Das Fantastisch-Fiktive als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung und literarisches Stilmittel

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„Wenn man sich dem Bereich der phantastischen Literatur nähert, gerät man leicht in eine gewisse Definitionsnot. Schwierigkeiten bei der definitorischen Bestimmung treten vor allem deshalb auf, weil offen ist, ob es sich bei dem Phantastischen bzw. der Phantastik um eine Gattung, einen Stil oder eine Struktur handelt.
Dazu kommt außerdem, dass die Texte der phantastischen Literatur –vor allem in der deutschen Diskussion- als trivial und unkünstlerisch bezeichnet wurden, auch wenn England, Frankreich und Amerika im Hinblick auf die Entwicklung des Phantastischen den deutschen Vorläufern –besonders der romantischen Epoche- einiges zu verdanken hat.
Erst in den 70er Jahren, angeregt durch eine Öffnung des Literaturbegriffs, durch ein stärkeres Publikumsinteresse an phantastischer Literatur und nicht zuletzt dank der Übersetzung der namhaften französischen Theoretiker Roger Caillois, Louis Vax und Tzvetan Todorov, setzte auch in Deutschland eine literaturwissenschaftliche Diskussion über das Phantastische ein.“ (Pohlmann, 2004)
In der Tat ist Deutschland hier ein Nachzügler. Das Vorurteil fantastisch=trivial traf in der Vergangenheit nämlich nicht nur z.B. die Pulp-Romane sondern tatsächlich mythologischen Stoff. So wurde Beowulf als geringfügiger eingeschätzt als andere Sagenstoffe, weil Beowulf nicht menschliche, sondern fantastische Gegner bezwingt: Grendel, Grendels Mutter und den Drachen, von dem er getötet wird. Schon 1936 allerdings zeigte J.R.R. Tolkien in seiner als Beowulf:The monsters and the critics veröffentlichten Sir Israel Gollancz memorial lecture –noch heute als Meilenstein der Beowulf-Forschung geachtet-, dass dies ein gezieltes und legitimes Stilelement ist, um auszudrücken, was anders nicht auszudrücken ist. Er konstruiert als Gegenbeispiel eine hypothetische Erzählung, und bemerkt dann: „It is just because the main foes in Beowulf are inhuman that the story is larger and more significant than this imaginary poem of a great king’s fall. It glimpses the cosmic and moves with the thought of all men concerning the fate of human life and efforts; it stands amid but above the petty wars of princes and surpasses the dates and limits of historical periods, however important.” Er vergleicht die Geschichte in ihrer Gesamtheit mit der Halle der Dänen am Anfang: „At the beginning, and during the process, and most of all at the end, we look down as if from a visionary height upon the house of man in the valley of the world. A light starts –liste se leoma ofer landa fela- and there is a sound of music; but the outer darkness and its hostile offspring lie ever in wait for the torches to fail and the voices to cease. Grendel is maddened by the sound of harps.” Durch die Verwendung übernatürlicher Gegner gibt der Autor dem Werk eine Allgemeingültigkeit, die keine menschlichen Gegner hätten erzielen können. Es gibt kein hätte, wenn und aber –Beowulf stirbt, weil er sterben muss.

