Gedächtnis

In jener Zeit, als der Himmel noch die Erde umfing, als Uranus noch bei der vollhüftigen Gaia lag, ein Äon vor den Olympischen Göttern, wurden die Titanen geboren und mit ihnen das Gedächtnis, die Mnemosyne. In den Hymnen an Hermes wird sie die Mutter der Musen genannt. Sie ist die frühzeitigste der Göttinnen,, die sogar dem Apoll mit seiner Leier vorangeht.
Hesiod spricht von ihr als der Göttin der ersten Stunde der Welt und beschreibt ihr wallendes Haar, als sie sich neben Zeus auf seinem Lager ausstreckte, um den Rest ihrer neun Töchter zu zeugen, die Musen. Sie ist es, die den Sohn der Nymphe Maia - "ehrbar war sie und mied der seligen Götter Gesellschaft" an Kindes Statt annimmt und ihn so zum Sohn zweier Mütter macht.
Sie stattet Hermes mit zwei einzigartigen Gaben aus: einer Leier und einer "Seele. Wenn der Gott Hermes zum Gesang der Musen aufspielt, führt der Klang Poeten und Götter zu Mnemosynes Quelle der Erinnerung. In ihrem klaren Wasser treiben die Reste sterblicher Leben, die Erinnerungen, die Lethe von den Füßen der Gestorbenen wusch, tote Männer in bloße Schatten wandelnd. Ein Sterblicher, der von den Göttern gesegnet ward, kann sich Mnemosyne nähern und den Musen lauschen, die mit ihren verschiedenen Stimmen von dem singen, was ist, was war, was sein wird. Unter dem Schutz von Mnemosyne mag er die Reste sammeln, die in ihren Busen gesunken sind, indem er von ihren Wassern trinkt.
Bei seiner Rückkehr von der Quelle - im Traum oder in geistiger Schau - kann er berichten, was er aus dieser Quelle gewonnen hat. Philon sagt, daß der Dichter, der sich an die Stelle eines Schattens versetzt, sich jener Taten erinnert, die ein toter Mann vergessen hat. Auf diese Weise steht die Welt der Lebenden in steter Verbindung mit der Welt der Toten.

:aus den homerischen Hymnen, Übersetzung: Konrad Schwenck, um 1850