Benutzer:Spurzem/Schöne, inhaltsschwere Wörter

Alljährlich wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort des Jahres. 2022 war es die „Zeitenwende“ und 2021 der „Wellenbrecher“, und zwar als Bezeichnung der vierten Maßnahme gegen die Corona-Pandemie. Von meinem Gefühl her müsste „nachhaltig“ oder „Nachhaltigkeit“ diesen Titel längst errungen haben; denn kaum ein anderes Wort dürfte ähnlich beliebt sein und ähnlich oft genutzt werden. Oder wird es vielleicht auch missbraucht oder überstrapaziert, dass es seinerzeit sogar als Unwort des Jahres vorgeschlagen war, wie die Frankfurter Allgemeine Anfang 2012 meldete?

Es gibt fast nichts mehr, das nicht „nachhaltig“ ist. Der Strom, den wir verbrauchen, ist nachhaltig, die Kartoffeln, die wir essen, sind es, Verpackungen von Lebensmitteln ebenso, egal, ob aus Pappe, aus der später nachhaltiges Toilettenpapier hergestellt wird, oder aus Kunststoff, der recycelt und möglicherweise als Material bei der Herstellung nachhaltiger Parkbänke gebraucht werden kann. Die Koblenzer Rhein-Zeitung schrieb im September 2022, dass ein Torben Skov berichtete, wie Perlen nachhaltig gezüchtet werden können. Auch in der Automobilindustrie ist vieles, wenn nicht gar alles nachhaltig. In der Werbung für ein Luxuscabriolet war zu erfahren, dass für das Interieur sowohl edle Hölzer und verschiedene Ledersorten ebenso zur Verfügung stehen als auch „nachhaltigere Materialien wie Naturwolle und Moorhölzer“. Die Beispiele könnten fast bis ins Unendliche fortgesetzt werden.

Ein Wort, das an Beliebtheit zu gewinnen scheint, ist „fungieren“. Mittlerweile gibt es fast nichts mehr, das nicht fungiert, seien es Personen oder Gegenstände. Josef W. zum Beispiel war nicht Bürgermeister von Steyr, sondern fungierte als solcher. Auf Johannes Sebulkes Reise nach Jerusalem fungierte die Bibel als Reisebegleiter, wie die Badische Zeitung berichtete, und laut Wikipedia fungiert Hocharabisch als Amtssprache in Tunesien. Irgendwie fängt das Wort mir zu gefallen an. Inzwischen fungiert die Tasse für mich als Trinkgefäß, wenn ich meinen nachhaltig zubereiteten Kaffee aus biologischem Anbau zu mir nehme.

In dem Zusammenhang beziehungsweise in diesem Kontext denke ich an „bio“. Was ist heute nicht „bio“ oder „biologisch“? Selbstverständlich essen wir Bio-Fleisch, Bio-Eier, Bio-Obst, tragen Unterwäsche, Oberhemden und Anzüge aus Bio-Fasern und fragen nicht, was sich hinter dem werbewirksamen Attribut oder dem Bestimmungswort verbirgt. Kurz noch zum „Zusammenhang“. Dieses Wort gebrauche ich nach wie vor, obwohl mich kürzlich ein Jüngerer fragend anschaute und mich aufklärte, dass der halbwegs gebildete Mensch heute doch nur noch „Kontext“ sage.

Lothar Spurzem