Dies lässt sich gleichsam in die moderne Science Fiction übertragen: „According to Pope, …man who thinks beyond mankind is foolishly proud. Indeed, many aliens, in SF at least, seem created merely to prove Pope’s dictum. For they are monitory aliens, placed out there to draw us back to ourselves, to show us that ‘the proper study of Mankind is Man.’ But this is merely showing us a mirror. And many so-called alien contact stories are no more than that: mirrors.” (Slusser, Rabkin, 1987) Illustrierend liesse sich auch aus Botond-Bolics “Tausend Jahre auf der Venus” zitieren. Leider habe ich von den betreffenden Abschnitt nur eine englische Version: „We are human beings, Demeter, and we cannot figure out the world around us except through the eyes of the human being, through the brain of the human being. There has never been a writer, neither a major one nor a minor one, who could or dared write about beings from another world without human, earthly connections. … Whenever he has them thinking, and admits that they communicate their thoughts, he only reflects our words, our mentality.” (Zitat entnommen aus Slusser, Rabkin) Gerade das gilt natürlich auch für den Autor des Fantastischen. Aber die Möglichkeit, vorgeben zu können, er würde die Menschheit aus einer Außenperspektive schildern, ermöglicht ihm, Perspektiven aufzuzeigen und Maßstäbe anzusetzen, die einem Menschen aus sozialer oder kultureller Sicht verboten sind. Ein Mensch, der das für jeden Menschen Selbstverständliche kritisiert, ist ein wenig glaubwürdiger Charakter. Ein Alien, der das gleiche tut, ist durchaus glaubwürdig –er ist eben kein Mensch, deswegen ist das Selbstverständliche für ihn nicht selbstverständlich. Gleichsam kann der Fremde dazu benutzt werden, Aspekte der Menschheit isoliert zu betrachten und isoliert gegeneinander zustellen, die beim Menschen an sich nicht isoliert vorkommen und damit den einen gegen den anderen Charakterzug (zum Beispiel) abzuwägen, ohne dass der Charakter notwendigerweise eindimensional erscheint. Ein Mensch, der nur nach kühler Logik entscheidet, dem es an Empathie, an „Menschlichkeit“ vollständig und total fehlt –ist kein Mensch. Er taugt bestenfalls als karikiertes Zerrbild eines Bösewichts und kann so nur sehr schlecht zeigen, dass auch dieser Einzelaspekt seine guten Seiten hat. Ein Alien, der sich nur von kühler Logik leiten lässt dagegen ist –ein Vulkanier. Ähnlich handhabt es auch Tolkien selbst, wenn im ersten Zeitalter die Elben als ins Extrem „idealisiertes Vorbild“ (das keineswegs ideal ist) dargestellt werden: Hier kann ein nicht-Mensch dazu benutzt werden, wie destruktiv selbst schöpferische Kraft werden kann, wenn die Leidenschaft ins extrem getrieben wird. In einem Brief schreibt er, in anderem Kontext, von „that noble northern spirit, … which I have ever loved, and tried to present in its true light. Nowhere, incidentally, was it nobler than in England, nor more early sanctified and Christianized” (Tolkien, Briefe, Nr. 45) Warum die Sanktifizierung, die Christianisierung, des ohnehin schon “noble northern spirit”? Weil die Einstellung desselben, konsequent verfolgt, letzendlich selbstzerstörerisch wird, wie Tolkien nur mit einer Figur, die fähig ist, ihre Leidenschaft ins über-menschliche zu steigern weit besser illustrieren kann, als mit einem Menschen, bei dem man ganze Kapitel vorher sagt „Warum nimmt der Mensch keine Vernunft an?“, denn der Zwiespalt zwischen Zerstörung und Schöpfung in einer Person kann nur hier von epischem Ausmaß sein.

Die Einschätzung des Fantastisch-Fiktiven als trivial und unkünstlerisch –und damit unenzyklopädisch- ist damit seit mehreren Jahrzehnten überholt.

