Manchmal geht es dabei Umwege, gerät gar evolutiv hinein in tödliche Sackgassen und verschwindet wie die Saurier von der Bildfläche der Natur.
  • Nicht alles in der Geschichte ist also sinnhaft (lebensentfaltend). Vieles in der Geschichte ist auch sinnlos (ohne erkennbaren Sinn).
  • Menschliche Geschichtlichkeit besteht nun nicht nur aus dem Vergangenen, sondern es besteht auch aus der Zukünftigkeit. Zukünftigkeit meint jenen Wesenszug des Menschen, dass er sich unabweisbar darin aufgegeben ist, wer er sein will und nach welchen Zielen er streben möchte. Wer sich diesbezüglich nicht entscheidet, trifft auch eine Entscheidung: nämlich zu leben wie ein Tier, das sein Leben aus dem Unbewussten bzw. Instinktiven und dem Zufall bezieht (wie es sich gerade ergibt).
  • Menschlich scheint nur das bewusste, auf Zukunft hin planende Handeln zu sein. "Der Mensch auf der Suche nach sich selbst, seinem Ziel, der 'homo viator' scheint mir... der Mensch schlechthin zu sein. Menschsein bedeutet, immer auf dem Weg zu sein. Und menschlich scheint der Weg nur, wenn er hinführt zu Zielen. Selbstgesetzten sehr wohl – aber Ziele allemal. Alles andere Gehen wäre Schlafwandeln." (Lay, Krisen, 65)

Grenzhaftigkeit

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Grenzhaftigkeit bezeichnet die Wirklichkeit, dass Menschen vor unüberwindliche Grenzen gestellt sind, mit denen sie leben müssen. Diese unhintergehbaren existentiellen Grenzen machen auch die wesentliche Unversöhntheit des Menschen aus.

"Wohin wir unser Leben richten, es stellt uns vor Grenzen." (Lay Krisen, 76) Und das so sehr, dass das Vor-Grenzen-Gestelltsein zu einem eigenen Existential wird. Hierbei gibt zwei Sorten von Grenzen: transzendierbare Grenzen und untranszendierbare.

Überschreitbare Grenzen

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Um ihr Menschsein zu verwirklichen, müssen Menschen gelegentlich Grenzen überwinden bzw. weiten: zu eng gewordene familiäre Grenzen, Grenzen zwischen arm und reich, Systemgrenzen, Wissensgrenzen ... Für das Glücken des Lebens ist es erforderlich, "dass ein Mensch gelegentlich seine Fähigkeit probt, bisherige Selbstverständlichkeiten außer Kraft zu setzen, doch werden es mit zunehmendem Alter immer weniger. Erst wenn die Zahl gleich Null geworden ist, ist ein Mensch wirklich alt. Er lebt dann sein Leben nur noch zu Ende." (Lay, Krisen, 96) Das zunehmende Alter setzt Grenzen, die nicht mehr sinngewinnend zu übersteigen sind. Und für das Glücken des Lebens ist es überaus wichtig, "die unüberwindlichen Grenzen in Bescheidenheit zu akzeptieren, die überwindlichen aber gelegentlich zu überwinden". (Ebd)

Unüberschreitbare Grenzen

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Unüberwindlich sind jene Grenzen, die unser Menschsein konstituieren, die uns geradezu als Menschen ausmachen. Zum Beispiel dass wir nicht nur Individualwesen sind, sondern u.a. auch Sozialwesen und Geschichtswesen. Wir können gar nicht anders leben als in Sozialstrukturen und in Geschichtlichkeit (Veränderlichkeit) – nicht anders leben als in den damit verbundenen Grenzen. Wir können als Sozialwesen unser konkretes Soziale transzendieren, indem wir uns z.B. andere Lebenspartner suchen, aber das allgemeine Soziale können wir nicht transzendieren, z.B. dass wir Bindungen eingehen müssen, um uns selbstzuverwirklichen, das können wir nicht transzendieren, ohne Schaden zu nehmen. "Ein Übersehen oder ein vermeintliches Überschreiten unüberschreitbarer Grenzen können für die Persongründung von erheblichem Schaden sein – Schäden, die oft kaum mehr reversibel sind und hochpathogene Situationen heraufbeschwören" (Lay, Krisen, 92). Einige dieser unüberschreitbaren Grenzen seien ausschnitthaft aufgezählt. (Die Beispiele stammen größtenteils aus dem Buch von R. Lay, Krisen, 27-104)

