Ein Heterogramm (von griechisch ἕτερος „anders, von anderer Art“, und γράμμα „Buchstabe, Schriftzeichen, Inschrift“) im Verständnis der Sprachwissenschaft und Orientalistik ist eine Schreibung eines Wortes, die in eine andere Sprache entlehnt wird, normalerweise in Verbindung mit der Übernahme einer fremden Schrift, und dort dann als Wortzeichen (Logogramm) für die Schreibung eines anderslautenden, aber bedeutungsgleichen oder bedeutungsähnlichen Wortes dieser Zielsprache verwendet wird.

Eteophon, Eteogramm Bearbeiten

Das zielsprachliche Wort in derjenigen Lautung, in der es abweichend von der heterograph maskierenden Schreibung tatsächlich gelesen werden muß, wird manchmal Eteophon genannt (von ἐτεος „wahr, wirklich“), in unmaskierter Schreibung heißt es Eteogramm.

Transliteration und Transkription Bearbeiten

Heterogramme werden in der wissenschaftlichen Literatur bei der Transliteration durch Verwendung von Großbuchstaben oder Kapitälchen hervorgehoben, in der phonetischen Transkription wird das zugrundegelegte Eteophon dagegen meist nicht besonders markiert.

Schrifttypologische Einordnung Bearbeiten

Die Entstehung eines Heterogramms ist nicht an eine bestimmten, durch den Bezug zur Lautung oder Bedeutung definierten Funktionstyp der Schreibung in der Herkunftsschrift und –sprache gebunden, das heißt es kann sich dort um eine logographische, silbenschriftliche, alphabetische oder auch gemischte Schreibweise handeln. Durch seine neue Funktionsweise in der Zielschrift als Heteogramm wird es dort jedoch stets zu einem Logogramm, das heißt zu einem ganzheitlich zu lesenden Wortzeichen, dem ein Wort (das Eteophon) in Laut und Bedeutung fest zugeordnet ist, ohne daß die Schreibung aber in der Zeichenform oder bei mehrteiliger Fügung in ihrer Zusammensetzung in einer Beziehung zur Lautgestalt dieses Wortes steht.

Diese Verwendungsweise schließt im übrigen nicht aus, daß das Heterogramm häufig auch noch in Kombination mit weiteren Zeichen oder Zeichenkomplementen erscheint, um ein Kompositum oder eine flektierte oder agglutinierte Form des Eteophons zu schreiben oder die Schreibung mit einem Determinativ zu verbinden, so daß die Gesamtschreibung des Wortes nicht notwendig durchgängig logographischen Charakter haben muß. Das Heterogramm ist dann eine logographische Teilkomponente des schriftlichen Gesamtausdrucks.

Solche logographische Verwendung schließt außerdem nicht aus, daß eine in der Zielschrift als Heterogramm adaptierte Schreibung dort auch noch in weiteren Funktionsweisen erscheinen kann (syllabographisch, alphabetisch, determinativ), die dann nicht unter den Begriff des Heterogramms fallen.

Beispiele Bearbeiten

Ein populäres Beispiel[1] ist das keilschriftliche Wortzeichen   für sumerisch kur „Bergland“.[2] Nach der Übernahme für das Akkadischen wurde das Zeichen dort als Heterogramm unter anderem für die Wörter mātu „Land“ und šadû „Berg“ verwendet und in diesen Bedeutungen auch als ausspracheloses oder akkadisch mitzusprechendes (und dann heterographes) Determinativ Ländernamen und Bergnamen vorangestellt. Außerdem wurde es als (nicht-heterographes) Silbenzeichen mit mehreren verschiedenen Lautwerten verwendet, die zum Teil aus der ursprünglichen sumerischen Lautung oder auch aus neu zugeordneten akkadischen Eteophonen abgeleitet werden könnnen (kur, qúr, gur, mad/t/ṭ, nad/t, lad/t/ṭ, šad/t/ṭ, sad/t, gìn, kìn), so z.B. in der Schreibung von Wörtern wie kurru „Mehlbrei“ oder kurkû „Gans“.

