Wahrnehmung ist ein mentaler Vorgang, der zur aktiven Auswahl und zum Verstehen von komplexen Sinneseindrücken führt.
Grundsätzliches
BearbeitenDie Aufgabe der menschlichen Wahrnehmung ist das Erkennen und Verstehen der Umwelt. So kann das Individuum überleben und seine Bedürfnisse befriedigen.[1] [2] [3]
Die Wahrnehmung ist im Gegensatz zur Empfindung kein mit physikalischen Masseinheiten in direktem Zusammenhang stehender, sondern ein konstruktiver Vorgang, der je nach Art der bereits gemachten Wahrnehmungen unterschiedlich verläuft und unterschiedliche Resultate zeigt. Wahrnehmung ist also keine Abbildung der Aussenwelt auf einer „mentalen Leinwand”.
Im Verlauf der menschlichen Entwicklung verändert sich die Wahrnehmung der Umwelt: Nicht nur die Gegenstände der Wahrnehmung, sondern auch ihre räumlichen, zeitlichen, interaktiven, sprachlichen und logischen Zusammenhänge (= das Weltbild) verändern sich.
Wahrnehmung ist gleichzeitig ganzheitlich und selektiv (Vergleiche dazu die periphere und foveale Wahrnehmung unter visuelle Wahrnehmung).
Die Wahrnehmung hält innere und äußere Welt des Menschen in wechselseitiger Abhängigkeit und beruht mehr auf Resonanz und Gleichgewicht von Körper und Geist als auf Informationsaufnahme und Verarbeitung. [4]
Wahrnehmung und mentale "Landkarten"
BearbeitenEine mentale Karte (cognitive map)[6] respektive mentales Modell ist eine wichtige Voraussetzung für die freie Bewegung in der Umwelt und die sichere Rückkehr eines Individuums zu seinem Ausgangspunkt. Sie entwickelt sich von der ersten Erkundung der unmittelbaren Umgebung, beispielsweise vom Laufgitter über die Wohnung zur weiteren Umgebung. Sie ist ein notwendiges Grundmuster, welches das Wiedererkennen von Objekten aus den verschiedensten Perspektiven und Merkmalen ermöglicht und zugleich ein Erinnerungssystem füe Ereignisse darstellt.
Eine mentale Karte enthält
- für das Individuum bedeutsame Objekte: z. B. Wege, Treppen, Türen, Begrenzungen, Hindernisse.
- den Aufwand an Kraft und Zeit, um zu einem bestimmten Punkt zu gelangen
- Angaben über positive und negative Erlebnisse mit den darin enthaltenen Objekten
- sprachliche Äußerungen von Bezugspersonen (etwa über erwünschtes und unerwünschtes Verhalten oder Gefahren)
Eine mentale Karte wird nicht wie eine Landkarte aus der Vogelschau erstellt, sondern aus der Eigenperspektive. Sie wird ständig ergänzt durch
- Einordnung von visuellen Wahrnehmungen (sequenzielle Passung)[7]
- Einordnung von Bewegungen (Gehen, Treppen steigen, Tür öffnen)
- Einordnen von Berührungsempfindungen und Geräuschen (Gehen auf dem Gras, auf dem Kies)
- Einordnen von Gefühlen (Angst, Lust, Unsicherheit, Geborgenheit) zu Objekten, Räumen und Gebieten.
- Einordnen von Bedingungen (wenn es regnet, wenn die Sonne scheint, wenn der Hund im Garten ist, wenn Besuch kommt)
- Einordnen von sprachlich mitgeteilten Erfahrungen anderer Personen
- Einordnen von besonderen Technischen Hilfsmitteln und Medien (am Telefon sprechen, am Radio hören, am TV "erleben", im Internet finden, Fahrrad, Auto oder Eisenbahn fahren, Schiff oder Flugzeug benutzen, schwimmen, tauchen)
- Einordnung in den Gesamtzusammenhang des bestehenden Weltbildes. [8]
Objektwahrnehmung
BearbeitenDie Eigenschaften von Gegenständen und deren Funktionen werden als Schemata in diese mentale Landkarte eingebaut:
- Form (von verschiedenen Seiten betrachtet),
- Gewicht (kann ich es hochheben?),
- Geruch (angenehm, unangenehm, ähnlich wie ...)
- Geschmack (angenehm, unangenehm, ähnlich wie ...)
- Oberflächenbeschaffenheit (hart, weich, schleimig, heiss, kalt usw.)
- Reaktionen (Geräusch und Bewegung eines Gegenstandes, der zu Boden fällt; Knopf klingelt beim Drücken).
- Taktile Dimensionen (gefühlte Größe eines Objekts
- Schmerz (heiß, sticht, beißt)
- Name (sprachliche Bezeichnung)
- Warnung (pfui! nicht berühren!)
- Zusammenhang zwischen verschiedenen Sinnesempfindungen, die dasselbe Objekt betreffen.
Objektwahrnehmungen werden durch Angleichung abstrahiert und durch Unterscheidung differenziert.
Interaktion mit Lebewesen
BearbeitenIn der Kindheit werden auch Objekte als Lebewesen eingestuft, weil sie ihren Standort verändern können (z.B. Sonne, Mond, fallende Blätter), weil sie Geräusche von sich geben (z.B. Bäume, Wind, Wasser)oder weil sie Ähnlichkeit mit Lebewesen haben (Puppen, Kuscheltiere, Spielfiguren).