Grenzen der Individualität:

  • Grenzen des Intellekts, von Begabungen, Aussehen, Ausstrahlung, Ich-Stärke, moralischer Kraft (Tugenden),
  • Grenzen unserer psychischen Identität: Niemals können wir ganz wir selbst sein, ganz mit uns identisch sein, weil erstens das Unbewusste unser Handeln und Empfinden sehr stark bestimmt, dieses aber zum großen Teil nicht bewusst gemacht werden kann aus rein zeitlichen, entwicklungsabhängigen und kognitiven Grenzen, da es zu groß und zu komplex ist. Zweitens ändert sich das Sozial-Außen ständig, weil die Welt evolutioniert, und das zwingt uns, dass wir uns mit ändern und wir nicht bleiben können, der wir bislang sind.

Grenzen der Sozialität

  • Verstehensgrenzen und Mitteilbarkeitsgrenzen: Im Letzten sind wir einsam und allein, weil andere uns nicht mehr oder nur noch partiell verstehen können wegen ihrer andersgearteten psychischen Individualität.
  • Grenzen der Unterstützung und Hilfestellung: Wir können nicht immer Wege bei anderen suchen oder mit anderen in einer Gruppe oder Gemeinschaft uns finden; irgendwann müssen wir Wege ganz alleine gehen, da wir so weit individualisiert sind, dass uns keiner mehr in etwas gleicht oder weil wir einigermaßen neue Wege beschreiten.
  • Grenzen aus den Systemvorgaben der sozialen Systeme, in denen wir leben: begrenzte Mitbestimmungsmöglichkeiten; kaum beherrschbare institutionenelle Vorgänge, die die individuelle Entfaltung behindern.
  • Grenzen aus sozialen Bindungen, die wir eingegangen sind und durchhalten müssen, obschon sie als lästig empfunden werden, etwa weil zusammengearbeitet werden muss, moralische Verpflichtungen bestehen, man eine Sache zu Ende bringen muss.
  • Grenzen des sozialen Wirkvermögens, bedingt durch Verträge, Tradition, Klugheit,
  • es gibt sinnlose soziale und politische Konstellationen im Leben, unter denen Menschen ihr Leben gestalten müssen.

Grenzen der Welthaftigkeit

  • Naturkatastrophen, Ernteabhängigkeit vom Wetter,
  • begrenzte Ressourcen (Geld, Energie, Lebensmittel),
  • ökologische Grenzen.

Grenzen der Geschichtlichkeit

  • Vertane Lebenschancen; Entwicklungsmöglichkeiten, die passe sind; praktisch irreversible Lebenswegentscheidungen (point of no return), deren Änderung mehr Nachteile brächten als Vorteile.

Quellenangaben

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  1. Austeda, Wörterbuch der Philosophie, 76
  2. Austeda, Wörterbuch der Philosophie, 76
  3. Hirschberger, Geschichte der Philosophie. II. Teil, 642

Literatur

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  • Franz Austeda, Existentiale, in : Franz Austeda, Wörterbuch der Philosophie, Humboldt-Taschenbuchverlag, Berlin 2. Aufl.
  • Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie. Neuzeit und Gegenwart, Herder 9. Auflage 1976, ISBN 3-451-13284-2
  • Rupert Lay, Manipulation durch die Sprache, Rowohlt 1980
  • Rupert Lay, Krisen und Konflikte. Ursachen, Ablauf, Überwindung, Heyne 1981
  • Rupert Lay, Ethik für Wirtschaft und Politik, Wirtschaftsverlag Langen-Müller/Herbig 1983