Benutzer:Bernd Rieke/die Kindheit des RL in Danzig

Aus meiner Jugendzeit [1]

(Eine Kindheit und Jugendzeit in Danzig) Nacherzählt von Richard Lipinski etwa um 1900


Wir saßen im großen Festsaal und lauschten dem Konzert. Mehrere Musikstücke hatten bereits das vorzügliche Orchester, zu Gehör gebracht. Nun trat der Arbeitermännerchor vor und bald erklang in melodisch gekonnten Akkorden das Rückertsche Lied in den Saal:

Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit,

Klingt das Lied mir immerdar.

Ach, wie ist so weit,

Ach wie ist so weit,

Was mein, was mein einst war.

In dem Lied bringt der gereifte Dichter seine heiße Sehnsucht nach den glücklich verlebten Kindertagen zum Ausdruck und will auch die Hörer des Liedes an die glückliche Kinderzeit erinnern. Eine ganz andere Stimmung hatte das Lied bei meinem Freund ausgelöst. Er wurde weich und mahnte zum Aufbruch, ich folgte ihm gern. Ein schöner lauer Herbstabend lud zu einem Spaziergang durch den schönen Stadtpark ein. Wir schlenderten dahin, ließen uns an einem lauschigen Plätzchen nieder und nun begann Robert von seinen Kindertagen zu erzählen, an die das Lied ihn so plötzlich erinnert und in eine wehmütige Stimmung versetzt hatte.

Der letzte Sonntag im November des Jahres 1874 war ein außergewöhnlich schöner Herbsttag. Hell strahlte die Sonne am wolkenlosen Himmel und prallte grell zurück von den niederen meist weißgetünchten Häusern der Mittelgasse zu Schillingsfelde. In dem geräumigen Hofe eines dieser Häuser spielten zwischen Ackergerät, Wagen und Stallgebäude mein älterer Bruder Hans2, meine Schwester Martha3 und ich4, jeder in Holzpantinen und mit blauer Leinenschürze geschmückt. Mitten im Spiele wurden wir von der Stiefmutter gerufen, sie übergab uns dem Gemeindediener, der uns zum Armenvorsteher des Bezirks brachte. Bei diesem erwarteten uns zwei Frauen, deren eine uns der Armenvorsteher als unsere Mutter bezeichnete. Er teile uns mit, dass wir fortab bei der Mutter bleiben würden, ermahnte uns zur Dankbarkeit und forderte Hans auf der Mutter die Hand zu küssen. Dann entließ er uns mit der Mutter und ihrer Freundin. In dem Anzuge, so wie wir vom Hofe abgerufen wurden waren, ging es nun durch das belebte Schidlitz nach Danzig.

In einem Hause „An der Pferdetränke" teilte Mutter5 eine Wohnung, bestehend aus großer Stube, einem kleinen Stübchen und einer kleinen Küche mit einem alten Ehepaar, dessen Sohn und Schwiegertochter. Die schon reichlich ausgenützte Wohnung erhielt nun noch drei Bewohner mehr. Hier trafen wir mit unserem jüngsten Bruder Max6 zusammen, so dass die Familie bis auf den Vater nach viereinhalbjähriger Trennung wieder vollzählig beisammen war.

Wie war das alles gekommen?

Grundverschieden in ihrer persönlichen Veranlagung und ihrer religiösen Anschauung hatten die Eltern im Juli des Jahres 1863 in der Marienkirche zu Danzig den Ehebund geschlossen. Die Mutter stammte aus Pommern, war von untersetzter kräftiger Gestalt, sparsam mit Worten und protestantisch. Sie hatte bereits das 30. Lebensjahr überschritten, als sie in die Ehe trat. Mein Vater stammte von polnischen Eltern ab, war über 5 Jahre jünger als die Mutter, katholisch und von lebhaftem Temperament. Ob das eheliche Zerwürfnis durch die Unterschiede in der persönlichen Veranlagung oder in der gegensätzlichen religiösen Auffassung begründet war, mag dahin gestellt sein. Nach fast achtjähriger Ehe trat die Trennung der Eltern ein.

Im Jahre 1870 wohnten die Eltern im Erdgeschoss des alten, in sich zusammengesunkenen Hauses, Zizausche Gasse 8. Am Pfingstmorgen stahl sich die Sonne durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden und erhellte die Stube. Während die Geschwister noch in den Betten lagen, spielte ich am Fenster am Tische mit den vom Weihnachtsfest übrig gebliebenen Papierketten, die den Baum geschmückt hatten und in der Muffschachtel der Mutter aufbewahrt waren. Gerade als Mutter die gefüllte Kaffeekanne auf den Tisch setzte, klopfte es erst an der Haustür und dann an den Fensterladen. Der Vater7, der sich von der Familie getrennt hatte, begehrte Einlass, doch die Mutter öffnete nicht. Die Fensterläden wurden aufgesprengt, die Fenster klirrten und herein stieg der Vater, stieß die Kaffeekanne um, mich mit dem heißen Trank verbrühend. Der Vater ließ nach kurzer Auseinandersetzung mit der Mutter seinen Freund und den Großvater8 herein und bald räumten sie die Möbel aus, das allernötigste der Mutter und dem zurückgelassenen jüngsten Kinde Max lassend. Wir drei älteren Kinder aber wurden mit den Möbeln weggeführt und in einer Wohnung „An der Pferdetränke" untergebracht. Hans war damals noch nicht sieben, Martha fünf und ich drei Jahre alt. In der neuen Wohnung wurden wir der Frau Starke übergeben, mit der Vater fortab lebte und fanden deren Sohn Max vor, der im gleichen Lebensalter wie Hans stand. Wir hatten also die Mutter mit der Stiefmutter eingetauscht und einen Stiefbruder erhalten. Uns ging es in den nächsten Jahren ziemlich gut, doch hatten wir Kinder unter der Stiefmutter und der eintretenden Not stark zu leiden.Danzig war damals noch der blühende Handels- und Stapelplatz für Holz und Getreide aus Polen. Längs der Weichsel dehnten sich die Stapelplätze für Holz und die Holzfelder aus. Damals gab es noch wenige Schneidemühlen. Die rohen Baumstämme aus Polen, die Eichen, Fichten und Tannen wurden auf den Holzfeldern zuerst noch mit der Axt zu Balken und Eisenbahnschwellen verarbeitete, und mit der Säge im Handbetrieb zu Bretter und Bohlen getrennt.

Auf diesen Holzfeldern hatte der Vater seine Laufbahn als Spänejunge begonnen, war Balkenhauer und Modelmeister geworden und hatte sich das Vertrauen der Holzfirma erworben, bei der er arbeitete. Er war ein strebsamer und, wie aus vorgefundenen Büchern leicht zu schließen ist, auch ein belesener Mann. Lebhaft steht mir noch in Erinnerung, wie er sich um mich, den damals dreijährigen bemühte. Mit Griffel und Schiefertafel versuchte er mir die Anfangsgründe des Schreibens beizubringen. Als ihm dies gelang, belohnte er mich mit einem „Dreier“ den ich nach Gutdünken verwenden konnte. Mein Wunsch, dafür bei einem Fleischer Sülze zu erstehen, ging jedoch nicht in Erfüllung. Er wusste, wie schwer er es gehabt hatte, sich eine geachtete Stellung zu erringen, darum wollte er es seinen Kindern leichter machen im Leben vorwärts zu kommen. „Meine Kinder sollen einmal leichter ihr Brot verdienen als ich“, so sprach er zu uns und handelte danach. Hans und später Martha wurden auf eine gehobene katholische Schule nach der Heiligen Geistgasse geschickt. Seine gute Absicht konnte er leider nicht durchführen, sein Siechtum und sein früher Tod machten ihm dies unmöglich.

In der ersten Zeit ging es uns bei der Stiefmutter gut, wenn auch die Stulle und der Belag größer waren, wenn der Vater daheim war. Zu Weihnachten gab es einen bis an die Stubendecke reichenden geschmückten Tannenbaum, dazu Eingelegtes auf Tellern, Äpfel, Nüsse, Pfefferkuchen und Geschenke. Im folgenden Frühjahr zogen wir nach der „Silberhütte“. Diese Sackgasse war vom hohen Festungswall umsäumt und am Ende von der Radaune begrenzt. Dort standen nur wenige Wohnhäuser. Der große Holzbeschlag vor unserem Hause deckte den Kellereingang und bot ein schönes Ruheplätzchen für den Sommer. Die Zizausche Gasse stieß an denselben Stadtwall, deshalb benützte Hans oftmals die Gelegenheit in einem unbewachten Augenblick über den Wall hinweg zur Mutter zu schleichen. Doch stets wurde er von der Mutter heimgeschickt, bekam dafür vom Vater Prügel und gab schließlich weitere Annäherungsversuche an die Mutter auf.

Vater wurde von der Holzfirma beauftragt, die von derselben in Polen angekaufte Wälder abholzen zu lassen und die Abflößung des Holzes zu überwachen. Dafür bekam er acht Taler Lohn die Woche, der zur Hälfte von Frau Starke für die Erhaltung der Familie abgehoben wurde. Vater war darum Monate lang von zu Hause fort. Bei dieser Arbeit holte er sich jedoch den Todeskeim. Wieder wurde umgezogen doch diesmal ging es nach der Vorstadt hinaus aufs Land. Das Haus, wohin wir zogen, lag in Schladahl, ziemlich hoch an der Lehne des Stolzenbergs allein. Mit einer gewissen Wohlhabenheit wurde die Wohnung eingerichtet. Es waren ein kleiner Obstgarten und Gemüseland vorhanden, Kartoffelfeld wurde dazu gepachtet und im Stall wurden zwei Schweine gefüttert. Doch bald verschlechterte sich unsere Lage. War der Vater nicht daheim, dann wurden wir von der Stiefmutter schlecht behandelt, kam Vater zurück, dann wurden wir bei ihm verklatscht. Ihr Junge wurde in allem vorgezogen und oftmals erhielten wir für ihn vom Vater die Prügel.

Von einer Reise kam aber der Vater erkrankt heim. Eine schwere Erkältung brachte ihm die Wassersucht und nun war er mit kürzeren Unterbrechungen bald zu Hause, bald im Krankenhause. Der Wohlstand löste sich allmählich auf. Nahrungssorgen und Nahrungsmangel traten ein, und bald war Schmalhans bei uns Küchenmeister.

Der Herbst kam. Mir wurde es zu Hause zu einsam, die Geschwister gingen in der Stadt zur Schule. Ausgerüstet mit Griffel und Schiefertafel wanderte ich 5 ½ Jahre alt nach der Schule am „Krummen Ellenbogen“, begehrte Aufnahme und fand in der „dritten“ Klasse ein Unterkommen. Zu Ostern saß ich schon in der „zweiten“ Klasse. Das von mir bei der Schulprüfung vorgetragenes Gedicht „Der Riese Goliath“ war das Mittel der Beförderung gewesen. Hans und Martha mussten die teure Stadtschule aufgeben und gingen fortan mit mir zusammen zur Schule.

Danzig liegt nach Süden zu an dem baltischen Höhenzug. Durch eine Talmulde führte der Weg nach Schidlitz. Links von diesem Wege liegt an der Höhe Schladahl und gegenüber an der Höhe „Die große Mulde“. Wir zogen nach der großen Mulde. Eine alte Dame, von der erzählt wurde, dass sie einst ein großes Vermögen besessen und verprasst hatte, besaß hier noch ein kleines bescheidenes Häuschen. Die Hälfte dieses Häuschen mit dem der Berglehne hinanstrebenden Acker wurde uns vermietet. Stube und Küche boten nicht für uns allen Raum und so mussten wir uns zeitweise mit dem Stall bescheiden, den wir mit den Hühnern teilten. Vater war daheim. Sein Zustand verschlechterte sich indes und er musste ins Lazarett. Wenn Frau Starke ihn dort besuchte, dann wurden wir in der Stube eingeschlossen und die Fensterläden zugeriegelt. An einem solchen Besuchstag versuchte die Mutter sich uns zu nähern, von Nachbarsleuten hatten sie erfahren, dass wir Not litten und suchte uns durch das Versprechen, Mohnsemmeln zu geben, zu ermuntern, die Fenster zu öffnen. Allein wir waren so eingeschüchtert, dass wir selbst durch dieses Angebot uns nicht verlocken ließen, dem Gebot zu trotzen. Wir öffneten nicht.

Das Grundstück war verwahrlost. Jahrelang war aller Kehricht auf dem Hofe aufgestapelt wurden. Wir mussten nun den Kehricht und den Dünger auf den Acker tragen, diesen untergraben und mit Kartoffeln bestecken. Bei diesen Aufräumungsarbeiten fanden wir auch manches Geldstück, mir fiel sogar einmal ein „Achtehalber“ (2 ½ Silbergroschenstück) in die Hände.

Die alte Dame lebte ihr Leben für sich, huldigte aber gern dem Branntwein. Kamen die Schornsteinfeger, dann nahmen sie die alte Dame in die Mitte und mit Sing und Sang und Lärm ging es zur Schänke. Gerade als sie einmal Plinsen gebacken hatte, kam wieder die schwarze Gesellschaft mit Zylinderhut und Besen und führten sie zum Trinkgelage. Wir eigneten uns derweil die Plinsen an, die sie nicht in ihrem Rausche vermisste.

Die Nahrung wurde bei uns immer knapper, es kam vor, dass wir früh ohne etwas genossen zu haben, zur Schule mussten und dass sich dieser Vorgang mehrere Tage nacheinander wiederholte. Oft stillten wir unseren Hunger mit unreifem Obst, das wir auf dem Schulweg pflückten.

Dann wurde es Herbst.

Kamen wir aus der Schule, dann mussten wir Ährenlesen oder Kartoffeln nachhacken, das heißt von abgeernteten Kartoffelfeldern mussten wir durch tieferes Nachgraben nochmals ernten. Eine mühsame Arbeit für Kinder im zarten Alter.

Einst waren wir auf dem Stolzenberg dieser Beschäftigung nachgegangen und wurden von der Nacht überrascht, ehe unsere Handkörbe gefüllt waren. Da versuchten wir zu ernten, was wir nicht gesät hatten. Als wir gerade bei dieser ersprießlichen Tätigkeit waren, sprengten Reiter heran. Wir versteckten uns furchtsam und schuldbeladen in die Kartoffelzeilen und getrauten uns nicht zu erheben, als die Reiter längst verschwunden waren.

Nun ging es heim, doch die Phantasie steigerte die Furcht. Am Friedhof zu Stolzenberg befand sich ein Teich, von dem es hieß, dass in ihm jedes Jahr einer ertrinken müsse. So oft wir auch in diesem Teich gebadet hatten, in der Nacht schienen doch die Spukgestalten aus ihm aufzusteigen. An dieser Stelle mussten wir vorüber, und uns war es unheimlich zu Mute, hörten wir doch wieder Pferdegewieher. Wie atmeten wir erleichtert auf als wir an dieser düsteren Stelle vorüber waren, die Talmulde erreichten und in den Bereich von Menschen kamen. Die Straßen waren schon menschenleer und doch mussten wir noch zur Mulde emporsteigen. Frau Starke hatte diesmal wirklich um uns Angst gehabt.

Dass wir in solcher Not auch die Stachelbeeren heimsuchten und dem Schmied in die Birnen stiegen, wer will hungernde Kinder dafür schelten.

