Der Schwerpunkt der Debatte hat sich seit Mitte der 1990er Jahre nach Osten, vor allem nach Russland verlagert, wo die Bücher Suworows das Interesse weckten und Zeitzeugen, Literatur und Dokumentenfunde Hinweise brachten, die das einschlägige stalinistische Geschichtsbild ins Wanken brachten. Im Mittelpunkt des Interesses der Forscher stehen hier die operativen Planungen des sowjetischen Generalstabes in den Jahren 1940/41. Die Mehrzahl der Forscher geht heute von der Tatsache aus, dass sich die Rote Armee im Frühsommer 1941 auf einen Präventivschlags gegen den deutschen Ostaufmarsch vorbereitet hat.[1] bzw. Hitler und Stalin unabhängig von einander Angriffspläne gegeneinander schmiedeten[2] [3]. 1993 veröffentlichten die russischen Militärhistoriker W. D. Danilow[4][1] und Juri Gorkow[5] dazu ein Dokument, das die Überschrift „Überlegungen zum Plan eines strategischen Aufmarschs der Streitkräfte der UdSSR für den Fall eines Krieges gegen Deutschland und seine Verbündeten“[6] trug. Dieses Dokument wurde offensichtlich im Generalstab der Roten Armee (RKKA) vorbereitet und gegen Mitte Mai 1941 fertiggestellt. In diesem Dokument hieß es:

   „Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein gesamtes Heer einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hat, so besteht die Möglichkeit, daß es uns beim Aufmarsch zuvorkommt und einen Überraschungsschlag führt. Um das zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, halte ich es für notwendig, dem deutschen Oberkommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer schon dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet und noch keine Front aufbauen sowie den Kampf der verbundenen Waffen noch nicht organisieren kann“
   – „Überlegungen zum Plan eines strategischen Aufmarschs der Streitkräfte der UdSSR für den Fall eines Krieges gegen Deutschland und seine Verbündete“[7]

Während die Mehrheit der westlichen Historiker dieses Dokument für einen Entwurf halten, der in aller Eile und ohne Ermächtigung durch Stalin erstellt worden war, so gibt es zahlreiche russische Historiker, die dies nicht so sehen. Danilow und Neweschin z.B. halten es für ausgeschlossen, dass sowjetische Generäle ohne Stalins Willen und Wissen einen so detaillierten Entwurf vorbereiten hätten können. Als wichtigstes Argument dafür, dass es sich um keinen "Entwurf", sondern um jene Vorlage handelte, die Stalin am 15. Mai 1941 genehmigte, wird die Tatsache gewertet,

   * dass (Neweschin) die tatsächliche Dislokation der Verbände der Roten Armee zu Kriegsbeginn exakt jener im ,Entwurf' entspricht. [8]
   * dass (Danilow) die Echtheit weiters durch einen Niederschrift bestätigt wird, die gemeinsam mit diesem ,Entwurf' im Panzerschrank des verstorbenen Marschalls gefunden wurde (Erstellungsdatum: 20. August 1965). In dieser Niederschrift bestätigt Wassilewskij, daß er den vorliegenden ,Entwurf' im Team erstellt, ihn persönlich in den Kreml geschafft und ihn dort Schukow übergeben habe. Schukow und Timoschenko haben ihn dort Stalin vorgetragen. Stalin gab nach kleineren Änderungen sein Plazet (‚dobro‘), worauf Schukow und Timoschenko den nächsten Schritt in Angriff nahmen - maßstabsgerechte Vorbereitung des Schlages gegen Deutschland.“ Bordjugow, Neweschin (Hrg): Plante Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler? (Russisch), Verlag der Vereinigung der Erforscher der russischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert (AIRO XX), Moskau 1995. S.85</ref>

