Benutzer:Phrontis/Wortherkunft aus dem Altgriechischen

Während es im Lateinischen für einen der Sprache Unkundigen in vielen (wenn auch nicht allen)[Anmerkung 1] Fällen durchaus möglich ist, allein anhand eines Wörterbuchs eine Etymologie zu erschließen, ist dies im Altgriechischen ungleich schwerer. Das Problem liegt weniger im Erlernen des Alphabets (dies ist innerhalb eines Tages möglich) als vielmehr in folgendem (Aufzählung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit):

  1. Verben sind im Wörterbuch (wie auch im Lateinischen üblich)[Anmerkung 2] nicht im Infinitiv, sondern in der 1. Person Singular Indikativ Präsens Aktiv aufgeführt. Bei der Suche nach der Etymologie von Myopie (Kurzsichtigkeit) beispielsweise findet man im Wörterbuch μύω mýō (und nicht den Infinitiv μυεῖν myein). Um die Leser nicht unnötig zu verwirren, empfehle ich jedoch auf Wikipedia die Angabe des Infinitivs.
  2. Der Wortstamm ist bei Substantiven im Nominativ oft nicht erkennbar (z.B. ist bei γυνή gynē ‚Frau‘ der Stamm γυναικ- gynaik- erst im Genetiv γυναικός gynaikós sichtbar).
  3. Es gibt zwar im Griechischen einen Hauchlaut; allerdings existiert dieser nicht wie im Deutschen als Buchstabe H, sondern wird als Akzent (spiritus asper) dem entsprechenden Anfangsvokal beigefügt (bei Diphtongen befindet sich der Akzent auf dem 2. Vokal). Beginnt das Wort mit einem nicht gehauchten Vokal, kommt der spiritus lenis zum Einsatz. Beispiele: ἰατρός iatrós (ohne Hauchlaut) ‚Arzt‘, aber ἱερός hierós ‚heilig‘ (vgl. Hieroglyphen; ιε ist im Griechischen kein Diphtong,[Anmerkung 3] sondern wird getrennt gesprochen, also hi-eros).
  4. Die Vokalkombinationen αι ai bzw. οι oi werden im Deutschen normalerweise mit ä bzw. ö ersetzt wie in Gynäkologe bzw. Homöopath (von ὁμοῖος homoios ‚ähnlich‘).
  5. Der u-Laut wird durch den Diphtong ου oy dargestellt. Die Transkription erfolgt jedoch üblicherweise nicht als oy, sondern als ou.
  6. Der K-Laut wird im Deutschen oft zu Z, wie z. B. bei Zynismus (von κυνισμός kynismós ‚kynische Philosophie‘) oder Zyste (von κύστις kýstis ‚Harnblase‘).
  7. γγ wird wie ng gesprochen, z. B. ἄγγελος ággelos [gesprochen ángelos] ‚Engel‘ (ein Lehnwort aus dem Altgriechischen).
  8. Es gibt im Altgriechischen in der Bedeutung sehr fein abgestufte Wörter, z. B. für „lieben“: φιλέω philéō ‚lieben, lieb haben, liebreich aufnehmen‘; ἀγαπάω agapáō ‚liebevoll aufnehmen, lieben, schätzen‘; ἐράω eráō ‚heftig verlangen, begehren, lieben‘ (vgl. „erotisch“); στέργω stérgō ‚lieben, mit etwas zufrieden sein, sich begnügen‘. Und das sind bestimmt noch nicht alle Verben in diesem Kontext.
  9. Umgekehrt gibt es „Allerweltswörter“ wie λόγος lógos ‚Sprechen, mündliche Mitteilung, Wort, Rede, Erzählung, Nachricht, Gerücht, (grammatikalischer) Satz, Ausspruch Gottes (NT), Befehl (NT), Weissagung (NT), Lehre (NT), Erlaubnis zum Reden, Beredsamkeit, aufgestellter Satz, Behauptung, Lehrsatz, Definition, Begriffsbestimmung, wovon die Rede ist, Sache, Gegenstand, das Berechnen, Rechenschaft, Rechnung, Rücksicht, Wertschätzung, Verhältnis, Vernunft‘. Es gibt sogar Wörter, die gleichzeitig eine Sache und das diametrale Gegenteil bedeuten wie φάρμακον phármakon mit den Bedeutungen ‚schädliches Mittel, Gift‘ und ‚Heilmittel‘ (man hatte wohl schon früh die sogenannten „Gegengifte“ entdeckt).
  10. Auch die Präpositionen haben meist einen enormen (im Deutschen, Englischen oder Französischen so nicht vorhandenen) Bedeutungsumfang, der in Wörtbüchern i. d. R. auf mehreren (!) Seiten erklärt werden muss (bei ἐπί epí mehr als fünf Seiten). Erschwerend kommt hinzu, dass Präpositionen vielfach mehrere Kasus regieren können und dann verschiedene Bedeutungen haben.
  11. Die meisten heute geläufigen Fachbegriffe gab es im Altgriechischen ja noch nicht. Daher war die Wortbildung dem Sprachgefühl ihrer Schöpfer überlassen. Dies führt zu zahlreichen „Ungereimtheiten“. So gab es in der Antike bereits den Arzt (ἰατρός iatrós), und auch das Wort „Seele“ (ψυχή psychē) war bekannt; daher ist die Wortbildung Psychiater für Seelenarzt vollkommen logisch. Der Frauenarzt müßte dann eigentlich Gynäkiater heißen; allerdings entschied man sich hier (ohne den Bestandteil „Arzt“) für die Konstruktion Gynäkologe – vielleicht, weil es besser „klingt“.

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Bei der Erklärung des Wortes factotum ist es z. B. erforderlich, den Imperativ fac von facere zu kennen, der in einem üblichen Wörterbuch wie dem Langenscheidt nicht aufgeführt ist.
  2. Aktuell scheint sich hier ein Paradigmenwechsel zu vollziehen: Verwendet etwa Langenscheidt: Großes Schulwörterbuch Lateinisch–Deutsch in der Auflage von 2008 noch die klassische Notation, so findet sich sowohl in Langenscheidt: Schulwörterbuch Pro Latein (2014) als auch in Pons: Praxiswörterbuch Latein (2015) bereits die von anderen Sprachen her vertraute Angabe der Verben im Infinitiv.
  3. Sonst stünde der spiritus asper auf dem Epsilon statt auf dem Iota!