Im Garten von Keuscher gab es viel Fallobst um das sich niemand kümmerte. Wir überstiegen den Zaun um es aufzulesen, doch plötzlich trat hinter einem Baum ein Mann hervor, der uns beobachtet hatte und wollte uns ergreifen. Wir machten kehrt und suchten das aufgelesene Obst in Sicherheit zu bringen. Doch vergeblich. Beim Überklettern des Zaunes mussten wir, die in der Schürze geborgener Früchte fallen lassen. Meine Schwester entschlüpfte kriechend durch eine Zaunslücke. Von ihr hielt er triumphierend einen Strumpf in der Hand, den er ihr hatte noch abstreifen können.

Bei all der Not kamen wir noch in den Verdacht der Schlemmerei. Für den im Kehricht gefundenen „Achtehalber“ kaufte ich sechs Mohnsemmeln, die ich mit meinen Geschwistern teilte, jeder erhielt zwei. Eine Semmel verzehrte ich auf dem Schulweg, die zweite barg ich unter meiner Weste, doch die Semmel war größer als die Weste und lugte oben heraus. Das bemerkte der Lehrer, zog sie heraus und warnte mich vor dem Naschen. Bald musste er sich überzeugen, dass es bei uns anders lag. Während die anderen Kinder ihre Schmalzstullen an der heißen Ofentür rösten ließen und verzehrten, mussten wir zusehen, weil wir nichts zu beißen mit hatten. Verstohlen lasen wir vom Hofe das Brot auf, das andere Kinder den Hühnern zu geworfen hatte. Einmal beobachtete mich der Lehrer, wie ich einen Klassenkameraden um ein Stückchen Brot bat. Da kam er zu mir, stellte sich hinter mich hob meine Schürze empor und durch Spott für mich Brot bittend, die Schulklasse. Bald war die Schürze gefüllt, ich eilte über den Schulhof und verschlang im Abort mit Heißhunger das empfangene Brot. Der Hunger war gestillt aber mit bitterem Weh haftet mir noch immer diese Scham im Gedächtnis. Kinder empfinden taktlose Wohltaten doppelt schmerzlich.

Zeitweilig trat beim Vater eine Besserung ein, er konnte vorübergehend das Lazarett verlassen. In der Wohnung konnten wir aber nicht bleiben. Zu einer eigenen Wohnung reichten die Mittel nicht mehr aus, und so fanden wir in Schillingsfelde bei anderen Leuten im Hausflur Unterkunft. Vater und die Stiefmutter schliefen im Hausflur und wir auf dem Boden. Auch auf dem Krankenbette teilte er mit uns Kindern, wenn er einmal was Besseres erhielt. Sein Zustand verschlimmerte sich und er musste wieder das Lazarett aufsuchen.

Wir Kinder waren auch hier nicht müßig. Vom Felde brachten wir heim, was wir erlangten. Im Walde „Zu den drei Schweinsköpfen“ sammelten wir Buchenkerne, schälten sie und setzten sie an einen Bäcker als Ersatz für Mandeln ab. Unseren Hunger stillten wir oft an einer Wrunke9, die wir dem Feld entnahmen und notdürftig mit der Kartoffelforke abputzten.

Frau Starke beanspruchte für uns von der Stadt Armenunterstützung. Ihre Familienverhältnisse wurden ermittelt und als sich herausstellte, dass sie nicht die rechtmäßige Mutter war, wurde die Mutter ermittelt und ihr die Kinder zugewiesen.

Der körperliche Zusammenbruch des Vaters zerrüttete seine wirtschaftlichen Verhältnisse und durch diese zertrümmerte Existenz kamen wir wieder zur Mutter.

Die viereinhalbe Jahre Trennung waren an der Mutter nicht spurlos vorüber gegangen.

Von ihrem Hausstand wart ihr wenig geblieben. Mittel hatte sie keine und deshalb musste sie sich noch mühsam eine eigene Existenz sichern. Als sie uns aufnahm war sie wieder bei ihrer alten Herrschaft Klawitter, der sie jahrelang gedient hatte, diesmal als Aufwartefrau tätig.

Eine schwere Arbeit von morgens früh um 6 Uhr bis abends 9 Uhr für neun Mark Wochenlohn und das Essen.

Nach der überstandenen Hungerkur schmeckte das Essen bei der Mutter doppelt gut. Es gab auch hier keinen Überfluss, doch brachte die Mutter täglich einen Krug mit Essen heim, der ihr von der Herrschaft für die Kinder bereitgestellt wurde. Das war ein gutes kräftiges Essen dazu reichlich. Zu Weihnachten gab es selbst zubereiteten Pudding mit Kirschen, oh wie das mundete. Nach jahrelanger Pause wurde wieder ein Weihnachtsbaum geputzt. Zwar war er nur eine Pyramide, ein drehbares Holzgestell, geschmückt mit Tannenreisern, bunten Papierrosetten und Kerzen, aber es war doch wie Weihnachten. Die Hungerjahre hatten mich bös mitgenommen. Ich litt an Körperschwäche und Schwindelanfällen. Gerade in der kritischen Zeit wo Kinder im besten Wachstum sind, hatte mich das Missgeschick getroffen und so war ich körperlich zurückgeblieben. Bei einer von der Schule veranstaltete Messung der Schüler wurde festgestellt, dass ich im Alter von zehn Jahren nur 102 Zentimeter groß war und damit etwa das Maß eines fünf- bis siebenjährigen normal entwickelten Knaben erreicht hatte.

Von der Schule in Schidlitz kamen wir nach der katholischen Schule am „Niederen Seigen“. Mein Bruder Hans kam in die zweite Klasse, ich in der sechsstufigen Schule in die dritte Klasse, wo ich auch noch das folgende Schuljahr verblieb.

Der Zustand in der Wohnung „An der Pferdetränke“ wurde für drei Familien unhaltbar. Die Mutter sah sich deshalb nach einer eigenen Wohnung um, die sie in einem Hause auf Brabank im ersten Stock fand. Im Frühjahr 1875 zogen wir dorthin. Nunmehr hatte es die Mutter nicht mehr so weit zur Arbeitsstelle, sie brauchte nur um die Ecke zu gehen, dann war sie dort. Das hatte den Vorteil, dass wir sie auch einmal am Tage zu sehen bekamen. Ein Hinterherlaufen duldete sie nicht, doch besuchten wir sie. Der „Minna“ ihre Kinder wurden nie zurück gewiesen.

Im selben Stockwerk wohnte das Ehepaar Roscheneski. Der Mann arbeitete auf der Werft und seine Frau schneiderte daheim. Die Ehe war kinderlos und da die Frau Kinder gern hatte, so kümmerte sie sich am Tage um uns. Wenn Bruder Max nachmittags aus der Kinderbewahranstalt heim kam, dann bekam er seine geliebten Bratkartoffeln, wenn er auch während deren Zubereitung oftmals „greinend" darüber einschlief. Sie wurde bald unsere „Tante Roscheneski“.

Fast alle Sonntage besuchten wir den Vater im Lazarett. Zu Weihnachten beschenkte er uns von seinen am Krankenbett erhaltenen Gaben. Die Mutter konnte sich nicht zu einem Besuch des Vaters entschließen. Entweder befürchtete sie dort ihre Rivalin, Frau Starke, zu treffen, oder sie konnte den Groll gegen ihn nicht verwinden. Da kam Ostern des Jahres 1875. Am zweiten Ostertage musste der Vater fühlen, dass es mit ihm zu Ende gehe. Wahrscheinlich wollte er versöhnt von der Mutter scheiden und ließ sie deshalb zu sich rufen. Sie folgte auch dem Rufe. Als sie aber nach 4 Uhr nachmittags das Lazarett erreichte, war er bereits verschieden. Kurz vor der Vollendung seines 38. Lebensjahrs hauchte er am 5. April 1875 sein Leben aus, und war dadurch vom jahrelangen Siechtum erlöst. Wenige Tage darauf schritt die Mutter mit den Kindern hinter den einfachen Sarg des Vaters dahin, der auf dem Lazarettfriedhof eingebettet wurde. Das Grab haben wir jahrelang liebevoll gepflegt und erhalten.

Der Brabank eröffnete uns eine völlig neue Welt, bisher hatten wir nur das Land gekannt. Hier wurden wir mit dem Wasser, dem Leben und Treiben auf ihm bekannt. An ihm mündete die Radaune in die Mottlau. Diese wieder bildete den Innenhafen Danzigs und mündete unweit des Zustroms der Radaune, an dem Milchpeter in die Weichsel, die eine Meile stromabwärts in Neufahrwasser, dem Seehafen Danzigs, in die Ostsee abströmte. Der rege Schiffsverkehr auf der Mottlau gab täglich wechselvolle Bilder und Stoff zum Staunen.

Am Brabank lag die Kesselschmiede und an der Mottlau die alte Klawittersche Werft. Auf ihr wurden noch die großen hölzernen Segelschiffe gebaut, die Vollschiffe und Barken, wie sie die Reederei Link in stattlicher Zahl ihr Eigen nannte und zur Verfrachtung des Holzes von Danzig dienten. Wir waren noch Zeugen des Stapellaufes des letzten auf dieser Werft gebauten Vollschiffes, das majestätisch vom Stapel in die Fluten der Mottlau glitt, besetzt mit all den Arbeitern, die an seiner Vollendung mitgewirkt hatten. Die Werft ging ein. Der Schiffbau wurde nach Strohdeich an der „toten Weichsel“ verlegt.

Wir wurden völlig mit dem Wasser vertraut. In der städtischen Badeanstalt im Stadtgraben jenseits der Mottlau machten wir unsere ersten Schwimmversuche.

Die Radaune ist an der Mündung beträchtlich erweitert und dient außerhalb der Fahrrinne der dort befindlichen Schneidemühle als Sammelplatz von Flößen. Im Jahre 1875 brannte die Mühle ab. Der Brand währte drei Tage und bot einen schaurig schönen Anblick. Die Holzflöße waren unser Tummelplatz und manche Wasserfahrt wurde auf ihnen riskiert. Hans widmete sich mit Erfolg dem Angelsport, zur Freude der Mutter, wenn seine Beute ein Zuschuss und eine Abwechslung der Mahlzeit brachten, zu ihren Verdruss, wenn er dabei mit dem nassen Element unliebsam Bekanntschaft gemacht hatte. Einmal entkam er knapp dem Ertrinken. Er hatte sich ein Floß frei gemacht, um von ihm aus zu angeln und versuchte das Floß mit seiner Angelrute nach einer tieferen Stelle zu schieben. Die Rute glitt ab, und Hans kam auf dem Rücken im Wasser zu liegen. Noch rechtzeitig gelang es mir ihm meine Angelrute zu reichen, die er erfasste und sich dem nassen Element entwand. Seine Soldatenmütze hatte aber die Strömung auf Nimmerwiedersehen davon getragen.

Bald darauf machte ich mit der Mottlau nähere Bekanntschaft. Bei einem Bäcker auf dem Fischmarkt gab es die gern gekauften weißen, langen Kümmelbrote, drei Stück für einen Gulden. Hans sollte an einem schönen Sommertage ein solches Brot holen, übergab aber mir den Auftrag und zog es vor Angeln zu gehen. Mit dem heißen, eben dem Backofen entnommen Brote unter dem Arm, den Restbetrag von einem halben Gulden krampfhaft in der Hand haltend, so trat ich den Heimweg an. An der Mottlau „Am brausenden Wasser“ wurden Weichseldampfer entladen und die Ware knapp am Bollwerk aufgestapelt. Statt gerade meine Straße zu ziehen, balancierte ich auf der schmalen verbleibenden Kante des Bollwerkes an der Ladung vorbei und plumps lag ich in der dort ziemlich tiefen Mottlau. Beim Fallen hatte ich instinktiv die Hand geöffnet und das Geld sank in die Tiefe. Das heiße Brot zerbrach durch das Aufschlagen auf das kalte Wasser. Schiffer fischten mich und das Brot aus dem Wasser und pudelnass kam ich mit den nassen zwei Brothälften heim. Hans bekam seine Keile, weil er mich geschickt hatte und angeln gegangen war und ich bekam sie, weil ich ins Wasser gefallen und dabei das Geld verloren hatte. Der angerichtete Schaden wurde dadurch nicht geheilt.

Von Vaters Geschwistern lernten wir seinen Bruder Wilhelm10 kennen. Eine gedrungene, kräftige Gestalt mit braunem Vollbart. Alle vierzehn Tage kam Onkel Wilhelm mit seiner „Lomme“ von Tiegenhof nach Danzig, Bier und Tiegenhöfer Branntwein bringend. Die Lomme war eine große Schute und legte „Am brausenden Wasser“ vor dem Gasthaus „Zur Weintraube“ an, sie war uns ein willkommener Tummelplatz.So bot Brabank uns immer neue Eindrücke.

Doch lange sollten wir auf ihn nicht bleiben. Aus ihrer Ehe hatte die Mutter ein Hochzeitsgeschenk, eine große Wanduhr aus Stahl gerettet, die öfters versagte. Eines Tages schaffte Mutter sie zur Reparatur fort. Der Hauswirt argwöhnte, Mutter schaffe die Uhr auf das Pfandhaus. Um seine Wohnungsmiete besorgt, kündigte er ihr die Wohnung. Das kränkte die Mutter derart, dass sie es verschmähte den Hauswirt um die Rücknahme der Kündigung zu bitten. Dadurch kamen wir in eine außerordentliche schlimme Lage. Der Winter war sehr streng, die Wohnungsnot groß und als der Umzugstermin kam, hatten wir keine Wohnung. Die Familie wurde geteilt. Hans und ich wir kamen zu den Großeltern, die in der Köschegasse eine kleine Wohnung inne hatten, in der wir auf den Dielen schliefen, die Mutter, Martha und Max fanden in der Kellerwohnung der Frau Eppke am Kaschubischen Markt in einem fensterlosen Brettverschlag Schlafraum und Herberge. Eine trostlose Zeit.

Nach einigen Wochen gelang es der Mutter endlich in der kleinen Wollwebergasse eine Wohnung, Stube, Küche und Remise zu mieten, und die zerstreute Familie wieder unter einem Dach zu vereinigen. Das Gässchen ist so schmal, dass gerade der städtische Müllkarren durchfahren kann, reicht von der Langgasse bis zum Zeughaus und mündet im Knie auf dem Kohlenmarkt. Wir konnten die hohen Mauern, der vorgelagerten Wollwebergasse bestaunen, die Wohnung war darum ziemlich finster und kein Sonnenstrahl konnte sie erreichen.

Durch das lange Stehen an der Waschbütte waren die Füße der Mutter so wund geworden, dass sie nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Sie begann deshalb daheim für die Klawittersche Werft Werg zu spinnen. Wir mussten helfen. Werg besteht neu aus geteertem Hanf und wird alt aus verbrauchtem Tauwerk, das wieder in seine eigenen Bestandteile aufgelöst wird, gewonnen. Das neue Werg verarbeitet sich leicht, riecht aber stark nach Teer, das alte Werg verarbeitet sich schlecht, weil er kurzfasrig ist und viel Staub entwickelt. Werg wird zum Dichtmachen der Schiffs- und Deckplanken gebraucht und wird deshalb in verschiedenen Stärken gesponnen. Das Spinnen wird in der Weise besorgt, dass das Werg mit der Hand zu einem immer fortlaufenden sehr starken Faden gedreht und über die Knie auf einen Knaul aufgewickelt wird. Jeder Knaul wiegt etwa ein Pfund und für das Spinnen eines Zentners Werg gab es 2 bis 2,40 Mark, je nach der Stärke des Fadens. Trotzdem die Knie mit starken Segelplanen bei der Arbeit bedeckt wurden, zog der Staub und Teergeruch doch in die Kleider und ließ sich daraus nicht so leicht vertreiben. Mir haftete der Geruch auch in der Schule an und gab mir deshalb der Lehrer den Spitznamen „Pechfritze“. Die großen Kinder mussten das Werg von und zu der Werft tragen, immerhin ein weiter Weg.