Ein weiterer Vertreter Die verlorene Chance Stalins, ein Buch von Michail I. Meltjuchow.[9]. Meltjuchow argumentiert, dass der Plan, Deutschland anzugreifen vor Mai 1941 gefasst wurde und die Grundlage der sowjetischen Militärplanung von 1940 bis 1941 war. Meltjuchow behauptet, dass sowjetische Verteidigungspläne nur für Nebenkriegsschauplätze existieren, während es jedoch in den hauptrichtungen verschiedene Versionen von Angriffsplänen gibt. (Meltjuchow, S.375)[9]. Laut Meltjuchow wurde die erste Version bald nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 aufgesetzt, die letzte Version um den 1. Mai 1941 (Meltjuchow, S. 370-372)[9]. Dieses Angriffsplans war gemäß Meltjuchow maßgeblich für die Bereitstellung der Truppen gewählt. Bei Boris Sokolow ist Ähnliches zu finden. So vergleicht Sokolow die behaupteten 'Gegenschlagpläne' der Sowjetunion mit dem sowjetischen Aggressionplan gegen Finnland 1939, der offiziell als ein Entwurf zur Sicherung der Staatgrenze und eines Gegenschlags im Falle einer finnischen Aggression vorbereitet wurde, obwohl kaum jemand vermuten konnte, dass Finnland in der Lage gewesen wäre, die Sowjetunion anzugreifen. [10] [11]

Aus dem von den sowjetischen Historikern beigebrachten und ausgewerteten Archivmaterial lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren:

   * 18.Dezember: Der Barbarossabefehl geht an die deutschen Stäbe
   * 20./21.Dezember(Annahme) Stalin wird durch den sowjetischen Militärattaché in Berlin von Barbarossa in Kenntnis gesetzt

(Quelle: Gorodetzky.Große Täuschung.177)

   * 23.-31.Dezember 1940: Strategiekonferenz im Kreml (Teinehmer:Politbüro,Militärspitzen) Militärs tragen ihre Ansichten zur Reaktion auf Barbarossa vor. Beschlossen wird der kompromisslose Überraschungsangriff, die Zerschlagung der deutschen Bereitstellung und die Fortführung des Angriffes in die Tiefe. Die Hauptstoßrichtung soll in Planspielen ermittelt werden

(Quelle: Solotarjow,W.A: Russisches Archiv. Am Vorabend des Krieges. Die Materialien der Tagung der obersten Kommandoführung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee vom 23-31.Dezember 1940 -Moskau 1993)

   * 2.-4.Jänner: Planspiel Nr 1. Ablauf: GO Pawlow greift vergeblich GO Schukow in Ostpreußen an

(Quelle: Bericht im Wojenno-Istoritscheski-Journal -2/1993- Titel: „Im Januar '42 griff die Rote Armee Königsberg an“)

   * 8.-10. Jänner 1941: Planspiel Nr 2. Ablauf: GO Schukow greift GO Pawlow erfolgreich südlich des Pripjet an

(Quelle: Iswestija vom 22.Juni 1993) Diese Stoßrichtung wird als Grundlage für den Angriffsbefehl verwendet

   * Mitte Mai: Erstellung des Befehlsentwurfes für den Angriff und Vorlage an Stalin, Bestätigung der Vorlage durch GL Wassilewski

(Quelle: Maser:Wortbruch. 406 bis 427) , Aufmarsch der Truppen beginnt.

   * Anfang Juli:Geplanter sowjetischer Angriff:

„Approximatlely a month before the start of the war, when the deployment of the fascist forces along our border was actually being carried out overtly, our command still had an opportunity to complete at least the deployment of the first strategic echelon... It was assumed that initially the aggressor would invade our country with only part of its forces; border engagements would take place, under the cover of which ...the deployment of the main masses of troops ...would be completed. ...this assumption was not justified.... Thus, the fascist German command, literally during the last 2 weeks before the war, was able to preempt our forces in completing deployment.“

(Quelle: S.P.Ivanov: The Initial Period of War-Moskau 1974. Seiten 182 und 183- Übersetzt und Herausgegeben von der US Air Force in der Reihe Soviet Military Thought-ohne Datum-)

   * Geplante Durchführung: „Nach dem Abschluss der Mobilmachung... war geplant, große Angriffsoperationen mit entscheidenden Zielen zu führen. Dazu hatte die... Westfront einen Angriff Richtung Krakau mit dem Ziel zu führen, Deutschland von seinen Verbündeten auf dem Balkan abzutrennen und danach den Angriff ins Landesinnere des Gegners führen...im Westen [sollten]237 Divisionen, im Osten und Süden...31 Divisionen zum Einsatz kommen.“

(Quelle: Jurij Kirschin: Die Sowjetischen Streitkräfte am Vorabend des Gr.Vaterländischen Krieges, in: Bernd Wegner.Zwei Wege nach Moskau -München 1991- Seite 400)