Jouissance (aus dem Französischen; zu Deutsch Genuss, Lebensgenuss, Orgasmus) ist ein Begriff des französischen Psychoanalytikers Jaques Lacan.[1] Eine passgenaue Übersetzung gibt es nicht und oft wird der Begriff in seiner Verwendung in der Originalsprache belassen.[2][3][4] Am ehesten zu definieren ist Jouissance als der innerpsychische Zustand/Prozess des in den Genuss Kommens von `etwas über die Maßen Spürbarem´. Diesem Genießen liegt ein angeborenes Bedürfnis, ein unausweichliches Begehren zugrunde, bei dem es darum geht, `sich lebendig zu fühlen´, `sich in Entwicklung bleibend zu fühlen´.[4]

In klinischen Zusammenhängen mag Jouissance als Teilhintergrund psychiatrischer Diagnosen herangezogen werden können.[3]

Welche Form Jouissance, also das für den Einzelnen „über die Maßen Spürbare“ annimmt, kann gegebenenfalls im analytischen Prozess geklärt werden. Oft ergibt sich, so das Verständnis, ein „Exzess der Lebendigkeit“ aus dem Nebeneinander von freudigen und schmerzhaften, ängstlichen und belohnenden Empfindungen.[5][2]

Hinsichtlich der durchaus umstrittenen Konzeptualisierung des Begriffes gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Interpretationsebenen.[3] Jouissance kann sich auf (partnerschaftliche oder autoerotische) Sexualität im engen Sinne beziehen, aber auch auf das Leben oder das Dasein, auf die Vorstellung oder die Bezeichnung einer Sache oder Empfindung von Etwas außerhalb des Selbst, auf den Anderen oder das Selbst als Ziel oder Ursprung der eigenen Befindlichkeiten.[5][6]

Einige Teilgedanken Lacans zum Jouissance-Konzept haben ihren Ursprung in den philosophischen Überlegungen Hegels.[5]

Begriffsgeschichte im Rahmen der Psychoanalyse

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Im Werk Sigmund Freuds war - im Unterschied zur Lust - Jouissance nie explizit ein theoretisches Konzept, sondern lediglich ein gewöhnlicher Begriff, synonym verwendet beispielsweise für große Freude, extremes Wohlbehagen oder auch Ekstase, so wie es zeitweise auch bei Lacan zu finden war.[5][6] Lacan benutzte den Begriff Jouissance jedoch zunächst in seinem ursprünglich aus der Rechtsphilosophie stammenden Sinn.[2] Nach der Einführung des Begriffes im Seminar „The Formations of the Unconscious“ wird Jouissance mehr und mehr zu einem der zentralen Begriffe in der Lehre Lacans.[6]Aus den rechtsphilosophischen Betrachtungen lässt sich ableiten, was später den Unterschied zwischen dem psychoanalytischen Lustprinzip und dem Jouisssance-Konzept ausmacht: der Unterschied zwischen der Befriedigung einer Lust durch den Konsum von etwas, wobei die Lust eben durch den Konsum verloren geht auf der einen Seite, gegenüber dem Genießen des eigentlichen Strebens nach Befriedigung durch den Gebrauch von etwas, um das Genießen aufrechtzuerhalten.[2] Wenn man nun sowohl dem Lustprinzip als auch der Jouissance einen Anteil an Freude zugesteht, so beruhte, so Lacan selbst, das Lustprinzip auf einer Begrenzung der Freude, wohingegen Jouissance sozusagen unendliche Freude bedeutete. Da aber hiermit auch ein ständiger psychophysiologischer Anspannungszustand verbunden ist, ist es eben am Ende doch nicht Freude, zumindest nicht allein, sondern auch Leiden.