Hans begann eine eigene Produktion mit Handel und gewann mich als Gehilfen, damals kamen die Hampelmänner auf, kleine Ziehfiguren, die Kühn in Neuruppin bis zu acht auf einen Bogen druckte. Alte Pappschachteln erbaten wir uns in den Weißwarengeschäften. Auf die so gewonnene Pappe wurden die Bilder aufgeklebt, dann ausgeschnitten und mit Bindfaden zusammengesetzt. Ein Schulfreund hatte Hans in die Technik dieser Arbeit eingeweiht. Nun ging der Handel los. Wir boten Hampelmänner in den Geschäften und auf der Straße feil, Stück für Stück einen Silbergroschen und darüber. Ich war ein kleines, schmales Kerlchen und so traf es sich mehrfach, dass ich neben dem Kaufpreis noch eine Münze als Geschenk erhielt, mehr bekam, als ich verlangte, oder aber auch den geforderten Betrag bekam und den Hampelmann behalten konnte. Rechnete ich zu Hause die erlangte Summe zusammen, so beanspruchte Hans nicht nur der ihm zustehendem Betrag, sondern er wollte auch die Nebeneinnahmen haben. Er bestand so hartnäckig auf seine ungerechte Forderung bis die Mutter den Streit handgreiflich zu meinen Gunsten schlichtete. Weihnachten endete dieser Handel.

Die allgemeine Not war in dem strengen Winter groß, selbst die Weihnachtsbäume fanden nicht genügend Absatz und große Mengen unverkaufter Kiefern wurden am Zeughaus aufgestapelt. Von hier holten wir sie uns als Feuerholz nach unserer Remise.

In diesem Winter bekam ich das erste silberne Zwanzigpfennigstück in die Hand. Bei Schneegestöber erhielt ich eines Abends eine „Fledermaus“ (altes Zwanziggroschenstück) um beim Bäcker auf dem Holzmarkt Brot zu holen. Ich hatte aber nicht bemerkt, dass vor dem Zeughaus die Pulmannwagen mit ihrer tiefherabgebogenen Deichsel auf den Platz gefahren waren. Plötzlich stieß ich an eine Deichsel und schoss darüber weg im Schnee, mein Geld war dahin. Weinend suchte ich vergeblich in dem Schnee nach der Münze. Da erkundigte sich eine Dame nach meinem Schmerz und gab mir, als sie mein Missgeschick erfuhr, ein neues Zwanzigpfennigstück. Ich war froh Ersatz erhalten zu haben, lernte die neue Reichsmünze kennen, und konnte ohne Scheltworte der Mutter das Brot bringen.

Unsere nächste Wohnung war ein Dachstübchen mit Boden auf der Pfefferstadt, Eingang Baumgartsche Gasse. In dem Hause war wirklich die Armut beieinander. Das unter uns gelegenes Stockwerk bestand aus einem Korridor, auf dem in einer Ecke der offene Herd stand, und von dem aus es zu den zwei Wohnungen, bestehend je aus einer Stube, ging. Zu einer dieser Wohnung gehörte auch eine große Kammer, die wieder untervermietet war. Da sie lichtlos war, so hatte man einfach einen Teil der Decke beseitigt und uns damit zugleich eines Teiles des Fußbodens beraubt, der zu unserem Dachboden gehörte. Unser Essen mussten wir auch an dem offenen Herde kochen, denn in der Stube stand nur ein kleiner Kanonenofen. Mutter hatte ihr Aufwartetätigkeit wieder aufgenommen und die Nachbarn gebeten uns das bereit gestellte Mittagbrot fertig zu machen. Statt des zugeteilten Essens bekamen wir oft weniger oder eine Wassersuppe. Dem half aber die Mutter schnell ab, in dem sie anordnete, dass in einer Woche immer einer von den drei ältesten Kindern um elf Uhr aus der Schule kommen sollten, um das Mittagessen zu bereiten. Fehlte uns auch die Geschicklichkeit der Köchin, so erhielten wir doch wenigstens das uns zugedachte Essen. Einmal, als ich an der Reihe war, stieg ich mit dem eisernen.Grapen11 in der einen und die Kaffeekanne in der anderen Hand die steile Treppe herab, glitt aus und war schnell unten auf der Diele. Doch Glück muss der Mensch haben. Die Kaffeekanne stand unversehrt auf der Treppenstufe, der eiserne Grapen11 lag heil auf der Diele und nur ich hatte eine Beule am Kopf.

Auf dem Dachboden spannen wir Werg, das wir gerade in dieser Zeit viel liefern mussten. Ehe wir zur Schule gingen, musste erst eine Kiepe Werg nach der Werft geschafft und neues Material geholt werden. Ich hatte mein neuntes Lebensjahr vollendet und musste nun die Kiepe tragen. Viertelzentner weise wurde geliefert, so war mit Kiepe eine Last von 33 Pfund zu tragen. Eine erhebliche Last bei einem fast einstündigen Hin- und Zurückmarsch. Die Spuren dieser Arbeit finden sich noch heute in dem zusammengedrückten Brustkorb und dem gebückten Gang. Nach dem Nachmittagsunterricht wurde wieder geliefert und abends die Lieferung für früh fertig gemacht. War die Mutter daheim, dann half sie natürlich mit. Im Sommer wurden in einer Woche doch acht bis zwölf Mark bei dieser Arbeit verdient, im Winter war selten viel zu liefern.

Einmal war diese Arbeit auch mit Lebensgefahr für andere verbunden. Wir spannen beim Lampenschein auf dem Boden, wo die Dielen stark gelichtet waren. Drunten in der Kammer schlief ein altes Ehepaar. Durch Wegziehen einer Plane kam ein eichenes Rollholz in Bewegung, schoss nach unten und traf den schlafenden Mann am Kopfe. Mit einer derben Beule ging es noch einmal gut ab, es hätte ihn aber auch erschlagen können, der Boden blieb trotzdem an dem Teil ungedielt.

Im Sommer sorgten wir für kostenloses Brennmaterial. Auf den Holzfeldern am Poggenraum und an der Weichsel konnten wir die kleinen Hauspäne der Holzhauer wegholen, wenn wir ihnen die großen Späne aus dem Wege räumten und aufschichteten oder ihnen kleine Wege, holen von Speisen und Getränke, besorgten. Bald waren Kiepe und Sack gefüllt und wurden nach hause getragen. Mit großen Schäleisen schälten wir auch die Rinde von den aufs Land gezogenen und aufgestapelten Baumstämmen und brachten sie heim. Die Eichen- und Fichtenborke gab ein vorzügliches Brennmaterial. Von den Schiffsladeplätzen an der Weichsel wurden die Schwarten zusammen getragen, die beim auslösen der Balken aus dem Floß und dem Vertäuen in den Schiffsraum übrig blieben. Einmal hatten wir vor Weichselmünde eine lange Schwarte aus dem Wasser gepeilt, die völlig mit Wasser durchzogen schon lange auf dem Grunde lag. Tragen konnten wir sie nicht, dazu war sie zu nass und zu schwer. Darum schlugen wir in ihr einen Nagel, befestigten daran einen Bindfaden und schleiften sie fast dreiviertel Meilen weit auf der staubigen Chaussee nach Hause. Als die Mutter abends spät von der Arbeit kam und uns nicht zu Hause fand, kam sie uns entgegen. Am Jakobitor trafen wir zusammen und gemeinsam wurde die Beute in der Nacht empor auf den Boden geschleppt.

Bruder Max war kein großer Freund der Schule. Zogen im Sommer die Husaren mit Musik nach dem großen Exerzierplatz dann verwahrte er sorgsam seine Schulbücher und zog mit den Husaren hinaus, stellte sich aber zur Schulschlusszeit pünktlich mit seinen Büchern wieder zu Hause ein. Da er mit uns nicht in dieselbe Schule ging, wurde dass hinter der Schule gehen erst bemerkt, als Mutter wegen seiner Schulversäumnis Strafe zahlen sollte. Hinter seine Schliche gekommen, kurierte sie ihn mit dem Lederpantoffel.

Hans hatte die Räuberromantik gepackt. Aus hohlen Schlüsseln wurden Schusswaffen gemacht, ja selbst eine Pistole hatte er sich verschafft. Das Pulver mischte er selbst aus Salpeter, Schwefel und zerkleinerter Holzkohle mit dem Erfolg, dass er eines Tages beinahe das Haus in Brand gesetzt hätte.

Im September war Mutters Geburtstag. Durch Verkauf von Lumpen und alten Eisen hatten wir uns einige Groschen gespart, die wir in kleine Geschenke für die Mutter anlegten. Nach langem Überlegen hatten wir in einer Glashandlung einen fehlerhaften Salz- und Pfeffernapf, den wir billiger erhielten, und einige Trinkgläser erstanden. Stolz des Erworbenen kamen wir heim. Die erwartete Freude blieb aber bei der Mutter aus, statt des Dankes bekamen wir Prügel, weil wir nicht praktisch genug gewesen waren. Sie brauchte dringend einen Handbesen, das hätten wir wissen müssen und weil wir das nicht voraus gesehen hatten, deshalb der Zorn und die Prügel.

Der Wintersport bot auch uns Vergnügen. Aus ein paar Brettern fertigten wir uns selbst einen Schlitten. Zu dem ehemaligen Wassergraben am Lazarett ging es ziemlich schräg hinab, das wurde unsere Rodelbahn. Damals waren Rodeln noch nicht salonfähig.

Der Schlittschuhsport war uns bald übel bekommen. Der Festungsgraben war der Stapel für Nutzholz. Damit die Balken nicht vertrockneten und rissig wurden, waren sie im Wasser kreuzweise übereinander geschichtet. Die freien Flächen gaben eine prächtige Eisbahn. Zwar gab es eine Eisbahn, auf der für 5 Pfennig Schlittschuh gefahren werden konnte, doch die benützten wir nicht. Einmal wurde nur so nebenbei auf dem Wege nach den Holzfeldern gefahren und dann waren fünf Pfennig für uns viel Geld. Wir besaßen zwei Paar altväterliche Schlittschuhe mit Holzsohlen, dazu Bindfaden und da Hans sich als Herrscher über uns dünkte, so musste er ein Paar haben, während Martha und ich sich mit je einem Schlittschuh begnügen mussten. Max ging leer aus. Er belustigte sich damit von einem Balken auf eine kleine Eisdecke und dann wieder auf den nächsten Balken zu springen. Als ich mich nach ihm umsah war er verschwunden und als ich hinzukam, tauchte gerade sein Kopf wieder aus dem Wasser auf. Ich fasste ihn an den Haaren und unserer gemeinsamen Anstrengung gelang es ihn auf das Trockene zu bringen. Die Körperwärme entwickelte aus den nassen Kleidern eine Dampfwolke und schleunigst schickten wir ihn mit der Schwester heim. Mit dem Schlittschuhsport war es an diesem Tage aus; wir gingen nach den Holzfelde, um wenigstens etwas Brauchbares heim zu bringen. Als die Mutter abends heim kam, waren die Kleider noch nicht trocken. Der Unfall konnte der Mutter nicht verborgen bleiben und wieder setzte es Prügel. Jedoch der Ofen musste allein das Trocknen der Kleider besorgen.

Ob unsere Kochkunst nicht befriedigte oder ob die Zustände in der Wohnung unhaltbar waren, kurz die Mutter mietete eine größere Wohnung auf dem „Hohen Seigen“. Im Januar 1876 war Großvater gestorben. Großmutter12 lebte mit ihrer Tochter Maria13 zusammen. Tante Maria blieb unverheiratet. Ihren Auserwählten, der nach der russischen Grenze als Zollwächter versetzt worden war, wollte sie nicht folgen und neue Werber stellten sich bei der gereiften Jungfrau nicht mehr ein. Sie nähte Mäntel für ein Geschäft. Ihre jüngere Schwester Ernestine14 hatte sich 1874 verheiratet.

Mutter hatte sich bis dahin von der väterlichen Verwandtschaft fern gehalten. Doch nun nahm sie die Großmutter und die Tante Maria in die neue Wohnung auf. In der Abwesenheit der Mutter sollte die Großmutter uns Kinder mit Essen versorgen, namentlich darauf bedacht sein, dass wir auch das für uns bestimmte erhielten. Uns erging es bald wie mit den Nachbarsleuten auf der Pfefferstadt, denn wir hatten Ursache darüber zu klagen, dass wir nicht alles Essen erhielten oder das Empfangene stark verwässert war. Diese Benachteiligung trat so recht an meinem Geburtstag zu tage. Während Mutter mit mir ausgegangen war, um mir einen Anzug zu kaufen, hatte Großmutter ohne Wissen der Mutter die ganze Verwandtschaft väterlicherseits zum Nachmittagskaffee eingeladen und hatte für sie aus den Vorräten der Mutter Reiskuchen gebacken. Als wir heim kamen, war die Stube voll von Erwachsenen und Kindern und alles verzehrt. Der Tisch war vollständig besetzt, das Geburtstagskind musste in einer Ecke an einer alten Lade mit einer Fettstulle vorlieb nehmen, darauf die Kiepe buckeln und Werg nach der Werft schaffen. Als gar noch die Mutter einen Ring vermisste, den sie in einer Tasse aufbewahrte, da war die Freundschaft aus. Großmutter und Tante Maria zogen von uns fort und wir bewirtschaften uns wieder allein.

Eine Zurücksetzung ihrer Kinder vertrug die Mutter nicht, auch duldete sie nicht, dass wir Besuche benutzten um uns bei anderen Leuten satt zu essen. Machten wir einmal einen der seltenen Familienbesuche, dann mussten wir uns erst zu Hause satt essen, ehe wir fortgingen. Einmal waren wir bei der Tante Ernestine zu einer Familienfeier eingeladen. Wir kamen etwas später und so waren am Tisch in der großen Stube alle Plätze von Erwachsenen und kleinen Kindern besetzt. Uns großen Kindern wurde das Essen im Hausflur auf der Hobelbank bereitgestellt. Das verstimmte die Mutter derart, dass sie nie mehr zu bewegen war an folgenden Familienfesten teilzunehmen.