Vergleichbar,[3] wenn auch nicht in Verbindung mit einer (rezenten) Schriftentlehnung stehend, ist die Verwendungsweise lateinischer Abkürzungen in modernen Sprachen, wenn solche Abkürzungen dort in der Schreibung übernommen, aber in der Lesung nicht mehr lateinisch, sondern durch ein zielsprachliches Bedeutungsäquivalent aufgelöst werden:

  • & (lat. „et“), deutsch gelesen „und“
  • &c. oder etc. (lat. „et cetera“), deutsch gelesen „und so weiter“
  • i.e. (lat. „id est“), englisch gelesen „that is“ (deutsch „das heißt“)
  • e.g. (lat. „exempli gratia“), englisch gelesen „for example“, „for instance“ (deutsch „zum Beispiel“), oder reinterpretiert „example given“
  • lb. (lat. „libra“), englisch gelesen „pound“ (deutsch „Pfund“)

Vorkommen Bearbeiten

Heterogramme haben eine wichtige Rolle gespielt bei der Übernahme der sumerischen Schrift für das Akkadische und weitere semitische Sprachen, außerdem bei der Übernahme der aramäischen Schrift für Iranische Sprachen oder bei der griechischen Schreibung des Baktrischen.

Andere Bezeichnungen und Bedeutungen Bearbeiten

Heterogramme können nach ihrer Herkunft begrifflich auch noch weiter differenziert werden als Sumerogramm, Akkadogramm, Aramäogramm usw. Alternative Bezeichnungen in der Fachliteratur sind:

  • Allogramm (von griechisch ἄλλος „anders beschaffen, verschieden“), sonst gewöhnlich in Anlehnung an die Unterscheidung von Phonem und Allophon in der Bedeutung „Realisierungsvariante eines Graphems“ gebraucht.
  • Xenogramm, Xenographie (von griechisch ξένος „Fremder, fremd“).[4] Xenographie war im Sprachverständnis des 19. Jahrhunderts auch die Schriftkunde fremder Sprachen[5] und wird auch heute noch zuweilen als Gattungsbezeichnung für das Schreiben über Völker und Kulturen unter dem Gesichtspunkt ihrer Fremdheit gebraucht.[6]

Auch der Terminus Heterogramm kann sich in anderer Bedeutung auf literarische Techniken des Buchstabenspiels oder der Kalligraphie beziehen (siehe Heterogramm), und in der Sprachwissenschaft werden zumindest Heterographie, heterograph(isch) noch in anderen Bedeutungen gebraucht:

  • als Gegenbegriffe zu Orthographie, orthographisch mit Bezug auf Schreibung, die abweicht von einer orthographischen Norm
  • als komplementäre Begriffe zu Homographie, homograph(isch) mit Bezug auf die Verschiedenschreibung von Homophonen oder homophonen Lauteinheiten.

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Vgl. Christa Dürscheid, Einführung in die Schriftlinguistik, 2., überarb. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004 (= Studienbücher zur Linguistik, 8), S. 122
  2. Alle Angaben hierzu nach Rykle Borger, Mesopotamisches Zeichenlexikon, Münster: Ugarit-Verlag, S. 372ff., Nr. 578
  3. Vgl. Maurice Pope, The story of archaeological decipherment: from Egyptian hieroglyphs to Linear B, New York: Scribner, 1975, S. 204
  4. Pope, a.a.O., befürwortet xenogram und kritisiert heterogram als „clumsy, obscure to most people, and etymologiccally incorrect“
  5. Heinrich August Pierer, Universal-Lexikon oder vollständiges encyklopädisches Wörterbuch, Band 26, Altenburg: Verlagsbuchhandlung von H. A. Pierer, 1836, S. 399b
  6. Z.B. Hans Grünberger, Wir und die Anderen oder: Barbaren unter sich. Zur Xenographie im deutschen Humanismus des späten 15. und 16. Jahrhunderts, in: Brigitte Felderer / Thomas Macho (Hrsg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München: Fink, 2002, S. 40-69