Alle sehen wir mit Trost auf jedes neue Gerüst, das am Dom installiert wird. So lange noch an ihm gebaut wird, geht die Welt nicht unter. Dieser unerschütterliche Glaube hat Generationen von Baumeistern und Steinmetzen, von Planern und Künstlern begleitet. Alle wußten sie, dass sie zu Lebzeiten den Dom nicht würden vollendet sehen können. Aber alle vertrauten auf die göttliche Vorsehung und hofften, dass sich ihr Einsatz für die Kathedrale einstmals gelohnt haben werde.

Als moderne Menschen sind wir heute dazu angehalten, in zählbaren Ergebnissen und zurechenbaren Leistungen zu denken. Daher ist uns Heutigen die Idee besonders fremd, sich an einem Werk zu beteiligen, dessen Vollendung zu erleben uns erkennbar nicht vergönnt sein wird. Das macht den Kölner Dom, der als eine Art immerwährendes Bauwerk vor uns steht, um so staunenswerter. Er eröffnet auch dem modernen Menschen wieder einen Sinn für Transzendenz. Das Mittelalter stellte sich vor, in einem großartigen Gebäude das Himmlische Jerusalem auf Erden vorweg zu nehmen. Dürfen wir in solchen Fällen darauf vertrauen, dass Gott uns über Jahrhunderte hinweg dieser Bauidee zumindest nahe kommen lässt? Der Dom kann uns ein Zeichen dafür sein. Wir dürfen in Demut auf das Gottvertrauen der mittelalterlichen Baumeister blicken, die im 13. Jahrhundert mit einer Bauaufgabe begannen, deren Verwirklichung sie der göttlichen Vorsehung über Jahrhunderte anvertrauen mussten. Wer würde heute noch ein Projekt beginnen, bei dem er nur hoffen kann, dass weitere sieben Jahrhunderte zu seiner Vollendung die Energie aufgebracht werden wird?

Der Dom war als Königskathedrale geplant. Er wurde als steinernes Reliquiar für die Gebeine der Heiligen Drei Könige errichtet. Aber darüber hinaus sollte er die Kathedrale werden, in denen die Könige des Heiligen Römischen Reiches durch eine sakrale Handlung des Kölner Erzbischofs legitimiert werden. So hatte sich das zweifellos Konrad von Hochstaden vorgestellt, als er 1248 den Grundstein des Domes legte. Vermutlich hatte Friedrich von Saarwerden 1370 eine ähnliche Vision, als er die außergewöhnliche Westfassade planen ließ, die wir heute kennen. Gekommen ist es dazu nicht in der Form, wie sich das die Kölner Erzbischöfe hätten wünschen dürfen. Zwar konnten sie bis ins 16. Jahrhundert den Anspruch aufrechterhalten, dass ein Deutscher König am Dreikönigenschrein seine Aufwartung zu machen habe, um legitimiert zu sein. Aber wahrscheinlich ist es doch kein Zufall, dass die mittelalterlichen Baubemühungen am Kölner Dom in den Jahrzehnten enden, in denen die Königskrönung in Frankfurt üblich wird.

Seine vorläufige Vollendung erfuhr der Dom erst als Nationales Denkmal im 19. Jahrhundert. In sieben Jahrhunderten Bauzeit war ein Gebäude entstanden, dass einem einheitlichen Bauplan zu folgen scheint und heute geradezu als “vollkommene Kathedrale” bezeichnet wird. Kaum ein anderes Bauwerk des Mittelalters zeigt eine vergleichbare Einheitlichkeit im Baustil. Es schien, dass das einem ursprünglichen, einem genialen Plan geschuldet war - von dem wir heute aber wissen, dass es ihn nie gegeben hat. Ist es also eine Verkettung historischer Zufälle, die den Dom als Ideal der Gotischen Kathedrale erscheinen lassen? Ist es Vorsehung?