In der Schule stieg ich bald empor. Nach der dritten Klasse durchwanderte ich in einem Jahre die Schulklassen 2b und 2a und kam nach kaum vollendetem zehntem Lebensjahr in die erste Klasse. In der Klasse 2b legte der Lehrer Grützke, Organist an der katholischen Brigittenkirche, großes Interesse für mich an den Tag und behandelte mich wie sein Kind. Er teilte täglich mit mir sein Frühstück auch dann noch, als ich seine Klasse schon verlassen hatte. Ich durfte frei über, die den Kindern in der Klasse abgenommenen Spielsachen, verfügen, die ich ihnen nach kurzer Zeit wieder zurückgab. Ich mied später die gemeinsamen Frühstücksstunden, weil mir Kinder den Vorwurf der Bettelei machten. Doch der Lehrer ließ nicht locker, durch Schüler ließ er mich zu sich bringen, stellte mich zur Rede und verlangte, dass ich die Kinder nennen sollte, die mir den unberechteten Vorwurf gemacht hatten. Ich lehnte dies und weitere Teilnahme an dem Frühstück ab. Lehrer Grützke drängte mich auch, vollständig zu ihm zu kommen. Er wollte mich auf eine höhere Schule schicken und mich adoptieren. Auch dieses Angebot lehnte ich ab, lieber wollte ich in bescheidenen Verhältnissen bei der Mutter bleiben.

In einigen Schulfächern, so im Rechnen, war ich gut beschlagen und musste auf Anordnung des Lehrers Mitschüler zu Hause Nachhilfestunden geben.

An meinem zehnten Geburtstag setzte sich Mutter mit mir auch über meine Schulbildung auseinander. „ Min Söhn, ick wörd di ja görn og en höhre School schicke, frei würd ick die scho kiege, klede und ................., awer wat sull’n de annre Kinner dato segge, ick kann ....................!“

In ihrem Zartgefühl mochte sie keinem Kinde wehtun und keines zurücksetzen und so lies sie Ihren Plan, mich auf eine höhere Schule zu schicken, fallen. Mein Pate Klawitter hätte sogar sicher für mich eine Freistelle an einer höheren Schule erwirkt und für Bücher und Kleidung wäre auch Rat geworden, doch ich selbst riet davon ab.

Schulbücher erhielten wir von der Schule geliefert. Da diese Bücher das ganze Jahr gebraucht und herumgetragen wurden, vor und nach uns andere bedürftige Schüler dienten, so sahen sie oft recht „ zerlesen“ aus. Schulhefte lieferten die Schule nicht. Dafür bekamen wir Konzeptpapier und blaue Aktendeckel und mussten uns daraus die Schulhefte selbst fertigen. Dieses Material gab uns der Oberlehrer heraus. Dafür leisteten wir ihm wieder kleine Dienste.

Mit den Lehrern kamen wir fast immer gut aus. Nur der Lehrer Braun war ein brutaler Geselle und konnte mich nicht leiden. Als ich einmal auf der Landkarte nicht gleich den gewünschten Ort anzeigen konnte, hieb er mir mit dem Rohrstock so brutal über den Kopf, dass sich die ganze Klasse gegen ihn erhob.

Die zweite Klasse leitete Lehrer Harder ein stattlicher Mann mit dunklem Vollbart. Damals kannte der Schulplan der Volksschule das Turnen noch nicht. An schönen Sommertagen nahm er nachmittags die Schüler der oberen Klassen hinter die Schule zusammen, stellte sie in Turnreihen auf und machte mit uns Freiübungen. Er turnte vor und die Kinder machten es ihm nach. Das wurde gern gemacht, war es doch eine willkommene Abwechslung in dem Einerlei des Unterrichtes.

Anders war aber die Auffassung der Schüler und Eltern über die beabsichtigte allgemeine Einführung des Turnunterrichtes in die Volksschulen. Gar vielen schien das Turnen an Barren und Reck als zu halsbrecherisch und wollten davon nichts wissen. Deshalb wurde den Schülern der beiden oberen Klassen es freigestellt, ob sie sich am Turn- und Schwimmunterricht beteiligten wollten.

Von der Garnison wurde den Schulen der Vorschlag gemacht den Knaben Schwimmunterricht zu erteilen und wurden sie aufgefordert eine Anzahl Schüler dafür zu nennen. Bruder Hans und ich meldeten uns und wurden berücksichtigt. Im Festungsgraben am Langgarten hinter der Gewehrfabrik befand sich die Militärschwimmanstalt, in der wir von Unteroffizieren unterrichtet wurden. Hans schwamm sich frei und wurde Fahrtenschwimmer- eine halbe Stunde ununterbrochen schwimmen. Meine schwache Brust reichte für ausdauerndes Schwimmen nicht aus, deshalb brachte ich es zu keiner anerkannten Leistung.

Nachdem die Großmutter fortgezogen war, eignete sich Hans in Abwesenheit der Mutter das Hinterzimmer an. Er war der Älteste und Kräftigste und oft mussten wir Drei anderen uns verbinden, um seiner Kampf- und Herrschsucht zu begegnen. Er hatte schon die Gewohnheiten Erwachsener angenommen und war ein leidenschaftlicher Raufer.

Für Brennvorrat sorgten wir auch hier. Zwischen den hohen und niederen Seigen floss die Radaune. Wir mieteten für wenige Groschen einen Kahn, fuhren hinaus auf die Weichsel und lasen von den Flößen und den Schiffseinladeplätzen Holz auf, das wir oft den ganzen Kahn voll, nach Hause fuhren. Neben der anstrengenden Fahrt, die namentlich stromaufwärts in die Radaune beschwerlich war, mussten wir auch noch das Holz vom Kahn in die Wohnung bringen, so dass oft die Nacht hereinbrach, ehe wir den Kahn dem Verleiher zurückgeben konnten.

In Danzig waren damals noch alte Zunftbräuche erhalten und wurden geübt. Die Bäcker-, Maurer- und Zimmergesellen hatten auf dem Schlüsselmarkt ihre Herberge. Hoch oben aus dem Giebelfenster ragte der kunstgeschnitzte Balken, an dem die Wahrzeichen der Gewerke hingen. Bei festlichen Gelegenheiten zogen die Gesellen noch mit Schurzfell und Zylinderhut auf, dem abziehenden Junggesellen, ausgerüstet mit gewundenem Knotenstock, Zylinderhut und Felleisen wurden bis über die Stadtgrenze hinaus das Geleit gegeben. Unterwegs sprach man fleißig dem Inhalte der an rotem Taschentuch geknüpften Vierkantigen zu, bat auch von den Vorübergehenden ein Zehrgeld für den Abziehenden.

In diesem Jahre wurde die neue Brücke hinter der Artilleriekaserne über den Festungsgraben gebaut, um eine kürzere Verbindung für die Arbeiter der Werft zur Arbeitsstätte zu erlangen. Von der Jakobibastion an wurde deshalb der Festungswall ein Stück weiter hinaus gerückt. Bei diesen Arbeiten traten die Spuren der Belagerung Danzigs im Jahre 1807 zu tage, namentlich wurden viele Tierknochen und Geschosse gefunden. Wir beteiligten uns an deren Sammlung und verkauften die Ausbeute bei einem Althändler.

Wir zogen nach der Zizauschen Gasse in dasselbe Haus aus dem uns der Vater acht Jahre zuvor herausgeholt hatten, nur mit dem Unterschied, dass wir diesmal nicht das Erdgeschoss, sondern eine Wohnung im ersten Stock erhielten. Von außen machte das Haus einen altersmüden, zusammengedrückten und gebrechlichen Eindruck. Jeder der vier Wohnungen hatte noch einen besonderen direkten Zugang von der Straße. Unsere Wohnung bestand aus einer Stube, einer Küche, die mit dem Korridor im rechten Winkel verbunden war. Von der Haustür führte eine Treppe nach dem Boden, der sich über die drei Räume ausdehnte. Die Stube wurde noch mit der alten Frau Johst geteilt, die als Sackflickerin in der chemischen Fabrik zu Schellmühl an der Weichsel arbeitete. Wir drei Jungen schliefen zusammen in einem sogenannten Bankbett. Das Bett bestand aus zwei Endstücken, sogenannte Banken, auf deren breiten Leisten eichene Bretter aufgelegt wurden, auf die dann Strohsack und Bett Unterkunft fanden. Das Bett wurde allabendlich aufgestellt und passte gerade zwischen den Ofen und dem Bette der Mutter. Hinausfallen konnte keiner, doch kam es vor, dass das Bett mit großem Krach zusammenbrach, wenn sich einer zu sehr gestreckt hatte und die Bank am Fußende ins Wanken geriet. Sehr unsanft wurden dadurch die anderen aus dem Schlaf gerüttelt. Von der Mutter und der alten Johst gab es ein Donnerwetter, das Bett wurde wieder aufgebaut und wenn möglich weiter geschlafen. Einmal hatten wir Einquartierung. Mutter und Martha überließen ihr Bett dem Landwehrmann und zogen nach dem Boden.

Der geräumige Boden, durch Glasziegel erhellt, eröffnete meiner Phantasie den weitesten Spielraum. Ich bastelte gern, baute mir einen Werktisch mit tretbarer Laubsäge und benützte zu meinen Holzarbeiten das alte, vom Lumpenmann erlangten, und längst verbrauchtes Handwerkzeug. Meine Absicht mir einen Kahn zu bauen, scheiterte am Mangel an geeignetem Material. Besser klappte es mit dem Wagenbau, zu dem der Vormund alte abgenützte Blockräder hergab. Die Blockräder hatten eiserne Buchsen, die nur für schwache eiserne Zapfen eingerichtet waren. Mir standen aber nur fichtene Achsen zur Verfügung, die von den eisernen Buchsen schnell durchgescheuert und oft erneuert werden mussten. Es kam auch vor, dass halbwüchsige Burschen uns den Wagen mutwillig zertrümmerten, so dass ich aus den Reparaturen wenig herauskam.

Das Wasser war unser Element und jede freie Stunde waren wir an der Weichsel. Trotz Verbot und Strompolizei wurde im Sommer ein-, zweimal am Tage gebadet. Das Abtrocknen besorgte die Sonne. Hans und Max waren vorzügliche Schwimmer. Kam ein Dampfer und verursachte er große Wellen, dann waren sie bald im Wasser und ließen sich von den Wellen schaukeln. Das Hinüberschwimmen über die Weichsel und die Rückkehr machte ihnen keine Beschwerde. Ich konnte mir den Sport nicht leisten, sondern blieb in der Nähe des Landes.

Waren wir mit dem Kahn unterwegs, dann kam es vor, dass an einer freien Uferstelle der Kahn an Land gezogen wurde, wir uns darin entkleideten und ein Bad nahmen. Trieben Wellen vorbeifahrender Dampfer den Kahn vom Land ab, dann wurde er durch Schwimmen erreicht und in Sicherheit gebracht.

Hunger störte uns nicht. Trat er besonders stark auf, dann stiegen wir auf die Schiffe und baten um Schiffszwieback, den wir auch meist erhielten.

Auf der Chaussee an der Weichsel wurde ich von einem leeren Ziegelwagen überfahren. Der Kutscher kam mit angehängten leeren Wagen angefahren und wir baten mitfahren zu dürfen. Der Bitte wurde entsprochen, als wir aber über die Deichsel des zweiten Wagens auf diesen klettern wollten, trieb der Kutscher plötzlich die Pferde an, ich stürzte von der Deichsel herab und die Räder der einen Wagenseite rollten über meinem Rücken. Ich war mit dem Gesicht in tiefern Staube zu liegen gekommen. Der Staub hatte den Druck gemildert, so dass ich ohne körperlichen Schaden davon kam, aber der Staub musste mir an der Weichsel erst aus Nase und Mund gewaschen werden, ehe ich frei atmen konnte.

Die Mutter gab die Aufwartearbeit auf und fing an für fremde Leute Wäsche zu waschen. Daneben wurde noch Werg gesponnen. Das Brennmaterial holten wir ein, soweit es noch möglich war. Für den Bedarf einer Wäscherin reichte das heimgebrachte freilich nicht aus, zumal Hans und Martha in das Berufsleben eingetreten waren. Mutter musste sich darum entschließen, Holz zu kaufen. Hans blieb eines Tages von der Arbeit fern. Er, Max und ich machten uns mit der Mutter auf, das gekaufte Holz heim zu fahren. Wir mieteten einen großen Kahn, ließen Mutter vorn auf der Ducht15 sitzen, ich ruderte vorn, Hans wriggte16 hinten und so fuhren wir über die Radaune, Mottlau und Weichsel nach dem Holzfelde an der Holmspitze.

Ohne Störung ging die eine Flussfahrt jedoch nicht ab. In der Nähe der „Milchinsel“ begegneten uns auf der Mottlau zur gleichen Zeit drei Dampfer. Ein großer Seedampfer fuhr nach Danzig hinein, ihn überholte ein Schleppdampfer und der Personentourendamfer fuhr stromabwärts nach Neufahrwasser. Die drei Dampfer verursachten einen erheblichen Wellenschlag. Hans konnte nicht schnell genug den Kahn gegen die Wellen lenken und schwapp hatten wir eine Welle in dem Kahn. Die Kleider der Mutter waren nass geworden und schnell machte sie sich von dem gefährlichen Platz fort, setzte sich auf die umgestülpte Kiepe inmitten des Kahns und gab ihn so durch ihr erhebliches Körpergewicht das erforderliche Gleichgewicht.

Nach einstündiger Fahrt kamen wir auf dem Holzfelde an, Mutter kaufte eichene „Kitschen“, überließ uns das Verladen und fuhr mit dem Personendampfer „Legau“ heim.

Aber auf unserer Rückfahrt ergaben sich beträchtliche Schwierigkeiten. Unseren Kahn durften wir nur bis zu einer markierten Stelle beladen. Das gekaufte Holz konnten wir deshalb nicht alles in diesem Kahne unterbringen, sondern mussten noch einen kleineren Kahn hinzu mieten. Wir hatten nun zwei beladene Kähne heimzubringen und nahmen den kleineren in Schlepptau.

Der Wind hatte kräftiger eingesetzt und erzeugte einen ansehnlichen Wellenschlag. Wir konnten das Wagnis nicht unternehmen mit dem schwer beladenen Kahn auf der breiten Weichsel heimzufahren und machten deshalb einen Umweg. Wir lenkten die Kähne stromabwärts, umschifften die äußere Holmspitze und bogen in die schmale, geschützte „Schutenlake“ ein. Hier nahmen wir den Kahn an die Leine und treidelten ihn die Schutenlake hinauf. Hans steuerte, Max und ich zogen an der Leine. Am Ende der Schutenlake, jetzt Kaiser Wilhelmhafen, treffen Schutenlake, Weichsel und Mottlau zusammen und so ist die Wasserfläche an dieser Stelle sehr breit.

Glücklich kamen wir über diese Stelle hinweg und in die Mottlau hinein. Ein schwieriges Stück war es noch, beide Kähne in der starken Strömung der Radaune bis an den hohen Seigen hinauf zubringen. Auch das wurde mit aller Kraftanstrengung überwunden. Nun galt es die ganze Last vom „Hohen Seigen“ bis nach der Wohnung zu der Zizauschen Gasse zu bringen. Ein Wagen stand nicht zur Verfügung, deshalb musste alles getragen werden. Wir schleppten mit Kiepen, während Mutter und Hans aus zwei losen Brettern eine Trage machten, diese beluden und heim trugen. Bei einer solchen ziemlich weiteren Tour versagten Hans auf dem Kassubischen Markt die Kräfte, er ließ sein Ende fallen und bekam für seine Übermüdung von der Mutter obendrein noch Prügel. Erst am anderen Morgen konnte die Arbeit zu Ende gebracht und die Kähne abgeliefert werden. Eine solche Wasserfahrt riskierte die Mutter nicht wieder.

