Postkoloniale Kritik

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In seinem Aufsatz erinnert Albert Wirz im Jahr 1998 daran, dass die Gründer des Roten Kreuzes keinen Widerspruch zwischen Philanthropie und Kolonialismus sahen. Im Gegenteil, beide Phänomene waren Teil desselben christlichen und bürgerlichen Glaubens an Fortschritt und Sozialdisziplin. Die von den Gründern gesammelten Erfahrungen wurden zu einem universellen Gesetz. So wirkte Gustave Moynier, der Gründungspräsident des IKRK, zunächst als Sozialreformer in Genf und dann als militanter Propagandist des kolonialen Abenteuers in Äquatorialafrika. In dieser Perspektive bezieht er sich auf die bürgerliche Dreifaltigkeit von Zivilisation, Handel und christlichem Kolonialismus. Der Kolonialismus stellt in seinen Augen einen philanthropischen Akt dar, welcher der Verbreitung des Gedankenguts des Roten Kreuzes ähnelt. Sein Plan, das Kongobecken zu neutralisieren, erweckte jedoch kein positives Echo. Und Moynier musste zugeben, dass das koloniale Experiment im Kongo in eine beispiellose humanitäre Katastrophe mündete, die eine Periode entsetzlicher wirtschaftlicher Verwilderung ankündigte. Der Präsident des IKRK weigerte sich, seine Eindrücke zu dieser Entwicklung aufzudecken. Das Rote Kreuz befand sich dennoch auf der Seite der kolonialen Truppen. Moyniers Universalismus erscheint letztlich als ein europäisches Projekt, das in zu enge Grenzen eingezwängt ist. 60 Jahre nach Moyniers Tod erkannten die Verantwortlichen des IKRK endlich an, dass die Idee der Achtung des Menschen und der uneigennützigen Hilfe für die Leidenden - die wichtigsten Grundlagen des Roten Kreuzes - nicht ausschließlich eine christliche Wahrheit, sondern Teil des universellen kulturellen Erbes der Menschheit ist. Es ist nicht nur eine Ironie der Geschichte, dass sich die Haupttätigkeitsfelder des IKRK heute in den ehemaligen Kolonialgebieten befinden. Philanthropen bereiteten dem Kolonialismus den Boden und humanitäre Organisationen müssen gegen die Auswirkungen der kolonialen Barbarei kämpfen.[1]

Fachliteratur (Arbeitsinstrumente)

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Commons: Gustave Moynier – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Albert Wirz: Die humanitäre Schweiz im Spannungsfeld zwischen Philanthopie und Kolonialismus: Gustave Moynier, Afrika und das IKRK. In: Suisse - tiers monde: des reseaux d'expension aux formes de domination=Schweiz - Dritte Welt: Von der Expansion zur Dominaz. Band 5, Nr. 2, 1998, S. 195-110 (e-periodica.ch).