Das Triebkonzept der Psychoanalyse wird meist in einem Vierersystem dargestellt: ein Trieb entspringt einem durch einen biologischen Anspannungszustand erzeugten Bedarf [Aktionspotenzial?], hat das Ziel der Erfüllung dieses Bedarfes, benötigt für diese Erfüllung des Bedarfes ein genau dazu geeignetes Objekt, und benötigt eine Triebenergie zur Aktivierung.[2] Auf diesem Triebbegriff baut dann auch das Verständnis des Lustprinzips auf. Lust würde sich demnach auf die Beseitigung eines Anspannungszustands beziehen. Das Jouissance-Konzept hingegen verzichtet auf diese Teilung; Jouissance scheint als Bedarf, Ziel, Objekt und Energie gleichzeitig die Aufrechterhaltung eines Anspannungszustands zu bedeuten.[2]Jouissance ist also auf sich selbst gerichtet, strebt nach der eigenen Aufrechterhaltung oder Wiederentstehung, dem eigenen `lebendig bleiben´ oder `in Entwicklung bleiben´.[5] Jouissance wäre demnach die Kraft, die nach der Befriedigung des Triebes selbst strebt. [2] Und weil es sich um den Trieb handelt, "in Entwicklung zu bleiben", kann Jouissance nicht aufhören.

Eine mögliche Integration des ursprünglichen Verständnisses und des Lacanschen: SEEKING; Panksepp.

[Aus neurophysiologischer Sicht könnte man Jouissance als den Rest eines Aktionspotenzials betrachten, das immer zurückbleiben muss, um überhaupt neue Handlungen in Gang setzen zu können.???][2] Und aus Sicht der Lacanschen Theorie verschafft allein das Bereithalten dieses Restes an Jouissance Befriedigung (Belohnung im neurophysiologischen Sinne), weil es die Grundbedingung ist für die Genussfähigkeit des Lebens.

Relevanz im Rahmen klinischer Betrachtungen

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[Eine besondere klinische Relevanz könnte man dem Konzept der Jouissance hinsichtlich aller psychiatrischer oder psychosomatischer Störungsbilder und Symptomatiken zusprechen, bei denen die Fähigkeit, sich selbst wahrhaftig zu spüren, sich selbst und auch den eigenen Körper als Teil der Welt lebendig und selbstwirksam zu erleben, fehl- oder unterentwickelt ist, etwa Depersonalisation, Derealisation, Dissoziation. Nach Lacan ist ein Körper gemacht, um sich selbst freudig spüren zu können, die eigene Leibhaftigkeit zu genießen.[2] Wenn diese Genussfähigkeit durch welche Einflüsse auch immer einen ungünstigen Entwicklungsverlauf nimmt, so wird sie dennoch verfolgt, weil es ja um ein angeborenes Bedürfnis geht, das wir nicht abschaffen können. Nur kann dies normabweichende und auch extreme Formen annehmen - wie es bei jedem anderen angeborenen Bedürfnis etwa durch Konditionierungen eben auch geschehen kann.

Insbesondere etwa bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen, substanz(un)gebundenen Abhängigkeiten oder Impulskontrollstörungen mag das Konzept der Jouissance dann eine Erklärung dafür liefern, warum Menschen solche Störungen entwickeln und trotz offensichtlichen Leidens an dem Symptom (also ggf. auch schadhaften oder gar explizit verletzenden Agierens) scheinbar festhalten müssen: das Symptom befriedigt trotz seiner möglichen Schadhaftigkeit ein tief verankertes Bedürfnis, dies wirkt sich im Belohnungssystem des Gehirns aus (Belohnung durch Lusterzeugung oder Unlustvermeidung) und somit ist die Symptombildung Teil einer neurophysiologischen Konditionierung geworden.[2] Über - grundsätzlich lösch- oder änderbare - Konditionierungen hinaus kann es aber auch zu einer unumkehrbaren neurophysiologischen Programmierung kommen, die unbewusst bleibt, und selbst wenn sie ggf. bewusst gemacht, dennoch nicht der willentlichen Kontrolle oder Veränderung zugänglich gemacht werden kann.[2] Das mag eine bedeutende Konsequenz für therapeutische Überlegungen beinhalten, denn es würde sowohl die Möglichkeiten etwa der analytischen, tiefenpsychologischen als auch der operant/instrumentellen oder kognitiv-behavioralen Interventionen begrenzen.