Die Umgebung der Zizauschen Gasse war für uns ein idealer Tummelplatz. An der Russengasse, die im rechten Winkel auf die Zizausche Gasse mündete, war einer freier Platz. Der untere Raum der hohen Festungsbastion war einzäunt und war der Sammelplatz für leere Fuhrwerke, auch hatte der Stellmacher dort defekte Wagen stehen, die er reparieren sollte. Der Festungswall und der Wagenplatz waren durch Palisadenzaun abgeschlossen. Er war für uns kein Hindernis den hohen Wall und die Bastion zu erklettern und vom Wall nach der Stadtmauer herunterzugleiten und durch die großen Schießlöcher den Stadtgraben zu erreichen. Oder den Wagenplatz zu erreichen und auf den Wagen herum zu klettern. Eine Militärpatrouille störte uns wenig, leicht konnten wir über den Wall und durch die Stadtmauer über den Stadtgraben nach dem Holztorbahnhof zu entweichen. Um uns vor Überraschungen zu schützen, hatten wir über den Wagenplatz an einem Akazienstrauch einen Strick befestigt, der zwar über die Mauer herabfiel, doch nicht bis zur Erde reichte. Auf diesem Wege musste ich doch einmal einer Patrouille ausweichen und einen ziemlich hohen Sprung auf den Wagenplatz riskieren. Ohne Schaden kam ich davon. Trieben wir es auf den Wagen gar zu laut, dann kam auch einmal der Stellmacher mit einer Leiste und wehe, wem er erwischte. Max war einmal sein Opfer, doch die Mutter nahm ihren Jungen in Schutz und bedeutete ihm, dass er sich an ihren Kindern, nicht zu vergreifen habe.

Die große Wolfskaule am Olivaer Tor, das Bürgerschützenhaus und die Krähenschanze an der Allee waren beliebte Punkte für unsere Streifzüge.

Durch die Wäscherei bekam Mutter doch manche Erholungsstunde, wenn auch nicht viele, so doch mehr als sie je bei ihrer früheren Tätigkeit gehabt hatte. Sie hielt auf geregelten Kirchgang nach der Katherinenkirche und verschloss sich auch den Freuden des Lebens nicht. Gern besuchte sie das Theater. Im Stadttheater wurde sonnabends zu halben Preisen gespielt; auf dem „Topp“ kostete es dann nur 15 Pfennig. Sie suchte durch Theaterbesuch unseren Fleiß anzuspornen und versprach uns, wir könnten mit ins Theater gehen. Sie hielt Wort.

Um aber Plätze in der vorderen Reihe der Galerie zu erhalten, mussten wir uns sehr zeitig anstellen. Wurde geöffnet, dann stürmten wir die Treppen hinauf und erhielten meist die ersten Sitzplätze nach dem Amphieplatz. Wir mussten uns aber breit setzen, damit Mutter, die nachkam, sich dazwischen setzen konnte. Es wurden Volksstücke, Ausstattungsstücke, auch leichte Opern gegeben und wir verfolgten mit Spannung die Handlung. War auf dem Topp der Beifall gar so laut, so kam es auch einmal vor, dass hinauf gerufen wurde: „ Ruhig ihr Ochsen dort oben!“ prompt kam die Antwort: Unten sind die Ochsen, oben ist der Heuboden!“. Solch kleine Scherze beeinträchtigten die Gesamtstimmung nicht.

Danzig selbst, berühmt seiner architektonisch schönen Bauten, seiner schmuckvollen alten Straßen mit den mit Bildwerk geschmückten Beischlagen17, gab selbst Anregung zum Schauen.

Durchströmt von der alten und neuen Mottlau, der Radaune, die unmittelbare Lage an der Weichsel brachte Danzig mit einem gewissen Recht den Beinamen „Das nordische Venedig“. Die wunderbare Umgebung Danzigs, die bewaldeten Höhen, die Nähe der Ostsee usw. reizten ja gerade zu Wanderungen.

„Einmal Italien gesehen und dann sterben!“: war oftmals Mutters Ausspruch und doch musste die Reise von ihrer Heimatstadt Stolp nach Danzig die einzige gewesen sein, die sie je unternommen hat.

Gern hörte sie bei der Arbeit unserem Gesang zu und ermunterte zum Weitersingen, wenn der Sangesquell versiegte. Mit Vorliebe hörte sie Seemanns- und Wanderliedern zu. Ein Wanderlied, das sie besonders ins Herz geschlossen hatte, lautete nach dem Gedächtnis:


Die Luft ist so blau und das Feld ist so grün, Lieb’ Mütterlein lass in die Fremde mich ziehn. Ich schnür mein Bündel und zieh hinaus, den Stab in der Hand und am Hute den Strauß.


Ich wandere durch Deutschland und kam an den Rhein, bei tüchtigen Meistern, da kehrt ich ein. Dort üb’ ich mein Handwerk förderte mein Glück Und ziehe dann wieder zur Heimat zurück.


Und sitzt dann des Abends die Mutter und spinnt, denkt traurig, wo weilt doch mein einziges Kind. Da klopft es ganz leise ans Fensterlein klein, schon tritt auch zur Türe der Wanderbursch ein.


Gott grüß dich, lieb’ Mutter, bist ja noch so frisch, und schüttet ihr jauchzend sein Geld auf den Tisch. Ich lobe mein Handwerk, es bringt mir was ein. Bald ward ich nun Meister, wie wirst Du dich freun.


Am ersten Pfingstfeiertag war Kirchgang. Gekocht wurde für zwei Tage und am zweiten Feiertag früh 4 Uhr ging die ganze Familie nach Jäschkental. Imbiss wurde mitgenommen, ebenso gemahlenen Kaffee und das doppelte Quantum Zichorie. Die Partie war immer lohnend.

Über den Irrgarten traten wir am Olivaertor aus dem Festungsgürtel hinaus in die „Große Allee“. Die „Große Allee“ ist eine breite gerade Straße in einer Ausdehnung von etwa drei Kilometer und verbindet Danzig mit der Vorstadt Langfuhr. Der breite Fahrweg wird auf beiden Seiten durch je zwei Reihen alter Lindenbäume umsäumt, zwischen denen wieder mit Kies bedeckter Fußwege angelegt sind.

Von den vielen Kirchgemeinden Danzigs hat jede einen eigenen, oft zwei Friedhöfe. Einige dieser Friedhöfe liegen an der Allee und geben dem Gelände teilweise einen gartenähnlichen Anstrich.

Unser Weg bog von der halben Allee nach dem Galgenberge ab und führte über Zieglershöhe nach einem bewaldeten Berge Jäschkentals. Von der Luisenhöhe genossen wir, wenn es glückte, den Sonnenaufgang. Aus den Fluten der Ostsee stieg über dem Weichselwerder majestätisch der Feuerball empor, alles in rote Glut tauchend. Nach diesem Genuss wurden die verschiedenen Ausflugspunkte besucht und dann ging es zur Waldwiese hinunter.

Der Jäschkentaler Wald wird von zwei bewaldeten Höhen gebildet, die eine Talmulde einfassen. In dieser Mulde ist auf der einen Hälfte eine große Festwiese angelegt, während die andere Hälfte eingehegt ist. In der Höhe dieser Wiese stehen einige Kaffee- und Bierwirtschaften, in denen Volk und Bürger getrennt, je nach der Größe ihres Geldbeutels, sich treffen. Wir suchten stets die Gartenwirtschaft für einfache Ansprüche auf, wo noch Familien Kaffee kochen konnten.

In den großen, zum Teil mit Obstbäumen bepflanzten Garten, wurde ein Plätzchen gesucht. Mutter ging nach der Kaffeeküche, ließ mit einem Liter Wasser den mitgebrachten Kaffee mit Zutat aufbrühen, mietete Kaffeekanne und Tassen und der Frühstücktisch waren fertig.

Hatten wir uns gesättigt und geruht, dann stiegen wir in den Wald des zweiten Berges, suchten Plätze und Aussichten auf und stiegen beim Forsthaus wieder zu Tal. Es kam auch vor, dass der Weg nach Zigangenberg fortgesetzt wurde, wo Mutter Bekannte hatte. Dann ging es über die große Mulde und Neugarten heim. Zu Hause wurde Mittagsbrot gegessen.

Nach Jäschkental führte uns jährlich ein Schulausflug, den ich einmal mit schwerem Kopfweh abbrechen musste. Für einen mitbekommenen Groschen hatte ich ein Glas Milch erworben und getrunken. Ein Schulfreund bot mir noch von seinem Pfütziger Bier mit Zucker an und ich aß darauf im Walde gepflückte Blaubeeren. Diese Mischung vertrug der Magen nicht, ich erbrach mich und schlich nach Hause.

In einem kleinen Saal dieser Wirtschaft wurde auch getanzt. Das einfache Orchester bestand aus Geige, Flöte und Klavier, nach dessen Klange sich die Paare im Takte drehten. Als wir schon in der Lehre waren, besuchten Max und ich das Lokal und ermunterten uns gegenseitig am Tanze teilzunehmen. Da aber keiner von uns tanzen konnte, wagte keiner den Tanzversuch und mit einer dicken Staubschicht auf unseren schwarzen Rücken verließen wir das Lokal.

Das große Kirchdorf Oliva hält alljährlich an einem Sonntage einen Jahrmarkt ab, der von der Bevölkerung stark besucht wird und allgemein der „Olivsonntag“ genannt wird. Auch wir besuchten weinige Male diesen Jahrmarkt. Mit Sonntagfahrkarten ging es mit der Bahn hinaus. In einer Wirtschaft am Markt wurde im Garten gerastet und gegessen und dann wurde der königliche Garten besucht und der Karlsberg bestiegen. Oliva liegt am baltischen Höhenzuge in der Nähe der Ostsee und ist etwa eine Meile von Danzig entfernt. Die große katholische Kirche mit ihren 22 Altären und der großen Orgel ist eine Sehenswürdigkeit und an katholischen Festtagen der Sammelplatz vieler Landbewohner. Recht ärmlich, nüchtern und kahl nimmt sich dagegen die kleine protestantische Kirche aus.

Neben der katholischen Kirche liegt das Schloss, der Hohenzoller-Hechingschen Linie gehörend, mit großem Park. Der Park mit verswinklig geschnittenen Alleen, Fischteichen und gärtnerischen Anlagen ist ganz im Empirestil gehalten, es fehlen nur noch die Damen mit Reifrock und Allongeperücken, die Herren mit farbigen Schoßrock und Degen darin und die Zopfzeit stände wieder leibhaftig vor uns. Der Park ist bis auf einen kleinen Teil dem Publikum unentgeltlich geöffnet. Wir besuchten ihn und brauchten zum Rundgang ziemlich eine Stunde.

Der Aufstieg auf den Karlsberg war lohnend. Von ihm aus hatte man einen prächtigen Ausblick nach der Ostsee, der Niederung, der Stadt und den bewaldeten Höhen. Bei klarem Wetter konnte man die Häuser von Hela, auf der Halbinsel mit gleichen Namen, erkennen, eine Entfernung von etwa 30 Kilometer. Bei günstigem Wetter erkannte man auch die große Weichselbrücke bei Dirschau.

Ein verregneter Olivsonntag gehörte nicht zu den Seltenheiten. Einer unserer Ausflüge nach Oliva wurde durch einsetzendes Regenwetter stark gekürzt. Auf dem Bahnhof bot sich uns aber ein wunderbares Naturschauspiel. Über der Ostsee entlud sich ein starkes Gewitter. Der Sturm peitschte das Wasser zu großen Wellenkämmen auf, Blitz auf Blitz zuckte und beleuchtete grell die rollenden Wasserwogen.

Im Spätfrühjahr wurde im Walde von Heubude das Missionsfest abgehalten, zu dem wir hinaus wanderten. Dass uns besondere Religiosität hinaus getrieben hätte, konnten wir nicht behaupten, mehr reizte uns der angenehme Ausflug.

An der „toten Weichsel“, zwischen der Weichsel und den Dünen der Ostsee liegt östlich von Danzig Heubude. Die tote Weichsel bot damals ein farbenreiches, wechselvolles Leben und Treiben. Alljährlich, wenn die Weichsel eisfrei wurde, brachten die „ Flissaken“ die großen Holztriften, oft mit Getreide beladen, aus Polen nach Danzig. Sechs bis acht Holzflöße waren mit ...... mit einander zu einer Trift verbunden. Auf dem mittelsten Floß stand die Hütte der Leute, meist nur einfache Strohhütten, selten eine Bretterbude. Vor der Hütte war die Feuerstelle, wo die Flößer ihr Mahl bereiteten. So brachten sie Wochen auf der Talfahrt auf diesem Floße zu. Auf der Fahrt musste die Trift mit großen Rudern, vorn und hinten gesteuert werden, jede Trift waren auch ein oder mehrere Klotzkähne beigegeben, kleine aus einem Baumstamme geschnitzte Kähne.

Diese Triften legten auf der toten Weichsel an. Durch das wochenlange Lagern des Getreides auf den Flößen war es feucht geworden. Darum wurden an den Ufern große Segelplanen ausgebreitet und das Getreide daraufgeschüttet. Frauen, das Gesicht mit weißen Kopftüchern vor den sengenden Sonnenstrahlen geschützt, wendeten mit großen Holzschaufeln das Getreide, bis es ausreichend trocken war.

Die Flissaken mit ihren bunt besetzten Leinwandkitteln auf den Flößen, die Arbeiterfrauen zwischen den Getreidehaufen, Viehherden auf den angrenzenden Wiesen, alles dies vereinten sich zu einem farbenprächtigen lebensfrohen Bilde. Dazu kam noch, dass die Flissaken mit Fidel und Mundharmonika gut umzugehen verstanden und oft tönte aus den Schänken eine fröhliche Masurka oder die Flissaken selbst tanzten ihren Nationaltanz.

Die armen, der deutschen Sprache unkundigen Flößer wurden auch häufig ausgeplündert und ihres kargen Lohnes durch gewissenlose Händler und Gastwirte beraubt.

Über diesen Teil der Weichsel, Strohdeich, Kneipab, Troyl führte der Weg nach Heubude.

Am Waldrand lag unter schattigen Bäumen die Gastwirtschaft, ihr vorgelagert ein Binnensee rings vom Walde eingeschlossen. Die idyllische Ruhe und das landschaftlich schöne Bild wirkten außerordentlich anziehend. Dazu kam, dass die Tische und Bänke in der Richtung nach dem See aufgestellt waren und jeder ohne Mühe die Umgebung auf sich einwirken lassen konnten.

Der mitgebrachte Kaffee wurde hier wie im Jäschkental bereitet und dann mit den mitgeführten Mundvorräten verzehrt. Fischerfrauen boten im Walde auch geräucherte Fische, darunter Flundern sowie frische Heringe an, die gern als Zubrot erworben wurden. Am Seeufer standen Schwimmschuhe und Ruderboote für die Gäste bereit. Viele nutzten die Gelegenheit zu einer Seefahrt und darum war der See immer belebt.

Nach der Stärkung ging es durch Wald und Dünen nach dem Strand der Ostsee, die in zwanzig Minuten erreicht wurde. Die ewig bewegte See, der Schiffsverkehr, die Fischerboote mit den ausgeworfenen Netzen, der steinfreie Strand und der Strandverkehr boten eine ständige Abwechslung. Wir lagerten uns am Strand oder suchten Bernstein und Muscheln oder unterhielten uns mit den Fischern oder sahen dem Einziehen der Netze zu. Bei einer solchen Unterhaltung erkundigte ich mich nach dem Ausbleiben bestellter Flundern. Ja „Herrke“ gab mir die Fischerfrau zur Antwort: „De Flingern sein nat Bad gereist!“ Der starke Südwestwind hatte die Flundern von dem Strand fort getrieben und es gelang kein Fang. Heubuder Flundern sind als Delikatesse bekannt.