Innen- und Aussenperspektive

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In ihrem Buch „Phantastisches und Phantastik in der Literatur“ untersucht Pohlmann drei phantastische Kinderromane von Astrid Lindgren. In den Kapiteln, in denen sie explizit auf die Romane im Einzelnen eingeht, beginnt sie grundsätzlich mit einer mehrseitigen Zusammenfassung der Handlung. Nicht genug, auch in der Untersuchung der einzelnen Charaktere beschreibt sie deren Handlung wiederholt in kommentierter Weise. Pohlmann könnte davon ausgehen, dass der Leser in den entsprechenden Werken nachlesen kann, will aber zum einen dem Leser die Arbeit ersparen, zwei Bücher simultan durchzugehen, zum anderen sein Augenmerk präzise auf den Teil der Handlung lenken, der für ihre Ausführungen wichtig ist. Die Beschäftigung mit dem Originaltext würde dabei ablenken. Beverly Lyon Clark, in ihrer Untersuchung von Carroll, Nabokov und Pynchon in „Reflections of Fantasy“ (Clark 1986) geht nicht ganz so detailliert und zusammenhängend vor, reproduziert aber auch wiederholt Teile der Handlung, die es zu kommentieren gilt. Clark kann wiederum davon ausgehen, dass dem Leser die Werke zur Verfügung stehen. Wikipedia kann das nicht. Deswegen ist Pohlmanns Ansatz für die Wikipedia –nicht zuletzt nach dem Oma-Prinzip – der bessere: Dem Leser muss der Zusammenhang klar gemacht werden, soll er die Argumente im Kontext verstehen können. Ohne diese Innenperspektive hängt eine Aussenperspektive ohne Fundament in der Luft. Nicht zuletzt deswegen finden sich in etablierten Enzyklopädien wie z.B. dem Brockhaus durchaus inhaltliche Zusammenfassungen. So besteht der Artikel zu Hamlet im wesentlichen aus einer Zusammenfassung des Inhalts und einer vergleichsweise kurzen Aufzählung bemerkenswerter Inszenierungen und Interpretationen. Dr. Mabuse, wiederum, hat ein kurzes, eigenes Lemma, das wiederum in der Hauptsache aus einer Beschreibung seines Verhaltens besteht, eingerahmt in die Filme, denen er entstammt. Es wäre für eine Enzyklopädie widersinnig, vollkommen auf die Innenperspektive zu verzichten, denn eine Analyse ohne Objekt der Analyse wird dem Laien unverständlich bleiben.

Die Notwendigkeit des Fantastischen

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Aber ist das Zeug nicht alles überflüssig? Wer braucht denn das ganze ausgedacht Zeug? Wäre es nicht sinnvoller, sich mit Realem zu beschäftigen?
Hans Abich, zeitweise Intendant von Radio Bremen, Programmdirektor des Deutschen Fernsehens in München und eine Zeit lang bei der ARD Koordinator für Fernsehspiele stellte dazu folgende Thesen auf:
6 Thesen:
1. In unserem Medium wird die Realität überbewertet und zugleich verfehlt.
2. In unserer Zeit wird die Realität angebetet und die Phantasie vernachlässigt.
3. Der Mensch wird seines Defizits an Phantasie gewahr.
4. Er erkennt das gleiche Defizit in unserem Medium.
5. Programme der Phantasie werden gebraucht.
6. Programme mit Phantasie dürfen erwartet werden.
2 Fragen:
7. Wo sind in unseren Programmen Spuren von Phantasie zu finden und weiter entwickelbar?
8. Ist etwa Phantasie-Bedürfnis eine Verdrängung von Wirklichkeit?
4 Synthesen:
9. Der Widerspruch von Phantasie und Wirklichkeit ist nur ein scheinbarer.
10. Der Mensch braucht Sinn für Realität und das Imaginäre.
11. Wirklichkeit vermag Phantasie zu produzieren, sei es auch im Protest gegen diese Wirklichkeit.
12. Phantasie macht Wirklichkeit erfahrbar, erträglich, produktiv.“
(A-L. Heygster und D. Stolte, 1980)