Diese paradoxe Situation des Gesamtorganismus kann diesen selbst und seine Schaltzentrale, also das Gehirn, sogar schädigen, man könnte dann von einer psychosomatischen Beeinträchtigung des Gehirns sprechen.[6] Salopp formuliert, die Neuronen verlieren die Nerven.

Gewöhnungseffekte? nicht nur Konditionierungseffekte (die ja ggf. löschbar wären), sondern ggf. unumkehrbare" neurophysiologische Programmierungen ("imprints").

und dabei ggf. die zur Abwehr des Erkennens unbewusster Strebungen entstandenen Symbolisierungen außer Kraft setzt („escapes the control of the symbolic processes“).

Jouissance mag in diesem Sinne seinen körperlichen Ausdruck finden in einem fast traumatischen Lustzustand, Lust in Verbindung mit extremer Spannung, ggf. Schmerz und Leiden; Jouissance kann dann nicht unbeschwerte Freude bedeuten, ist es auch nicht, und bereitet dennoch eine Art von Genuss.[5][6][4]

Relevanz in nicht-klinischen Bereich von Kultur und Gesellschaft

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Eine vollständige Befriedigung oder Befriedung, eine gänzliche Beruhigung der Jouissance ist nicht möglich, da immer ein Teil der Jouissance-Energie zurückbehalten wird von der Quelle und zurückfällt auf diese zur Neuentstehung.[3]

Partnerschaft und Sexualität

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Jouissance wirkt zunächst jenseits jeder Gegen- oder Wechselseitigkeit, sie bezieht sich nur auf sich selbst. Im Zusammenhang mit partnerschaftlicher Sexualität mag es der Anteil des Begehrens sein, der keine Verbindung zum Partner herstellt, der für sich und bei sich bleibt.[5] Nur im Zusammenhang mit tiefer Lieber kann Jouissance eins werden mit dem Begehren in Richtung des Partners, anstatt entgegengesetzt zu wirken („only love allows jouissance to condescend to desire“).[6] Man könnte es so verstehen, dass sich dann die Energie des "in Entwicklung bleiben Wollens" auf die Vertiefung dieser Liebe richtet; auch hier wird gleichwohl Jouissance nicht enden.

Einzelnachweise

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  1. Jouissance - LEO: Übersetzung im Französisch ⇔ Deutsch Wörterbuch. Abgerufen am 21. September 2021.
  2. a b c d e f g h i j k Ariane Bazan, Sandrine Detandt: On the physiology of jouissance: interpreting the mesolimbic dopaminergic reward functions from a psychoanalytic perspective. In: Frontiers in Human Neuroscience. Band 0, 2013, doi:10.3389/fnhum.2013.00709, PMID 24223543.
  3. a b c d Silvia Rosman. Introduction - Translating Jouissance. In: Néstor A. Braunstein: Jouissance : a Lacanian concept. Albany 2020, ISBN 1-4384-7905-0.
  4. a b c Slavoj Zizek: Lacan - Eine Einführung. 1. Auflage. Kindle-E-Book, auf PC. Frankfurt am Main 2016, S. 107.
  5. a b c d e f g Néstor A. Braunstein: Jouissance: a Lacanian concept. E-Book (Kindle-Version). Albany 2020, ISBN 1-4384-7905-0.
  6. a b c d e f Yorgos Dimitriadis: The Psychoanalytic Concept of Jouissance and the Kindling Hypothesis. In: Frontiers in Psychology. Band 8, doi:10.3389/fpsyg.2017.01593.