Neigte sich der Tag, dann ging es durch den Wald nach dem Anlegeplatz der Dampfer, und dann meist mit überfüllten Dampfern heim.

Während in manchen Gegenden Deutschlands der Johannistag den Toten gewidmet ist, wird er in der Gegend von Danzig als Freudentag gefeiert. Er ist der Künder des Sommers, der dem Landmann die Mühen seiner Arbeit lohnen soll und darum wurden am Johannistag auf den Berghöhen noch Freudenfeuer angezündet.

Der Magistrat von Danzig veranstaltete an diesem Tage auf der Festwiese in Jäschkental ein Volksfest, dessen Kosten aus einer besonderen Stiftung gedeckt wurden. Am Nachmittag des Johannistages zog jung und alt durch die große Allee zum Johannisfest hinaus. Die Festwiese war mit Fahnen und Wimpeln geschmückt und in dem angrenzenden Walde standen Schankzelte, Buden mit Esswaren und Naschereien, die Reitlust der Kleinen befriedigte im Walde aufgestellte Karussells und auf dem Tanzplatz im Walde spielte eine Musikkapelle den Erwachsenen zum Tanze auf.

Auf der Anhöhe inmitten der Wiese stand der Klettermast. Ab 4 Uhr nachmittags hatte die Jugend auf der Wiese das Wort. Mit Wurstspringen, Kranzstechen, Sacklaufen, Walzen drehen wurden die Kinder belustigt. Wer es beim Spiel gewagt, glücklich und geschickt überstanden hatte, der erhielt meist praktische Geschenke für die Schule und den Hausbedarf.

Den meisten Spaß machte jedoch das Klettern am Mast. Dieser große Mast wird in der Mitte von drei eisernen Ringen zusammen gehalten, während zu dreiviertel seiner Höhe ein offener abstehender eiserner Ring angebracht ist, an den allerlei nützliche Sachen, wie Hemden, Hosen, Wasserkessel usw. runterhingen, während an der Spitze des Mastes eine silberne Taschenuhr prangte. Diese Sachen herunter zu holen, war nun die Aufgabe der Kletterer. Jeder Versuch wurde von der unten sitzenden Musikkapelle begleitet, jedes Gelingen oder Misslingen mit einem Tusch gefeiert. So einfach war aber die Kletterei nicht, denn der Mast war auf seiner ganzen Ausdehnung mit Seife eingerieben und es bedurfte, Kraft und Geschick dieses Hindernis zu überwinden. Die Anstrengung musste verdoppelt werden, wollte der Kletterer über die drei eisernen gleichfalls geseiften Ringe hinwegkommen. Unter Würdigung dieser Umstände war das Klettern auch nur für Burschen berechnet. Wir haben uns nie daran beteiligt.

Meist kamen die Kletterer nur bis zu den eisernen Ringen und glitten dann unter dem allgemeinen Gelächter herab. Die gewandtesten holten sich die Sachen, doch durfte jedes Mal nur ein Stück herunter gelangt werden. Der Erste, der bis zur Spitze kam, erbeutete die Taschenuhr und hatte damit den höchsten Preis errungen.

Nach 6 Uhr abends nahmen die Spiele ihr Ende und es wurde eine allgemeine Ruhepause gemacht. Die Teilnehmer lagerten sich im Walde oder auf der Wiese und verzehrten ihre Vorräte, während dessen im Walde weiter getanzt wurde. Mit Eintritt der Dunkelheit begann der Zapfenstreich. Die Musikkapelle mit Gefolge durchzog den Wald und Wiese und dann wurde gelagert. Während dieser Zeit war in dem eingehegten Teile ein großes Feuerwerk aufgestellt worden, das nun abgebrannt und seine Lichteffekte mit Beifall bestaunt wurde. Nach zehn Uhr abends fand damit das Volksfest sein Ende und alle strömten nach der Stadt und der Umgebung zurück.

Mutter hatte in Danzig nur eine Verwandte, eine Cousine, die mit einem Fischer in Neufahrwasser verheiratet war. Besuchten wir die Familie, dann kam es vor, dass mit deren Kindern eine Bootsfahrt auf der Ostsee unternommen wurde. Ich hatte nie Gelegenheit an einer solchen Seefahrt teilzunehmen.

Eine Abwechslung in dem Einerlei des Tages brachte auch der Dommarkt, der am 5. August eingeläutet wurde und vier Wochen dauerte. Auf dem Kohlenmarkt standen die „Langen Buden“, in denen Spezereien, Schulwaren, ...... Pfefferkuchen, Süßigkeiten usw. feilgeboten wurden und auf anderen Plätzen standen die Buden, die der Unterhaltung dienen sollten. So prangte auf dem Holzmarkt neben der „Grünen Bude“ der Bretterbau des Zirkus. Auf dem Heumarkt vor dem hohen Tor aber waren die übrigen Schaubuden und Karussells untergebracht.

Da gab es auch die Bänkelsänger, die nach schaurigen, auf der Leinwand gewiesenen Bildern die neuesten Mordgeschichten herunter leierten und den Text der Lieder verkauften.

Wir begnügten uns mit dem Anschauen der Bilder, die an den Schaubuden außen angebracht waren und die Schaulustigen anziehen sollten. Die verlockend angepriesenen Sehenswürdigkeiten, die in den Buden geboten werden sollten, schenkten wir uns, weil in unserer Tasche ständig Ebbe war. Höchstens verschafften wir uns durch Schieben der Karussells einige Freifahrten.

Diese Erholungsstunden waren natürlich nur einige Lichtstrahlen in dem Alltagsleben des Jahres.

Im Herbst 1878 wurden die Simultan - Volksschulen eingeführt und in Bezirken eingeteilt, in denen Katholiken, Protestanten und Juden mit Ausnahme der Religionsstunde, gemeinsam unterrichtet wurden. Wir wurden umbezirkt, ich der Schule am Hakelwerk überwiesen. Da wir inzwischen umgezogen waren, so lag nur die Schule „An der Pferdetränke“ am nächsten und deshalb wurde ich nochmals dieser überwiesen. Die Überweisung hatte den Nachteil, dass ich nicht mit den gesamten Schülern, sondern nachträglich allein zur neuen Schule kam. Obgleich ich schon 1 ½ Jahr die erste Klasse der alten Schule besucht hatte, wurde ich doch einer Prüfung unterworfen, die zu meinen Gunsten ausfiel. Nur beim Rechnen rechnete ich nach der mir gelehrten Methode, während der Lehrer ein anderes System anwandte. Das Ergebnis war in beiden Fällen gleich, ich kam aber trotzdem in die zweite Rechenabteilung. Das kränkte mich, da ich stets ein guter Rechner war.

Hans wurde im Frühjahr 1879 aus der Schule entlassen. Als wir zur Mutter kamen, wollte er aus Furcht, dass er Protestant werden sollte, ins Wasser gehen. Er hatte nun jahrelang die katholische Schule besucht und ließ sich doch protestantisch konfirmieren, so hatte der dauernde Umgang mit der protestantischen Mutter den religiösen Sinn des Bruders beeinflusst.

Mir ging es später natürlich ebenso, obgleich ich katholisch getauft war und die Taufe sogar doppelt empfangen hatte. Bei dem Kindtauffest war aus Versehen ein Krug Wasser in mein Bettchen geschüttet worden.

Nach seinem Austritt aus der Schule fand Hans bei dem Vergolder Durchholz Arbeit, trat dann aber bei einem Vergolder in der Jopengasse in die Lehre.

Dadurch war auch ich mit Durchholz bekannt geworden. Als im Jahre 1879 die großen Schulferien kamen, erbat ich mir einen weiteren Urlaub von vier Wochen, den ich auch erhielt. Als Zwölfjähriger trat ich nun für acht Wochen bei Durchholz als Arbeitsbursche gegen einen Wochenlohn von drei Mark in Arbeit.

Der katholische Meister wurde von der katholischen Geistlichkeit aufgesucht und er hatte damals viel Kirchenarbeit. So hatte er die ganzen Heiligenfiguren einer katholischen Kirche zur Erneuerung in der Werkstatt. Meine Aufgabe bestand darin, den Heiligen das schäbig gewordene Gewand abzukratzen und die Vorarbeiten zum neuen Gewand zu leisten. Mit dünnerem Leim und Schlemmkreide wurden nach dem Reinigungsprozess die Figuren angestrichen und dann, wenn der Anstrich trocken war, die erhabenen Stellen mit Bimsstein und Schachtelhalm geschliffen. Bei den faltenreichen Gewändern der Heiligen eine ermüdende, anstrengende Arbeit. Unter Mitwirkung eines jüdischen russischen Gehilfen wurden die erhabenen Stellen noch vergoldet, während die übrigen Teile matt vergoldet oder mit Farbe angestrichen wurden. So bekamen die Heiligen wieder Ihren Glanz und Glorienschein. Für die Betstühle wurden kleine Kapitelle hergestellt, die wir selbst formten, vergoldeten und anstrichen.

Im Herbst desselben Jahres fand auf der Reede von Danzig die Begegnung Wilhelm I mit dem Zaren von Russland statt. Für diesen Zweck wurde die alte Korvette „Grille“ und das Gebäude des Gouverneurs neu vorgerichtet. Die Vergoldungsarbeiten fielen Durchholz zu. Auf der Werft, wo die Korvette lag, wurden die Bildhauerarbeiten am Bug und Heck neu vergoldet und ich leistete hierbei dem Gehilfen die notwendigen Handreichungen.

Außer kleinen Arbeiten über dem Eingange in das Gouverneursgebäude galt es den Parterresaal für Wilhelm I als Schlafraum vorzurichten. Weiße mit Kornblumen durchwirkte Tapeten bedeckten die Wände, und die Wandflächen wurden mit schmalen Goldleisten unterbrochen, die wir anbringen mussten.

Mein Schulurlaub war abgelaufen, ich gab die Arbeit auf und ging wieder in die Schule. Für die Zeit hatte ich von der Polizei eine Arbeitskarte ausgestellt erhalten.

Zu Weihnachten nahmen wir, Max und ich, wieder den Handel mit Hampelmännern auf. Mit einem Grundkapital von fünf Pfennigen begannen wir einige Wochen vor Weihnachten, jeder für sich den Handel. Zu Weihnachten des Jahres 1880 hatte ich über zwanzig Mark aus diesem Handel zusammen. Glücklich über diesen Besitz, kam ich mir unendlich reich vor und wollte der Mutter und den Geschwistern allerlei Geschenke kaufen. Unter Führung der Mutter wurde der Einkauf besorgt, jeder erhielt ein Geschenk, für mich erwarb ich Leinwand zu zwei Konfirmationshemden. Beim Einkauf musste der Wunschzettel schon bedeutend abgestrichen werden und dennoch blieb ich am Schluss der Mutter noch fünf Mark schuldig.

Am 5. Februar 1881, einem Sonnabend, trat ich vor den Oberlehrer Schulz, erklärte ihm, dass ich andern Tags vierzehn Jahre alt werde, jetzt vier Jahre in der ersten Klasse Schüler sei und nunmehr meine Entlassung aus der Schule wünschte, damit ich durch meine Arbeit die Mutter unterstützen könne. Meiner Bitte wurde entsprochen und am selben Tage wurde ich zu der ganz ungewöhnlichen Zeit aus der Schule entlassen.

So ganz leicht war es für mich nicht eine Beschäftigung zu finden. Ich war im Wachstum zurückgeblieben und schwächlich. Zu einem Handwerker konnte ich nicht in die Lehre gehen, dazu reichte meine Körperkraft nicht aus. Die Schulbildung war nur mäßig, in einzelnen Fächern gut, in der Durchschnittsleistung nur zufriedenstellend. Wie sollte das auch anders sein.

Außerhalb der Schule war unsere Ausbildung dem Zufall überlassen. Anleitung und Führung hatten wir bei Erledigung der Schulaufgaben nicht und die Tagesarbeit ließ mir nur Zeit flüchtig die Schularbeiten zu erledigen. Mutter konnte uns keine Führerin sein. Wenn sie abends spät müde und abgearbeitet nach Hause kam, dann waren wir meist schon zu Bett, für sie war aber der Arbeitstag noch nicht zu Ende. Da musste noch unsere Wäsche und Kleidung ausgebessert werden, dass Essen für den nächsten Tag für uns vorbereitet werden und die Wirtschaft nachgesehen werden. Da war dann keine Neigung und Stimmung mehr vorhanden, sich um unsere Schulbildung zu kümmern.

Für meine Berufswahl kam aber noch die materielle Lage der Mutter in Betracht. Hans war schon zwei Jahre in der Lehre, er aß und schlief zu Hause und musste von der Mutter gekleidet werden. Die Lehrzeit sollte vier Jahre dauern und als Entschädigung bekam Hans vom Meister für die Woche drei Mark. Diese Entschädigung sollte sich allmählich steigern. Ein kleines Taschengeld musste er auch erhalten. Die Entschädigung langte nicht für die Ernährung, geschweige denn für Kleidung und alles was an einer solchen Lehre drum und dran ist. Mutter musste also einen erheblich Zuschuss für den Ältesten leisten.

Martha war der Schule entwachsen und lernte Plätten.

Das Zutragen von billigem Heizmaterial fiel fort, der Ersatz musste gekauft werden. Das Wergspinnen musste eingestellt werden, weil niemand mehr da war, der den Transport zur Werft besorgen konnte. So verminderten sich die Einnahmen und die gesteigerten Mehrausgaben konnten nicht immer durch Mehreinnahmen aus der Wäscherei ausgeglichen werden. Eine Lehrstelle für mich bedeutete aber für die Mutter neue Verpflichtungen auf mehrere Jahre und damit eine erhebliche Last.

Unter Würdigung all dieser Umstände verzichtete ich vorläufig auf eine Lehrstelle und suchte mir Lohnarbeit. Das Glück war mir aber in den erlangten Arbeitsstellen nicht besonders hold.

Zunächst nahm ich wieder bei Durchholz für drei Mark Wochenlohn Arbeit. Viel Arbeit war nicht vorhanden, aber mehrmals in der Woche musste ich auf dem Fischmarkt die Pfefferminzflasche füllen lassen. Eines Tages wurde ich ängstlich. Ich hatte den Werktisch sauber gemacht, kein Gegenstand lag darauf. Da kam der Meister verstört an den Tisch und befahl mir den Nagel vom Tisch wegzunehmen, versuchte auch selbst den vermeintlichen Nagel zu entfernen. Mir wurde es vor den Anzeichen des Säuferwahnsinns unheimlich zu Mute und ich gab die Arbeitsstelle auf.