Menschen, Tiere und als Lebewesen eingestufte Objekte treten als Akteure innerhalb einer mentalen Karte auf.
- Tatsächlich wahrgenommene Menschen und Tiere: (Wie reagieren diese auf meine Handlungen?)
- Durch Erzählungen suggerierte oder durch Medien dargestellte Menschen und Tiere: (Wie reagieren diese auf Handlungen von anderen Lebewesen?)
- Durch eigene Vorstellungskraft erzeugte Menschen und Tiere: (Was wäre, wenn dieser Mensch sich so verhalten würde?)
- Objekte, die als Lebewesen empfunden werden: (Die arme Puppe ist zu Boden gefallen und hat Schmerzen)
Ereigniswahrnehmung
BearbeitenWahrnehmung von Veränderungen an wahrgenommenen Objekten und Lebewesen (event perception). Die Veränderung vollzieht sich während der aktuellen Wahrnehmung.
- Tasse fällt zu Boden und zerbricht. Flüssigkeit breitet sich aus.
- Zwei Kugeln prallen aufeinander und bewegen sich anders weiter
- Flamme der Kerze bewegt sich, wenn jemand bläst. Dann erlischt sie.
Zum Ereignis gehören die entsprechenden Teilwahrnehmungen wie Geräusch, Gesichtsausdruck eines Beobachters.
Wahrnehmung als Lernprozess
BearbeitenWahrnehmung ist ein Lernprozess, bei dem eine Figur oder Gestalt von der als Hintergrund aufgefassten Umgebung getrennt und als Repräsentation gespeichert oder mit einer bereits vorhandenen Representation verglichen wird (Objektwahrnehmung).
Die Repräsentation der Wahrnehmung ist also eine ausgewählte Kombination von Sinneseindrücken aus verschiedenen Kanälen (foveales und peripheres Sehen, ganzheitliches und analytisches Hören, aktive und passive Berührungen, Wärme und Kälteempfindungen, Schmerz, Schmecken, Riechen, innere Befindlichkeiten wie Hunger, Langeweile).
Die sensorische Integration (sinnvolle Verknüpfung) der mit einem Erlebnis verbundenen Sinneswahrnehmungen erfolgt im Normalfall automatisch und erfordert keinen zusätzlichen Aufwand. Trifft dies nicht zu, ist die Wahrnehmung gestört und muss durch eine Therapie ins Gleichgewicht gebracht werden.[9]
Die Wahrnehmungen dienen zum Aufbau und zum laufenden Nachführen der mentalen Repräsentation der Umwelt und dem Aufbau von Erwartungen. Durch Erfahrungen wird die Wahrnehmung der Wirklichkeit angepasst.
Die mentale Repräsentation der Wahrnehmung (mentale Welt, Weltbild, en: Conception of the world) entsteht also nicht durch einen Prozess, den ein Objekt mit seinen physikalischen (= distalen) Reizen auslöst. Vielmehr erzeugt die innere Welt Vorstellungen, Handlungs-Schemata (Piaget) und Erwartungen (Gestalt-Zeichen Erwartungen nach Tolman).
Mit Hilfe der Sprache kann sich der Mensch bis zu einem Grade vergewissern, ob seine mentalen Repräsentationen mit denen anderer Menschen übereinstimmen.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Wahrnehmung ist ein psychophysischer Prozess, in dessen Verlauf ein Organismus aufgrund von äußeren und inneren Reizen eine anschauliche Repräsentation der Umwelt und des eigenen Körpers erarbeitet. (Meyers online Lexikon)
- ↑ Wahrnehmung ist der komplette Vorgang der Aufnahme von Sinneseindrücken und die integrative Verarbeitung von Umwelt- und Körperreizen. ('pflegewiki.de)
- ↑ Wahrnehmung ist das subjektive Konstruieren eines eigenen Weltbildes auf Grund von Sinneseindrücken aus der Umwelt. (Franken,Swetlana. Verhaltensorientierte Führung, Handeln, Lernen und Ethik in Unternehmen, Springer Verlag, ISBN 978-3-8349-9539-1_4)
- ↑ Hannelore Schwedes, Universität Bremen, Institut für Didaktik der Physik, Zur Bedeutung der Sinneswahrnehmung [[1]]
- ↑ Hans-Werner Hunziker, (2006) Im Auge des Lesers: foveale und periphere Wahrnehmung - vom Buchstabieren zur Lesefreude, Transmedia Stäubli Verlag Zürich 2006 ISBN 978-3-7266-0068-6
- ↑ Tolman E.C. (1948) Cognitive maps in rats and men, Psychol Rev 55:189-208
- ↑ Roth, G. und Menzel R. Neuronale Grundlagen kognitiver Leistungen, in: Neurowissenschaft(1996) ISBN 3-540-61328-5
- ↑ Piaget, J. (1978). Das Weltbild des Kindes. München: dtv/Klett-Cotta
- ↑ Félicie Affolter/ Walter Bischofberger : Nichtsprachliches Lösen von Problemen in Alltagssituationen bei normalen Kindern und Kindern mit Sprachstörungen, 2007, Neckar-Verlag, ISBN 978-3-7883-0293-1
Kategorie: Allgemeine Psychologie Kategorie: Lernpsychologie