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Vertrauen in online-Gruppen

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Soziales Kapital

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Vertrauen bedeutet, das Risiko zu akzeptieren, dass der Andere seine eigenen Interessen verfolgt und dem Projekt schadet (Kosonen 2008).[1] Soziologen (Scherchan 2013)[2] nennt das „soziales Vertrauen“ und unterscheidet es als soziales Phänomen, als „Wette auf das künftige Verhalten des Anderen“ von der psychologischen, rein intrapsychischen Definition.

Die Bereitschaft der Gruppenmitglieder, dieses Risiko gegenseitig einzugehen, fördert die Gesamtleistung der Gruppe.

Umgekehrt erhöht der intensive Austausch von Informationen das gegenseitige Vertrauen. Es entsteht eine positive Verstärkung: Mit Menschen, denen ich vertraue, arbeite ich gut zusammen, was sie mir noch vertrauenswürdiger erscheinen lässt. Das kann eine Gemeinschaft extrem erfolgreich machen: ihr hohes Vertrauensniveau ist ihr soziales Kapital (Mezgar 2009).[3]

Étienne Wenger (Neuchâtel) hat über online-Gemeinschaften geforscht, die wie wir dazu gebaut wurden, Wissen auszutauschen. Er nennt sie Praxisgemeinschaften („Communities of Practice“). Vertrauen ist ein Schlüsselfaktor für den Wissensaustausch in online-Communities (Wenger 2009,[4] Booth 2012).[5] Gruppenmitglieder, die anderen nicht vertrauen, arbeiten mit ihnen nicht mehr zusammen und vermeiden im Gegenteil aktiv den Kontakt (Lee 2014).[6]

Unsere Position als Admins ist ein wenig zwiespältig: viele Kolleg:innen sehen sich als Dienstleister der Autoren, als Hausmeister. Aber es ist doch so, dass was wir tun und schreiben, besonders beachtet wird. Wir (und viele prominente Regulars ohne Knöpfe) könnten der Gruppe Form und Richtung geben. Und IMHO haben wir auch die Aufgabe, die Vertrauensbildung in der Community zu fördern.

Vertrauensbeziehung

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Erste Frage: wie bekommen wir Vertrauen? Neue Wikipedianer treffen bei uns auf eine virtuelle Gemeinschaft, die sie nicht kennen. Man richtet sich im Urteil zunächst danach, wem andere vertrauen. Öffentliches Lob und Tadel schaffen den provisorischen Ruf einer zuvor unbekannten Person (Ridings 2005).[7]

In den ersten Wochen lernt der neue Autor einige Regulars kennen. Er modifiziert darauf sein Vertrauensnetz: Dauerhaftes Vertrauen wird er jetzt denen entgegenbringen, die er im direkten Kontakt als kompetent, gutwillig, und integer erlebt hat; dies sind die Parameter des Vertrauens (Blau 1964, zitiert zB von Ridings 2005,[7] De Vries 2018).[8] „Kompetent“ bedeutet, der andere hat Position und Mittel, um mir zu helfen; „gutwillig“ = er möchte das auch tun; „integer“ = er hält sich an meine mitgebrachten sozialen Standards, etwa nicht zu lügen (Lee 2014).[6]

Gruppen, die nach dem Alter, der Ethnie, der Bildung, und finanziell homogen sind, bilden das soziale Vertrauen leichter, weil sich alle nach ähnlichen Standards verhalten (Kosonen 2008).[1]

Admins in der Balance

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Siitonen (2009)[9] zufolge hat die Kommunikation der Gruppenleiter drastische Auswirkungen auf die Kohäsion der online-Gruppe. Er hat das in Gaming-Communities erforscht. Was wir tun können:

- Sherchan (2013)[2] betont, dass die Administration sicherstellen sollte, dass die User ihre Gedanken und Meinungen frei äußern können ohne Angst vor Verurteilung oder vor Übergriffen auf ihre Privatsphäre.

- Wenger (2009)[4] sieht in gut laufenden Gruppen Personen am Werk, die er Social Artists nennt („Soziale Künstler“). Sie haben die Fähigkeit, einerseits die Mitglieder horizontal zu ermächtigen, Mitverantwortung zu übernehmen. Und sie können andererseits dysfunktionale Prozesse unterbrechen. Es sind also Künstler der Balance. Wenger meint, sie hätten „einen Riecher für die kulturellen und persönlichen Schlüssel” zur Gruppendynamik.

- Auch Booth (2012)[5] Supergemeinschaften sind durch besondere, herausragende Mitglieder gekennzeichnet, von untadeligem Ruf und Sozialkompetenz. Sie wirken positiv auf die Gruppenprozesse, holten Aussenseiter ins Boot, bremsen Fehlentwicklungen, und wirkten dabei ohne Aufhebens, hinter den Kulissen. Booth nennt sie „Zauberer hinter dem Vorhang“.

- Bei Jameson (2009)[10] heißen sie “facilitators” (Vereinfacher). Es seien Enthusiasten, die das System in- und auswendig kennen und neue Mitglieder sanft empfangen und betreuen, sodass sie sich zuhause fühlen.