In einer Blumenhandlung an der Reitbahn fand ich bei gleichem Lohn neue Arbeit. Ich fand mich schnell in die kleineren Arbeiten der Binderei und der Pflanzenpflege hinein und brachte es fertig, selbst Bindearbeiten auszuführen. Als der Geschäftsinhaber eines Tages früh ins Geschäft kam, konnte ich ihm einen Taler für ein selbst gefertigtes und abgeliefertes Blumenbukett überreichen. Von Hause brachte ich Eichenrinde und Tannenzapfen mit und fertigte daraus Topfhüllen. Beim Einkauf frischer Blumen war ich behilflich und musste sie bei den Landschaftsgärtnereien in der Umgebung der Stadt einholen. Ich führte die Arbeiten so zur Zufriedenheit aus, dass ich oftmals ein Extrageldgeschenk erhielt. Da kam der Sommer. Die Nachfrage nach Blumen wurde schwächer und mir wurde angeboten, während der Sommermonate für einen Wochenlohn von 2,50 Mark zu arbeiten. Der Ausfall war für mich zu bedeutend und so gab ich die Arbeit auf.

Doch Frau Johst wusste Rat. In der chemischen Fabrik, in der sie arbeitete, wurde ein Kontorbursche gesucht. Sie nahm mit dem Direktor Rücksprache, ich stellte mich vor und erhielt die Stelle. Tageslohn 80 Pfennig. Die chemische Fabrik lag über eine halbe Stunde von Danzig entfernt, die Arbeitszeit begann früh um 6 Uhr und dauerte mit einstündiger Mittagspause bis 6 Uhr abends. Ich musste also schon früh um ¾ 5 Uhr aufstehen und um ¼ 6 Uhr trat Frau Johst und ich den Marsch nach der Fabrik an. Mittags mussten wir mit Rücksicht auf die weite Entfernung in der Fabrik bleiben, deshalb musste ich meine Stullen und meine Blechkanne Kaffee für den ganzen Tag mitnehmen. Abends wurde zu Hause warm gegessen. Kontorbursche blieb ich indes nur acht Tage. Der Direktor fand an mir Gefallen, übertrug die Arbeit einem älteren Burschen und beschäftigte mich im Laboratorium. Seine Absicht mich soweit auszubilden, dass ich später im Betrieb eine Meisterstelle einnehmen konnte. Ein in der Fabrik tätiger Meister hatte in der Fabrik eine ähnliche Laufbahn durchgemacht. In ganz kurzer Zeit hatte ich schon eine ganze Reihe Arbeiten unter der Kontrolle des Chemikers selbstständig zu leisten. Ich war also im besten Zuge, dem Wunsch des Direktors zu entsprechen, als plötzlich die Laufbahn jäh beendet wurde.

Und das kam so.

Während der Mittagszeit musste ich im Laboratorium und Fabrikkontor bleiben und den ..... beobachten, der die Fabrik durch eigene Leitung mit dem Stadtkontor verband. Meldete sich der Apparat, dann sollte ich, ehe ich die Meldung selbst abnahm, einen Herrn der Betriebsleitung herbeiholen. Eines Mittags schlug der Apparat an. Ich suchte den Betriebsleiter, der das Telegramm abnehmen sollte, fand aber niemand und nahm es selbst ab. In der Eile hatte ich die Türe des Laboratoriums offen gelassen. Während meiner Abwesenheit war des Direktors großer Hund zum Laboratorium gekommen, fand auf meinem Stuhl mein Mittags- und Vesperbrot und fraß alles weg. Ich hatte Hunger. Dieser Umstand und die Aussicht bis abends nichts mehr zum Essen erhalten zu können, drückte meine Stimmung stark herab. Bei dem Kontorburschen, der mit der Stadtzugpost hereinkam, fand ich für mein Leid wenig Verständnis. Statt mich zu bemitleiden und mir auszuhelfen, lachte er mich noch obendrein aus.

Da kam der Direktor und fragte nach der Stadtmeldung. Ich gab Auskunft. Doch während ich mit ihm sprach, grinste mich der Kontorbursche an und ich musste schließlich über meine Situation selbst lachen. Der Direktor vermeinte ich lache über ihn, gab mir eine Ohrfeige und diktierte mir bei 4,50 Mark Wochenlohn eine Ordnungsstrafe von 3 Mark zu. Trotz der gegebenen Erklärung über den Sachverhalt hielt er am Lohntage an der Ordnungsstrafe fest. Das war zu viel. Erst fraß mir sein Hund das Brot weg, ich litt Hunger, erhielt dafür eine Ohrpfeife und sollte obendrein noch zwei Drittel meines Wochenlohnes einbüßen. Ich packte meine Arbeitssachen und verließ nach fünfmonatiger Tätigkeit die Fabrik. Die Geschäftsleitung zahlte mir später den vollen Lohn aus.

Mit der künftigen Meisterstelle war es nichts.

Durch ein Zeitungsinserat erhielt ich eine Lehrstelle in einem kaufmännischen Geschäft. In der Holzschneidegasse besaß mein Lehrherr Franz Dmoch ein Materialwarengeschäft mit Destillation, war daneben Lieferant von Reisigbesen für die preußische Staatseisenbahn, unterhielt eine Bierstube und betrieb aus Liebhaberei das Züchten von Singvögeln. In der Bierstube hatte er große Volieren mit heimischen und ausländischen Vögeln aufgestellt, deren Wartung und Pflege er mir übertrug. Das ganze kaufmännische Personal bestand aus einem älteren Lehrling und meiner Person. Unsere kaufmännische Ausbildung mussten wir bei der Vielseitigkeit des Lehrherrn und seinen Vorlieben für die Bierstube selbst besorgen. Er war also eine richtige Lehrlingszüchterei, die billige Arbeitskraft nicht die Ausbildung war die Hauptsache. Das Geschäft wurde auch im Winter früh um 6 Uhr geöffnet und abends um 10 Uhr geschlossen. Unser Schlafraum befand sich in einem Bretterverschlag unter der Treppe; ein Ausziehbett war unser beider Lagerstatt. Standen wir beim ersten Läuten früh nicht gleich auf, dann suchte Dmoch uns mit dem Ochsenziemer den Schlaf aus den Gliedern zu treiben.

Die starke Familie saß, herab bis zum Jüngsten auf seinem Nachtstuhl am gemeinsamen Mittagstisch. Passierte hierbei dem Kleinsten etwas Menschliches so wurde dadurch der Appetit stark herabgedrückt. Als Weihnachtsgeschenk erhielt ich aus dem Bestande des Lehrherrn eine verschlissene Unterhose und seinen abgelegten Winterüberzieher, in dem ich versank. Diese ideale Lehre fand im März 1882 unter folgenden Umständen ihren Abschluss.

Dmoch beteiligte sich an einer Ausstellung von Singvögeln und erwarb auf dieser eine große gebrauchte Voliere. Diese musste ich vor dem Hause reinige. Das hierzu verwendete Wasser gefror aber auf dem Pflaster, ich glitt darauf aus und stieß dabei eine kleine Milchglasscheibe ein, die für wenige Groschen zu ersetzen war. Dieser kleine Schaden brachte Dmoch so in Wut, dass er versuchte mich mit dem Ochsenziemer zu bearbeiten. Ich setzte mich zur Wehr, packte seinen Vollbart und so schoben wir in den Laden hin und her bis Kunden hinzusprangen und mich von dem rohen Gesellen befreiten. Ich packte sofort meine sieben Sachen, ging zu Mutter und meine erste „Lehre“ war beendet.

Bis dahin hatte ich mich allein ohne Hilfe durchgeschlagen. Nun aber ging ich zu meinem Vormund, stellte ihm meine Lage vor und ersuchte ihn, sich nunmehr für mich um eine Lehrstelle zu bemühen. Das tat er und am 1. April 1882 trat ich die neue Lehre bei dem Kaufmann Kaehs im Stadtgebiet an. Der Lehrherr betrieb gleichfalls ein Materialwarengeschäft mit Branntweinverkauf. Doch bestand ein wesentlicher Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Lehre. Die Behandlung und Verpflegung war besser, ich war der einzige Lehrling und war der Obhut eines älteren Gehilfen anvertraut. Die Lehre sollte drei Jahre in Anspruch nehmen und hatte Mutter nur für Kleidung und Wäsche zu sorgen. Die Arbeitzeit war gewöhnlich die gleiche wie bei Dmoch, nur Sonnabend musste früh um 4 Uhr der Laden geöffnet werden und wurde auch öfters später geschlossen. Sonntags wurde während der Kirchzeit vor- und nachmittags geschlossen, doch der Verkauf wurde von hintenherum fortgesetzt.

Sonnabends kamen die Kassuben ..... nach Danzig zum Markt, rasteten im Stadtgebiet und gaben auch ihre Bestellungen für die Heimfahrt auf. Hatte der Nachtwächter vergessen, mich auf seinem Rundgang zu wecken, dann trommelten mich die Kassuben schon heraus. Sie sind ein armes Volk und die Umsätze, die wir durch sie hatten, waren nicht erheblich. Als leidenschaftliche Schnupfer durfte beim Einkauf der Rohtabak nicht fehlen, aus dem sie sich den Schnupftabak selbst herstellten. Sie schnupften so stark, dass alte Leute bei der Unterhaltung oft die Schnupfdose nicht aus der Hand legten, ihnen die roten Augen trieften und die Tabaksbrühe dem Bart herunterlief.

Ich musste den Laden öffnen und einige Stunden später erschien der Gehilfe, nach ihm der Lehrherr. Später als der Gehilfe entlassen war und ein zweiter Lehrling eintrat, gingen die Arbeiten auf diesen über.

Doch des Lebens ungemischte Freude wird keinem Sterblichen zu Teil. Das musste ich auch in dieser Lehre erfahren. Und die Kräfte, die mir die Lebensfreude trübten und mir die Nachtruhe lange Zeit hindurch raubten, waren die sesshaften Kartenspieler. Zu unseren Kunden gehörte das Lokomotivpersonal, die in dem Schuppen am Boltengang ihre Lokomotiven einstellten, einige Pensionäre und Honoratioren, die mit dem „Alten“ in einem Stübchen neben dem Laden ihren „Solo“ kloppten. Die Solospieler trafen sich an mehreren Tagen der Woche bei uns. Da dieses Stübchen meine Schlafstube war, die Solospieler sich oftmals auch durch Bier stärkten, so musste ich so lange aufbleiben, bis die Spieler heim trollten. Das Aufbleiben bis spät in der Nacht dauerte über ein Jahr, bis die Spieler an einem anderen Lokal Wohlgefallen fanden.

Nach dem Abgang des Gehilfen übernahm ich seine Funktionen. So kaufte ich an den Markttagen Butter, Eier, Geflügel und Getreide und holte mit einem Mietgeschirr die bei den Grossisten und Fabrikanten in Danzig gekauften Waren ein- oder zweimal die Woche ab.

Die technischen Fähigkeiten des Ein- und Verkaufs eignete ich mir in der Lehre an, mit den theoretischen Kenntnissen haperte es aber bedenklich. Ich besuchte weder eine Handelsschule noch unterwies mich der Lehrherr in die Mysterien der kaufmännischen Buchführung und Korrespondenz. Das Ganze was er sich auf diesem Gebiet leistete war, dass ich im letzten Jahre der Lehre eine Kladde in Reinschrift bringe musste.

Mein Bruder Hans strebte nach Höherem, lernte ohne Lehrer Geige spielen. Hatte sich besseren Umgang mit Söhnen wohlhabender Eltern gesucht, beendete 1883 seine Lehre, schnürte sein Bündel und zog in die Fremde.

Während der freien Stunden hatte ich mich mit Unterstützung eines Malermeisters in Schriftmalen auf Glas geübt und fertigte kleine Reklameschilder, die ich an unsere Lieferanten absetzte, dem Lehrherren malte ich ein Schaufensterschild. Mit diesem Sport hatte ich einige Mark erworben.

Der Lehrherr war katholisch und daher auch Lieferant von Kerzen an die katholische Kirche. Darum hielt er fleißig auf geregelten Kirchgang. Alle vierzehn Tage durfte ich nach der Stadt zur Kirche gehen und konnte dann bis zur Wiedereröffnung des Geschäftes nach Schluss des Nachmittagsgottesdienstes, 4 Uhr, ausbleiben.

Diese Ausgehzeit verbrachte ich stets bei der Mutter, oft kam ich auch bei den Einkaufsfahrten auf einem Sprung nach Hause, um mich nach den Vorgängen zu Hause zu erkundigen.

Mutter war inzwischen ins Nebenhaus gezogen.

An einem Einkaufstage traf ich sie beim Einholen von Kohlen, mühsam schleppte sie einen schweren Eimer Kohle die Treppe hinauf. In solchen kleinen Mengen konnte sie nur ihren Bedarf decken. Am selben Tage ließ ich ihr von meinen Ersparnissen eine viertel Last Kohlen anfahren und gab ihr dadurch die Möglichkeit sich fortan größere Kohlenmengen anfahren zu lassen.

Max war inzwischen bei einem Hufschmied und Wagenbauer in die Lehre getreten, wohnte beim Meister während Mutter die Wäsche und Kleidung beschaffen und erhalten musste. Max war aber ein ausgesuchter Pechvogel. Als kleiner Bengel hatte er sich an einem Wagen gehangen, war überfahren wurden und hatte das Bein gebrochen. Dann erkrankte er an den Pocken und war vierzehn Tage lang blind. Beim Überklettern eines Zaunes stach er sich einen Eisendorn durch das Schienenbein. Beim Überschreiten eines Holfloßes trat er sich einen Nagel durch den Fuß und bei seinem Meister hatte er sich wieder Schaden zugefügt. Mit der linken Hand war er in eine Bohrmaschine gekommen und ihm war dabei das Mittelglied des Mittelfingers zerquetscht und ein Stück vom Zeigefinger abgequetscht worden. Mit dieser Verletzung lag er im Diakonissenkrankenhaus.

Mutter besuchte ihn an den Besuchstagen. An einem Mittwoch hatte sie ihn wieder besucht und ihre Wäsche, die sie auf dem Trockenplatz aufgehangen hatte, der Obhut einer Bekannten anvertraut. Während sie im Krankenhaus war, fing es an zu regnen. Besorgt um ihre Wäsche eilte sie vom Krankenbette durch ganz Danzig nach dem Trockenplatz, um die Wäsche in Sicherheit zu bringen. Als sie dort ankam war die Wäsche längst geborgen. Mutter musste sich bei diesem Marsch überanstrengt haben, denn auf dem Trockenplatz versagten ihr die Kräfte und so musste sie zu Bett gebracht werden.

Am 25. März 1885 kam Max, der inzwischen aus dem Krankenhause entlassen worden war, zu mir ins Geschäft und forderte mich auf nach Hause zu kommen, weil es mit der Mutter schlecht stehe. Auf dem Heimwege brachte er es mir dann so nach und nach bei, dass Mutter bereits verstorben war. Nach dreitägigem Krankenlager hatte ein Lungenschlag ihrem arbeitsreichen und sorgenvollen Leben ein Ende gemacht. Tieferschüttert stand ich an ihrem Sterbelager. Uns allen traf der Schlag außerordentlich hart, keiner hatte eine eigene Existenz. Martha hatte bis dahin der Mutter geholfen, Max war erst kurze Zeit in der Lehre und fünf Tage nach dem Tode sollte ich meine Lehre beenden. Wir hatten die letzte Stütze verloren.

Die Vorbereitungen zur Beerdigung wurden getroffen und Hans sofort telegrafisch von dem Tode der Mutter in Kenntnis gesetzt. Das Telegramm hatte ihn nicht erreicht, es wurde ihm erst einige Tage nach der Beerdigung auf der Post als unzustellbar ausgehändigt. Nach wenigen Tagen trugen Männer den Sarg der Mutter durch die Allee nach dem Bartholomäikirchhof, wo er eingebettet wurde.

