Die Gorch-Fock-Entscheidung ist ein Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 2014.[1] Die Grundsätze der Entscheidung wurden auch in der „Kunduz-Entscheidung” des Bundesverfassungsgerichts zitiert.[2]

Sachverhalt

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Die Eltern der auf dem Segelschulschiff der Deutschen Marine Gorch Fock tödlich verunglückten Soldatin Jenny Böken machten dem Schiffsarzt der Gorch Fock strafrechtliche Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch einen hinreichenden Tatverdacht verneint und deswegen keine Anklage erhoben. Diese Entscheidung wurde im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahrens durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht bestätigt. Gegen dessen Entscheidung richtete sich die Verfassungsbeschwerde, welche durch die hiesige Entscheidung nicht zur Entscheidung angenommen wurde, weil der Beschluss des OLG Schleswig nach Meinung der entscheidenden Richter verfassungskonform war.[3]

Die Gorch-Fock-Entscheidung referiert bestimmte Fallgruppen, in denen dem Anzeigeerstatter ein eigener Rechtsanspruch auf Strafverfolgung gegen Dritte zukommen kann. Diese Fallgruppen sind:

  • Erhebliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person,
  • Delikte von Amtsträgern,
  • Straftaten, bei denen sich die Opfer in einem „besonderen Obhutsverhältnis“ der öffentlichen Hand befinden[4]

Die Entscheidung geht deswegen im Ansatz davon aus, dass die Angehörigen der verunglückten Soldatin einen Anspruch auf sorgfältige Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden hatten. Ein solcher Anspruch beziehe sich auf

„das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel muss es sein, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss insoweit gewährleistet werden, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden.[5]

Diesem Anspruch sei die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber gerecht geworden.[6][7][8]

Gorch-Fock-Entscheidung innerhalb der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes

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1979 entschied der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes, dass grundsätzlich kein verfassungsrechtlicher Anspruch einer anderen Person durch den Staat bestehe.[9] 2002 bestätigte das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung diese Rechtsprechung und führte aus:

„Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch eines Einzelnen auf Strafverfolgung eines Dritten durch den Staat nicht besteht (vgl. BVerfGE 51, 176 (187). Auch aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich ein solcher Anspruch nicht. Dem durch eine Straftat Verletzten, der die Strafverfolgung eines Dritten mit Hilfe eines Antrags nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO erzwingen will, steht von Verfassungs wegen nur das Recht zu, dass über sein Begehren unter Beachtung der für das gerichtliche Verfahren geltenden Anforderungen des Grundgesetzes entschieden wird. Er kann verlangen, dass Form und Inhalt seines Antrags nicht überhöhten (Darlegungs-)Lasten unterworfen werden, sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und erwogen wird und seine Ausführungen nicht in willkürlicher Weise gewürdigt werden.[10]

In einem Beschluss vom 4. Februar 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass im Allgemeinen auch bei Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Private kein grundrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung durch den Staat besteht.[11] Der Hinweis, dass ein solcher Anspruch im Allgemeinen nicht bestünde, wird als eine erste Aufweichung der bisherigen Rechtsprechung gesehen.[12] Am 26. Juni 2014 fasst das Bundesverfassungsgericht zu dem Fall Tennessee Eisenberg einen Nichtannahmebeschluss.[13] Das Gericht entschied:

„Dem Grundgesetz lässt sich grundsätzlich kein Anspruch auf Strafverfolgung Dritter entnehmen (a). Etwas anderes kann bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person der Fall sein (b), bei Delikten von Amtsträgern (c) oder bei Straftaten, bei denen sich die Opfer in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden.[14]

Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt:

„Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten stellt eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGK 17, 1 [5]). Vor diesem Hintergrund besteht ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter - Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person - abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe verlangt werden.[15]

Dieser zunächst wenig beachtete[12] Beschluss wurde in der Gorch-Fock-Entscheidung.[16] fast wörtlich übernommen.[12] Bestätigt wurde diese Rechtsprechung durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[17] eine Verfassungsbeschwerde wegen der Einstellungen der Ermittlungen gegen Oberst Klein wegen des Luftangriffs bei Kunduz nicht zuzulassen.

Prozessuale Auswirkungen

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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar. Infolge der Entscheidung des Oberlandesgerichts könnte eine Anklage gegen den Schiffsarzt nur auf Grund neuer tatsächlicher Umstände erhoben werden.

Einzelnachweise

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  1. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2014, Az. 2 BvR 1568/12 - Gorch Fock, NJW 2015, 150 = HRRS 2014 Nr. 1063 (mit Leitsätzen des Bearbeiters).
  2. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2015, Az. 2 BvR 987/11 - Kunduz, HRRS 2015, Nr. 605 (mit Leitsätzen des Bearbeiters).
  3. Tote "Gorch Fock"-Kadettin: Eltern scheitern mit Entschädigungsklage, Spiegel Online vom 22. Oktober 2014, abgerufen am 31. August 2015.
  4. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2014, Az. 2 BvR 1568/12, Rdn. 9 ff.
  5. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2014, Az. 2 BvR 1568/12, Rdn. 14.
  6. Hayke Lanwert: "Gorch Fock": Eltern der toten Kadettin vom Urteil geschockt, Hamburger Abendblatt vom 23. Oktober 2014, abgerufen am 31.August 2015.
  7. Ingrid Bertram: Entscheidung im Fall der ertrunkenen "Gorch Fock"-Kadettin (Video), Tagesschau.de vom 23. Oktober 2014, abgerufen am 31. August 2015.
  8. Eltern der "Gorch Fock"-Kadettin scheitern mit Klage, Zeit Online vom 22. Oktober 2014, abgerufen am 31. August 2015.
  9. Beschluss vom 8. Mai 1979, Az. 2 BvR 782/78, BVerfGE 51, 176 = NJW 1979, 1591 = DRsp III(328)92 = EuGRZ 1979, 408 = MDR 1979, 907.
  10. Beschluss vom 9. April 2002, Az. 2 BvR 710/01, NJW 2002, 2861.
  11. Beschluss vom 4. Februar 2010, Az. 2 BvR 2307/06.
  12. a b c Michael Sachs: Grundrechte:Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung. JuS 2015, S. 376.
  13. BVerfG Beschluss vom 26. Juni 2014, Az. 2 BvR 2699/10
  14. BVerfG Beschluss vom 26. Juni 2014, Az. 2 BvR 2699/10 RdNr. 8.
  15. BVerfG Beschluss vom 26. Juni 2014, Az. 2 BvR 2699/10 RdNr. 10.
  16. BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2014, Az. 2 BvR 1568/12 - Gorch Fock, NJW 2015, 150 = HRRS 2014 Nr. 1063 (mit Leitsätzen des Bearbeiters).
  17. Beschluss vom Mai 2015, Az. 2 BvR 987/11 die Verfassungsbeschwerde

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