Kulturgeschichte des Schachspiels in der Sowjetunion Bearbeiten

Auf breiter Ebene wurde Schach in Russland ab den 1870er Jahren populär. Allerdings war das Schachspiel im 19. Jahrhundert wie in vielen anderen Ländern der Oberschicht vorbehalten. Dies änderte sich mit der Oktoberrevolution und der anschliessenden Integration des Sports in das politische System. 1920 nahm das organisierte Schach seinen Anfang, was auf die Anstrengungen einzelner Schachenthusiasten in politischen Ämtern zurückzuführen war. Über die Militärsportklubs wurde Schach in die entstehende Körperkulturbewegung integriert. Bereits 1924 betrachtete die sowjetische Führung das Schachspiel als „mächtige Waffe der intellektuellen Kultur“, weshalb es zur Bildung der Arbeiter gefördert werden sollte. Während die „Kommunistische Partei der Sowjetunion“ (KPdSU) nach der Gründung der UdSSR im Jahr 1922 internationale Organisationen als bürgerliche Institutionen ablehnte, schlug sie im Schach eine gegenteilige Linie ein. Obschon der sowjetische Schachbund dem 1924 gegründeten Weltschachverband „Fédération Internationale des Échecs“ (FIDE) vorerst nicht beitrat, veranstaltete dieser 1925 in Moskau ein erstes internationales Schachturnier, an dem zahlreiche ausländische Spitzenspieler teilnahmen. Der Zweck dieser Veranstaltung war die weitere Popularisierung des Spiels und die Möglichkeit für einheimische Grossmeister, sich nach der fast vollständigen Isolierung seit der Oktoberrevolution wieder mit der Weltelite messen zu können.[1] Begleitet wurde das Turnier von psychologischen Untersuchungen, die zum Schluss kamen, dass Schach die Entwicklung wichtiger menschlicher Qualitäten begünstige und deshalb als Instrument der Erziehung ideal sei. Dies war einer der Hauptgründe, weshalb nach besagtem Turnier die Nachwuchsförderung ausgebaut wurde. Begabte Kinder erhielten nun Unterricht von Grossmeistern und der Beruf des Schachtrainers gewann hohes Prestige.[2] Mit dem Aufstieg Michail Botwinniks an die Weltspitze ab Mitte der 1930er Jahre sah sich die sowjetische Führung in der Ansicht bestätigt, dass das Niveau des sowjetischen Schachs dasjenige des Westens überholt habe und damit die sozialistische Kultur den Kapitalismus.[3] Da ihr Spielniveau unbedingt erhalten werden sollte, genossen die Grossmeister im Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Privilegien, wie beispielsweise ausgewogene Verpflegung.[4] Nach dem Krieg ging die Sowjetunion auf die Beitrittseinladung der FIDE ein. Im selben Jahr machte der unerwartete Tod des amtierenden Weltmeisters eine erneute Ermittlung des Titels nötig. Die FIDE beschloss 1946 den Weltmeister in einem Turnier zu bestimmen. Die erste Hälfte sollte in Den Haag und die zweite in Moskau ausgetragen werden. Der Wettbewerb fand 1948 unter immensem öffentlichem Interesse im Hauptsaal des „Hauses der Gewerkschaften“ in Moskau statt. Sämtliche sowjetischen Tageszeitungen und Radiostationen berichteten täglich über das Geschehen. Der Turniersieg des Sowjetbürgers Michail Botwinnik markierte den Beginn der unumstrittenen sowjetischen Hegemonie im Schach und löste vor dem Hintergrund des aufziehenden Kalten Krieges in der UdSSR eine Welle des Nationalismus aus. Die politische Führung feierte den Sieg als Triumph der sozialistischen Kultur und lobte die heldenhafte Verteidigung der Ehre des Mutterlandes. Im Dezember 1948 legte das Zentralkomitee, als oberstes Gremium der KPdSU, die Körperkultur als wichtigsten Aspekt der kommunistischen Erziehung fest. Da die UdSSR auf den 64 Feldern das Bestreben den Westen zu überholen am erfolgreichsten umsetzte, konnte sich das Schachspiel als Speerspitze der sowjetischen Kulturoffensive etablieren. Nachdem vermehrt Kritik hinsichtlich der ungenügenden Betreuung der Nachwuchsspieler geäussert wurde, fand 1959 eine Institutionalisierung des Schachverbandes statt. Diese zeitigte innerhalb weniger Jahre deutliche Fortschritte. Zu Beginn der 1960er Jahre dominierte die Sowjetunion im Schach so deutlich, dass die FIDE fortan nur noch höchstens drei Repräsentanten eines Landes am Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft teilnehmen liess.[5]