Vielleicht war es doch die erkennbar außergewöhnliche Leistung der ersten drei Baumeistergenerationen, die dem Dom geradezu eine Aura der Unnahbarkeit - und Unveränderlichkeit - gab. Meister Gerhard entwickelte den Riss des Kapellenkranzes aus der geometrischen Grundform eines regelmäßigen Zwölfecks. Meister Arnold vollendete den Hochchor als Glashaus neuplatonischer Lichtwirkung in einem hochgotischen Baustil, der damit prägend wurde für den gesamten Außenbau. Meister Johannes schließlich überwachte das Gesamtkunstwerk der Chorausstattung und verantwortete die Chorpfeilerfiguren in ihrer hochgotisch-manieristischen Schönheit. Die ausgewogene Harmonie aller Bauformen beeindruckt uns bis heute. Warum sollte das im Mittelalter anders gewesen sein? Den Anlauf zur Apotheose der Hochgotik aber nahm Meister Michael 1370, als er die Westfassade plante. Dieses beeindruckende Großwerk stellt bis heute alle anderen gotischen Fassaden durch ihre schiere bauplastische Präsenz in den Schatten. Die gewählte - auch zur Bauzeit schon historisierende - hochgotische Formensprache bekam damit im 14. Jahrhundert ihr erstes Revival. Noch im 19. Jahrhundert prägte sie als Bauform der Domvollendung unsere Idealvorstellung des neugotischen Stils.

Erst mit der Fertigstellung der Doppelturmfassade 1880 fand die äußere Silhouette des Domes zu ihrer ikonographischen Bildmacht. Dem Dom wuchs die Aura eines steingewordenen Nationalgedankens zu; seine größte emotionale Kraft aber gewann er erst als scheinbar unversehrtes Wahrzeichen im Ruinenfeld der Kölner Nachkriegszeit. Beim Staatsbegräbnis Konrad Adenauers war der Dom dann Mittelpunkt einer Zeremonie, die königliche Assoziationen weckte. Erst jüngst wurde die ungebrochene Bildmacht des Domes auch wirksam theologisch aufgeladen: hundert Jahre nach Ende des ersten Weltkrieges postulierte eine Lichtinstallation „Dona nobis pacem.“

Bis heute stehen wir tief berührt im Gesamtkunstwerk des Chores, dem die Baumeister diesen gedämpft-sonnigen Farbklang mitgegeben haben, der durch das reichlich einfallende Licht und die hohen pastellfarbigen Obergaden-Fenster geprägt wird. Wir erahnen die Subtilität der ikonographisch-theologischen Botschaften in der Komposition mehr als dass wir sie verstehen. Doch bemerken wir intuitiv, wie sich das Irdische auf Ebene des Chorgestühls über die Engel in den Arkadenzwickeln im bunten Licht der Gewölbe vergeistigt. Sulpiz Boisserée, dessen unermüdlicher Einsatz für die Vollendung des Domes im 19. Jahrhundert gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, hatte dies unnachahmlich konstatiert. Der Dom sei als Sinnbild des aus Edelsteinen erbauten himmlischen Jerusalems begriffen – und „auf die überraschendste Weise vergegenwärtigt“ worden.

Diesen Eindruck haben wir inzwischen wiedergewonnen, nachdem die doch erheblichen Schäden des Zweiten Weltkriegs weitgehend behoben sind. Das vielbeachtete Richter-Fenster war jüngst eine qualitätsvolle Ergänzung, mit dem der Dom nun auch ein Referenzwerk moderner Kunst besitzt. Gleichzeitig gelang es, auch im Querschiff den warmtonigen, gelb-orange grundierten Farbklang wiederzugewinnen. Dieser wird durch die noch Jahrzehnte beanspruchende, vollständige Wiederherstellung der Obergadenfenster noch intensiver werden.

Die weiterführende Bauplanung der Bauhütte reicht schon heute bis über das Jahr 2070 hinaus. Der Zahn der Zeit fordert beständige Restaurierung auch an tragenden Teilen. Und zudem hatte noch jeder Baumeister den Ehrgeiz, dem Dom ein weiteres kunstvolles Element hinzuzufügen, das einzig dem ganz speziellen Qualitätskriterium des Domes genügen muss: es darf – über Jahrhunderte betrachtet – nicht gegen den einmal gesetzten Maßstab abfallen. Die Vollendung des Domes ist tröstlicherweise weiterhin eine Aufgabe für Generationen.


Köln, in den Ostertagen 2020


Rüdiger Booz