Tolkien schreibt in seinem ebenfalls auf einer Vorlesung (1939 Andrew Lang lecture) basierenden Aufsatz „On Fairy Stories“ (nur unzureichend mit „Über Märchen“ übersetzt) „Fantasy is a natural human activity. It certainly does not destroy or even insult Reason; and it does not either blunt the appetite for, nor obscure the perception of, scientific verity. On the contrary. The keener and the clearer is the reason, the better fantasy will it make.” Er ist sich des Vorwurfs des Eskapismus bewusst, er weist ihn nicht einmal zurück, nein, er bestreitet die Legitimität des Vorwurfs als solchen: „I have claimed that Escape is one of the main functions of fairy-stories, and since I do not disapprove of them, it is plain that I do not accept the tone of scorn or pity with which ‘Escape’ is now so often used: A tone for which the uses of the world outside literary criticism give no warrant at all. In what the misusers are fond of calling Real Life, Escape is evidently as a rule very practical, and may even be heroic. In real life, it is difficult to blame it, unless it fails; in criticism, it seems to be the worse the better it succeeds. Evidently, we are faced by a misuse of words, and also by a confusion of thoughts. Why should a man be blamed if, finding himself in prison, he tries to get out and go home? Or if, if he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prison-walls?” Auch die Assoziation von Fairy-Stories mit Kindern weist Tolkien zurück: „the association of children and fairy stories is an accident of our domestic history. Fairy–stories have in the modern lettered world been relegated to the 'nursery', as shabby or old–fashioned furniture is relegated to the play–room, primarily because the adults do not want it, and do not mind if it is misused."

Zusammenfassung

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Der Gedanke, dass das Fantastische infantil, trivial oder von minderem künstlerischen Wert ist, ist überholt. Es schränkt nicht ein, es verstellt nicht den Blick auf die Realität –vielmehr erlaubt es neue Perspektiven, die ohne die Loslösung von gesichertem Wissen nicht möglich wäre. Das Fantastisch-Fiktive, aber auch das Fiktive generell ist ein legitimes Stilmittel der Literatur bzw. des Schreibens. Auch eine literarisch-kritische Betrachtung (die Tolkien z.B. nicht schätzte) kommt, gerade auch in Wikipedia als elektronischem Medium, das nicht darauf bauen kann, dass der Leser das Objekt seines Interesses vor sich hat, nicht umhin, den internen Kontext darzulegen, bevor er analysiert werden kann, soll der Artikel verständlich bleiben. Das heisst nicht, dass der Artikel vollständig aus werkimmanenten Daten bestehen soll, dass aber die Einbeziehung derselben in das Schreiben des Artikels in der Regel notwendig sein wird. Dies umso mehr wenn das Objekt des Lemmas nicht als allgemein bekannt gelten kann.

Literatur: Beverly Lyon Clark Reflections of Fantasy -The Mirror-Worlds of Carroll, Nabokov and Pynchon American University Studies Series IV English Language and Literature Vol. 32, Peter Lang Publishing New York 1986 ISBN 0-8204-0259-1

Mainzer Tage der Fernseh-Kritik, Band XI: Wirklichkeit und Fiktion im Fernsehspiel, Hrsg.: A-L. Heygster und D. Stolte, Hase und Koehler Verlag Mainz 1980 ISBN 5-7758-0986-4

Sanna Pohlmann Phantastisches und Phantastik in der Literatur -zu phantastischen Kinderromanen von Astrid Lindgren Johannes Herrmann J&J-Verlag 2004 ISBN 3-937983-00-7

George E. Slusser, Eric S, Rabkin Aliens: The anthropology of Science Fiction, Southern Illinois University Press 1987 ISBN 0-8093-1375-8

J.R.R. Tolkien The Monsters and the Critics and other Essays Allen & Unwin, London, 1983, ISBN 0-04-809019-0

J.R.R. Tolkien "On Fairy Stories" aus Sammelband: Tree and Leaf, Smith of Wooton Major, The Homecoming of Beorhthnoth, Allen & Unwin 1975, ISBN 0-04-820015-8

J.R.R. Tolkien, Christopher Tolkien, Humphrey Carpenter The Letters of J.R.R. Tolkien Houghton Mifflin 2000 ISBN 0618056998