Alleine durch ihre Anwesenheit vermindern die facilitators Aggressionen zwischen den Mitgliedern der Gruppe und erhöhen das allgemeine Gefühl der Sicherheit. Dabei müssen sie jedoch eine wirksame “Balance zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit” halten, also zurücktreten und die Gruppe ermächtigen können, wenn die Situation das ergibt. Je mehr Kontrolle ein User in einem interaktiven System behält, desto mehr wird er ihm trauen (Mezgar 2009). Deshalb ist immer zwischen Vertrauen und Kontrolle abwägen (Kosonen 2008).[1]

User nehmen oft informelle Rollen an: Vorantreiber, Kreative, Spezialisten, Teamworker usw. (Holton 2001).[11] Diesen Reichtum an Individualität zu nutzen und ihn auf das gemeinsame Ziel zu richten, ist die Aufgabe der Facilitators. Ein Team wird stärker, wenn es seine Diversität kennt, akzeptiert, und nutzt (Holton 2001).[11]

Die “Facilitators” sollten auf alle Anfragen reagieren und stets höflich, informativ, klar und kurz antworten (Jameson 2009).[10] Auch Mezgar (2009)[3] empfiehlt

  • häufig und kurz kommunizieren
  • freundlich sein, bei jeder Gelegenheit danken
  • Interesse zeigen
  • seine eigenen Motive offenlegen
  • aussprechen, was man vom anderen erwartet
  • kleine Versprechungen machen und einhalten
  • smalltalk
  • sich persönlich treffen wenn möglich

Booth (2012)[5] hat folgende Ideen:

  • identifiziere und wiederhole für die Gruppe regelmäßig das gemeinsame Ziel
  • gib Wege an, auf denen jede/r zu diesem Ziel beitragen kann
  • rekrutiere geeignete Leute für die einzelnen Aufgaben
  • achte auf informelle Rollen in der Gruppe und stütze sie
  • Fachleute sollten die Expertise über ihr Benutzerprofil transparent machen und über Redaktionsseiten anbieten
  • Moderierende sollten herausragende Fachkenntnisse und soziale Skills haben
  • lenke fachkundige Mitglieder auf aktuelle Diskussionen
  • zeige nicht fachkundigen Mitgliedern, wo sie Informationen finden
  • bitte geeignete Mitglieder darum, das erwünschte Verhalten modellhaft vorzuführen

Zerstörtes Vertrauen

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Vertrauen ist oft asymmetrisch ausgeprägt und kann mit einem Schlag (Negativerlebnis) vollständig zerstört werden (Sherchan 2013).[2] Opfer von Übergriffen reagieren schärfer, wenn sie dem Partner schon früher negative Motive (Absicht, Egoismus) zugeschrieben hatten (Fincham 2005).[12] Sie entwickeln negative Emotionen wie Angst, Traurigkeit, Ärger und tendieren dazu, den Täter zu vermeiden, oder Rache an ihm zu nehmen (Rusbult 2007).[13] Rache ist ein extrem zerstörerisches Motiv; im Rechtswesen soll sie für jede zweite interpersonelle Straftat verantwortlich sein (McCullough 1998).[14] Der Täter wiederum kann die Reaktion des Opfers als übertrieben auffassen und eine unangemessene Verteidigungshaltung einnehmen.

Vergebung durchbricht diese Situation. Sie ist ein positiver kognitiver Prozess, bei dem das Opfer entlastende Umstände durchdenkt und zu einem Affektwandel gelangt, der es befähigt, in die Beziehung weiter zu investieren. Der Täter seinerseits kann kognitiv an sich arbeiten, seine Verantwortung annehmen, und ernsthafte Reue zeigen (Rusbult 2007).[13]

Wenn man der Psychologie folgt, könnte man koordiniert an zwei Punkten ansetzen:

  • destruktive Rachehandlungen des Opfers begrenzen,
  • konstruktive Reuehandlungen des Täters fördern.

Es gilt mit beiden Betroffenen die Bedingungen der weiteren Arbeit auszuhandeln: wie interpretieren beide die Regeln; wie kann der Übertreter seine Schuld begleichen; was wären die Konsequenzen zukünftiger Übertretungen? Dazu sollten irrationale Ansichten kognitiv abgebaut werden, zB dass der Täter gar keinen Respekt habe oder dass das Opfer zu empfindlich sei. Stattdessen sollte das prosoziale Kernmotiv beider herausgestellt werden, welches die Beziehung begründet hat: die gegenseitige Wertschätzung, der Wille etwas für den anderen zu opfern (Rusbult 2007).[13]

  1. a b c Kosonen M (2008): It is T-time! The Role and Development of Trust in Virtual Communities. [1]
  2. a b c Sherchan W (2013): 47A Survey of Trust in Social Networks. [2]
  3. a b Mezgar I (2009): Trust Building in Virtual Communities. [3]
  4. a b Wenger E (2009): Social learning capability. [4]
  5. a b c Booth SE (2012): Cultivating Knowledge Sharing and Trust in Onlinie Communities for Educators. [5]
  6. a b Lee H-Y, et al. (2014): Comparative Analysis of Trust in Online Communities. [6]
  7. a b Ridings CM, Gefen D (2005): Antecedents of Trust in Online Communities. [7]
  8. De Vries J, et al (2018): Trust at a Distance — Trust in Online Communication in Environmental and Global Health Research Projects. [8]
  9. Siitonen M (2009): Conflict management and leadership communication inmultiplayer communities. [9]
  10. a b Jameson J (2009): Distributed Leadership Trust And Online Communities. [10]
  11. a b Holton J (2001): Building Trust and Collaboration in a Virtual Team. [11]
  12. Fincham FD, et al. (2005): Transgression severity and forgiveness: Different Moderators for Objective and Subjective Severity. [12]
  13. a b c Rusbult CE, et al.: (2007): Forgiveness and relational repair. [13]
  14. McCullough M, et al. (1998): Interpersonal forgiving in close relationships: II. Theoretical elaboration and measurement. [14]