Schach als Beruf Bearbeiten

Die enorme Bedeutung, die Schach in der UdSSR einnahm, zeigte sich eindrücklich an den bis zu vier Millionen aktiven Spieler zu Beginn der 1970er Jahre.[6] Im Zuge der Professionalisierung des Schachsports in den 1960er Jahren erhielten Grossmeister ein festes Einkommen, das ungefähr demjenigen eines Arztes entsprach. Die Spieler an der Weltspitze verdienten ungefähr das Dreifache.[7] Trotzdem waren die meisten sowjetischen Grossmeister offiziell Amateure und gingen einem durchschnittlichen Beruf nach.[8] Die Erlangung des Meistertitels war mit einem hohen sozialen Status verbunden, dem Privileg der Auslandreisen und in einigen Fällen der Verleihung höchster Orden.[9] Grossmeister wurden wie Kosmonauten gefeiert und selbst Politiker in höchsten Ämtern kümmerten sich um die Belange der Spitzenspieler.[10] Erstmals in der Geschichte eröffnete 1966 in Moskau an der „Zentralen Hochschule für Körperkultur“ eine Fakultät für Schach. Die sowjetische Schachschule war international richtungsweisend, weshalb der Amerikaner Robert James "Bobby" Fischer eigens für die Schachlektüre Russisch lernte.[11] Auf der anderen Seite war der Aufstieg zum Schachmeister auch mit Pflichten verbunden. So gehörten das Unterrichten von Nachwuchsspielern und das Spielen von Simultanpartien mitunter auch in weit abgelegenen Gegenden zu den Aufgaben der Meisterspieler.[9] Weil sie viele Sonderrechte genossen und die sowjetische Kultur nach aussen hin vertraten, sollten Grossmeister ihren Mitbürgern nicht nur im Schach sondern auch politisch ein Vorbild sein.[12] Unzuverlässigen Spielern versagten die verantwortlichen Institutionen die Unterstützung; die Betroffenen mussten mit Repressalien rechnen.[13] Der sowjetische Geheimdienst KGB wusste durch seine Informanten stets Bescheid, was sich in der Schachszene abspielte und gab Empfehlungen ab, welche Spieler gefördert und welche sanktioniert werden sollten.[14] Als unzureichend eingestufte Leistungen konnten mit dem Verlust von Privilegien bestraft werden.[15]

Anmerkungen Bearbeiten

  1. David John Richards: Soviet Chess. Chess and Communism in the U.S.S.R. Oxford 1965, S. 4–24.
  2. Edmund Bruns: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Jürgen Scherer et al (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 20. Hamburg 2003, S. 249–250.
  3. David John Richards: Soviet Chess. Chess and Communism in the U.S.S.R. Oxford 1965, S. 60.
  4. Edmund Bruns: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Jürgen Scherer et al (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 20. Hamburg 2003, S. 255.
  5. David John Richards: Soviet Chess. Chess and Communism in the U.S.S.R. Oxford 1965, S. 76–129.
  6. Helmut Pfleger / Gerd Treppner: Brett vorm Kopf. Leben und Züge der Schachweltmeister. München 1994, S. 262.
  7. Edmund Bruns: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Jürgen Scherer et al (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 20. Hamburg 2003, S. 258.
  8. Harold Schonberg: Die Grossmeister des Schachs. Bern 1982, S. 220–221.
  9. a b David John Richards: Soviet Chess. Chess and Communism in the U.S.S.R. Oxford 1965, S. 166.
  10. Helmut Pfleger / Gerd Treppner: Brett vorm Kopf. Leben und Züge der Schachweltmeister. München 1994, S. 157.
  11. Alexander Kotow / Michail Judowitsch: Schach in der UdSSR. Thun 1980, S. 187–198.
  12. David John Richards: Soviet Chess. Chess and Communism in the U.S.S.R. Oxford 1965, S. 90.
  13. Edmund Bruns: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Jürgen Scherer et al (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 20. Hamburg 2003, S. 246–247.
  14. Viktor Kortschnoi: Mein Leben für das Schach. In: Viktor Kortschnoi / Helmut Pfleger / Rudolf Teschner (Hrsg.): Praxis Schach. Zürich 2004, S. 56.
  15. Edmund Bruns: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Klaus-Jürgen Scherer et al (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 20. Hamburg 2003, S. 260.