Auf Ihrem schlichten Grabmal ließen wir die Worte setzen:

Kommt ihr nicht zu meinem Grab Kinder, die ihr um mich weint, Ach so denket, wie ich’s habeS tets so gut mit euch gemeint. Vielen Kummer, viel Beschwerden Habe ich müsse tragen euer. Doch ein großer Hoffnungsmorgen Hat sie ja versüßest mir. Ich bin nur vorangegangen, um euch liebend zu empfangen.

Die Schwester übernahm es das Grab der uns teueren Mutter zu schmücken und zu erhalten, sie hat ihr Amt treulich erfüllt. Nach noch mehr als dreißig Jahren ist der grüne Hügel blumengeschmückt erhalten.

In unsere tiefe Trauer brachte Hans einen argen Misston. Voll inniger Teilnahme an uns schrieb er über den auch ihn betroffenen Verlust, forderte seine Sachen, die er noch zu Hause hatte, nachgesandt und bemerkte in einem Brief an die Schwester, wir sollten ja nicht vergessen, dass die Erbschaft in vier Teile gehe. Niemand hatte daran gedacht ihn zu benachteiligen, dazu lag auch gar kein Anlass vor, denn als nach Monaten die Erbschaft geordnet wurde, fielen auf jedes der vier Geschwister neunzehn Mark und 50 Pfennig. Ich hatte dafür gesorgt, dass der Schwester die Möglichkeit blieb die Wäscherei fortzusetzen, so dass sie eine Existenz und Max an ihr eine Stütze hatte.

Am 1. April trat mein Lehrherr an mich heran und sprach: „ Robert du hast heute ausgelernt, von heute an werde ich dich mit Sie ansprechen und Herr nennen! Hast du dich schon um eine neue Stelle umgesehen?“ Als ich dies verneinte, erklärte er, dann könne Sie vorläufig bei mir als Gehilfe bleiben, aber mehr als zwanzig Mark Gehalt den Monat bei freier Ration kann ich nicht geben!

Die Ereignisse der letzten Tage waren so auf mich eingestürmt, dass ich mit dem gebotenen Gehalt zufrieden war. Blieb und froh war die Sorge um das weitere Fortkommen zunächst enthoben zu sein.

So wurde ich Handlungsgehilfe.

Doch die Freude nahm bald ein Ende.

Einer der Kartenspieler, kam eines Tags angeheitert kurz vor zehn Uhr abends noch ins Geschäft und wollte sich sesshaft machen trotzdem keiner seiner Spielkameraden anwesend war. Wir kamen zu Differenzen und ich verwies ihn des Geschäftes. Darüber war er sehr entrüstet, klagte meinem Arbeitgeber sein Leid und dieser ahndete die vom Solobruder zugefügte Kränkung mit der Kündigung meiner Stellung. Nach drei Monaten hatte ich meine erste Gehilfenstellung hinter mir.

Am 1. Juli trat ich aber bereits eine neue Stelle bei dem Kaufmann Puttkammer in Oliva an. Gehalt dasselbe, Arbeitszeit etwas länger, sie dauerte von früh 5 Uhr bis abends 11 Uhr. Der Inhaber hatte das Geschäft gekauft, um für seinen Lebensabend Ruhe zu haben, war er doch ein Menschenalter erst Gutsinspektor, dann Inspektor einer Kalkbrennerei gewesen. Das Grundstück lag am Ende der Straße nach Zoppot, wenige Wohnhäuser waren in unserer Höhe, nur das alte Depot der ehemaligen Pferdeeisenbahn Danzig – Oliva, wenig Menschen, denn es war zum Hilfsgefängnis für Leichtbestrafte ausgebaut worden. Unser Kundenkreis war also nicht sehr groß, deshalb gab es auch keine Überanstrengung. Für mich bedeutete eigentlich die Stellung eine Erholung.

Das Grundstück umfasste auch einen großen Obst- und Gemüsegarten aus dem fast nichts verkauft wurde und nur das Auserlesenste in die Küche kam. Gern war ich bereit, Obst zu pflücken, gab es doch Gelegenheit dem manövrierenden Geschwader auf der Ostsee bei den Gefechts- und Landungsübungen vom Baum aus zu zuschauen. Mit minütlicher Pünktlichkeit wurde gegessen. Eine gute bürgerliche Küche hatte ihren geregelten Speisefolgen für den Mittagstisch. Es gab einmal die Woche Gemüse, zweimal Braten, einmal Fisch und abends wurde noch aufgegessen, was mittags übrig geblieben war.

Kam es vor, dass ich mit dem Glockenschlage der Essenszeit zu Mittag oder abends Kundschaft hatte, dann löste mich sicher der „Alte“ ab und ich musste erst essen. Dazu täglich reichlich Obst, was Wunder warum ich in drei Monaten einundzwanzig Pfund an Körpergewicht zugenommen hatte, mich, wie man sagt, ordentlich herausgefressen hatte.

Soweit war die Stellung ideal, nicht aber ihre kaufmännische Seite. Der „Alte“ kaufte ein, hatte keinen richtigen Überschlag für den Absatz, dazu war der Sommer sehr heiß, er bestellte zuviel und vereinzelt verdarben die Waren. Am Verderben sollte ich Schuld sein, ich sollte die Ware nicht gut gepflegt haben, während ich sie bei dem mangelnden Absatz vor dem Verderben doch nicht retten konnte. Bald waren wir ein Paar und am 31. September, war nach dreimonatlicher Dauer meine zweite Gehilfenstellung erledigt. Ich hatte keine neue Stellung gefunden und stand nun stellungslos da.

Doch nicht verzagt.

Am 2. Oktober abends bediente ich wieder die Kundschaft in einem Geschäft der gleichen Branche in Dirschau. Das Geschäft hatte einen großen Umsatz in Branntwein, der selbst hergestellt wurde, daneben wurde noch eine Reihe anderer Produktionszweige, Flaschenbierhandel, Heringsräucherei betrieben. Zur Bewältigung all dieser Arbeit stand mir nur ein Lehrling zur Seite. Der Chef hatte noch eine Bier- und Weinstube, trieb Jagdsport und konnte sich wenig um das Ladengeschäft und die Kellerarbeit kümmern. Der Lehrling und ich konnten die Arbeit nicht zwingen, auch dann nicht, wenn wir auch nach Ladenschluss oftmals bis elf Uhr nachts im Keller arbeiteten. Zur Einstellung einer Arbeitskraft wollte sich der Chef nicht verstehen und so fehlte es an allen Ecken und Enden, nie war Vorrat da und manches verdarb. Es lief ein Sirupfass aus und der „Alte“ blieb im Sirup stecken. Die Räucherei konnte nicht genügend beobachtet werden und die primitive Räucherkammer verbrannte, der ganze Räucherumfang war vernichtet. Kurz es war eine unerfreuliche Arbeit und aus der Hetze kam man nie heraus.

Dazu die Begleitumstände. Der Chef war unverheiratet, seine polnische Wirtschafterin horchte polnisch sprechende Kundschaft über uns aus und hinterbrachte es dem „Alten“. Der Laden war zementiert und stark nass, von den Wänden unserer Schlafstube lief das Wasser herunter, doch durften wir nicht heizen, die Verpflegung ließ zu wünschen übrig.

Es wurde zu viel in Angriff genommen, an falscher Stelle gespart und dadurch viel Ärger und Verdruss geschaffen. Wäre ein Hausbursche eingestellt worden, das Geschäft wäre eine Goldgrube geworden.

Trotz all dieser Widerwärtigkeiten kam ich mit dem Chef gut aus, fiel aber doch einem Klatsch zum Opfer. Bei dem Fehlen an Vorrat, hatte ich einer Kundin besseren gerösteten Kaffee als verlangt gegeben, sie beklagte sich aber beim Chef, dass ich ihr eine geringere Sorte gegeben habe. Ohne den Fall zu untersuchen, kündigte er mir die Stelle.

Hinterher mag ihn sein übereilter Schritt leid getan haben, wenigstens hatte er bis Ablauf meiner Kündigungszeit sich auch keinen Ersatz für mich umgesehen. Als ich austreten sollte, erkundigte er sich bei mir, wann ich gedächte eine neue Stellung zu erlangen. Es hätte eines Wortes von mir bedurft und er hätte die Kündigung zurückgezogen, doch ich schwieg mich aus und erklärte, dass ich bis 15.Januar etwas Passendes finden würde. Auch an diesem Tage hatte er noch keinen Ersatz für mich beschafft.

In dem nassen Laden hatte ich mir ein Kniegelenksrheumatismus geholt und ohne Stellung verließ ich das Geschäft.

Bei meiner Schwester kurierte ich mich und kaum arbeitsfähig, trat ich noch hinkend eine Stellung im Geschäft von Drossel an der Weichsel an. Das Geschäft war mehr Destillation als Warengeschäft und teilte sich in Bierstube und Laden. Der Winter war außerordentlich streng. Die Kälte stieg bis 24 Grad Celsius, der Wind peitschte den feinen Schnee durch die Fensterritzen. Nachts um 3 Uhr zerbrach der Eisbrecher eine Flutrinne für die ausfahrenden Schiffe und früh um 6 Uhr fuhren schon die Holz beladenen mit Pferden bespannten Schlitten über die aufgebrochene aber wieder zugefrorene Fahrrinne. Erst am 30. März wurde die Weichsel eisfrei.

Der Laden bestand aus Fachwerk, konnte nicht geheizt werden, so dass es sehr unangenehm und gesundheitsschädlich war, in ihm zu arbeiten.

Ich hatte noch Gelegenheit ein Menschenleben zu retten. Im März hatte ein Dampfer für die Cellophanfabrik Kohlen gebracht, die Anlegestelle war nach der Abfahrt des Dampfers wieder zugefroren, doch das Eis war mürbe geworden. Beim Gleiten auf dem Eis war ein Kind ziemlich weit vom Ufer eingebrochen und klammerte sich noch an der Eiskante. Männer, die das Kind retten wollten, brachen sofort ein. Da ließ ich mir einige Bretter bringen, warf sie auf das Eis und arbeitete mich kriechend auf ihnen an den Jungen heran. In seiner Nähe gelangt, erfasste ich seine Kleidung mit einem Haken und zog ihn auf die Eisfläche und brachte ihn dann auf das Land.

Der Eisgang der Weichsel richtete in diesem Jahre ungeheuren Schaden in der Weichselniederung an. Im Knie bei Plehendorf schoben Eisschollen die zwölf Meter breite fest gebaute Straße am Weichselufer weg und ein ungeheuerer Strom ergoss sich, große Eisschollen mit sich tragend, in die Weichselebene. Menschen und Vieh waren rechtzeitig geborgen worden aber an den Gebäuden, dem Material und den Feldern richteten die reißenden Fluten ungeheueren Schaden an. Eine Eisscholle hatte sich unter einer Holzschiene geschoben und trug sie fort. Haus- und Wirtschaftgeräte sahen wir auf den Eisschollen treiben.

Neben diesen schweren Naturereignissen traten aber noch andere Störungen auf. Handel und Wandel lagen danieder. Die wenigen Holzschiffe, die an der Weichsel zur Einnahme der Holzladung angelegt hatten, waren bald vollgeladen, neue kamen nicht hinzu, so stockte die Arbeit, eine allgemeine Arbeitslosigkeit trat ein und hielt ziemlich lange an.

Drossel hatte noch ein zweites Geschäft, das seine Schwester leitete. Dieses Geschäft gab er auf, nahm seine Schwester in das andere Geschäft und ich war überflüssig. Am 1. Mai war ich stellungslos.

Um das öffentliche Leben, und um Politik hatte ich mich nicht gekümmert, dazu gab Danzig damals keine Anregung. Bei der Reichstagswahl im Jahre 1884 kam ein biederer Sackträger zu uns ins Geschäft und fragte: “Nun Herr Karfe wen wähle wir denn heute?“ Der Chef nannte ihn den katholischen Kandidaten worauf der Sackträger erklärte: „ Na, wenn du dat segge, dann wast dat schon stimme und et west nu ick wähle!“

So war ungefähr damals die politische Aufklärung.

Mit meinem Schulfreund Wenselow, der für den Freisinn schwärmte, korrespondierte ich nebenher über diese Frage, doch wichtiger war uns die Lage unserer Zukunft. Er wollte ins Ausland, ich glaubte auch in Deutschland mein Brot zu finden.

Der Zufall hatte mich auf das Abonnement des ersten oppositionellen Handlungsgehilfenblattes gebracht, das in Berlin herausgegeben wurde. Als mein Chef es einmal in die Finger bekam, verbot er mir das Weiterlesen, ich habe mich um das Verbot nicht gekümmert. Meine Schwester nahm mich in ihrer Wohnung auf und versorgte mich, während ich mich vergeblich um eine neue Arbeitsstelle mühte. Ich half ihr wo ich konnte. Als sie aber von mir verlangte, dass ich ihr helfen sollte Taschentücher zu waschen, da bäumte sich mein Kaufmannsstolz auf und wir verkrachten uns. Wir verbissen uns darüber so sehr, dass ich von ihr auch kein Essen mehr annehmen mochte. Ersparnisse hatte ich bei dem Gehalt und den häufigen Wechsel der Arbeitsstätte nicht machen können, so versuchte ich durch Verkauf einer Münzsammlung, durch Anleihen bei Frau Johst mir die Mittel zur meiner Erhaltung zu verschaffen.

Waren auch eine Reihe von Zufälligkeiten eingetreten, die mich von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle trieben, so ging ich doch mit mir zu Rate den weiteren Ursachen nachzuspüren und kam zu dem Ergebnis, dass mein Wissen zu meinem Wollen in argem Missverhältnis stand. Darum stand für mich fest, erst wieder sicheren Boden unter den Füßen, dann lernen. Den Vorsatz habe ich hochgehalten.

Sechs Wochen war ich schon arbeitslos und noch bestand keine Aussicht Stellung zu erhalten. Da entschloss ich mich jede sich mir bietende Arbeitsgelegenheit zu ergreifen, jedoch nur nicht in Danzig. Ich fand es als Demütigung in meiner Heimatstadt Lohnarbeiter zu werden. Darum entschloss ich mich Danzig zu verlassen. Noch einmal suchte ich am ersten Pfingsttage den Strand der Ostsee auf, badete in ihren Fluten und nahm Abschied von ihr. Am Tage nach Pfingsten gab ich „Tante Roscheneski“ mein Bett zum Pfande, sie lieh mir darauf zehn Taler. Meinen Abschiedsgruß beachtete meine Schwester nicht, sie hielt ihn nicht für ernst, und ich schied sang und klanglos von meiner Vaterstadt.

Mein Freund schloss seine spannende Erzählung, der ich aufmerksam gefolgt war und fügte hinzu: Nun wirst du verstehen, dass ich dem Dichter nicht zujubeln konnte, mich nach meiner „glücklichen Jugendzeit“ zurück zu sehnen. Ich hoffe aber, dass nicht so fern eine Zeit kommen wird, wo jedem Kinde eine glückliche Jugend erblühen wird, wo das Kind unbeeinträchtigt von Entbehrungen und Erwerbsarbeit sich ungehemmt körperlich zur Vollkommenheit entwickeln kann, sein Geist geleitet wird, alles Gute und Schöne in sich aufzunehmen. Sein Wissen sich umfassend erweitern kann. Dann ist die glückliche Jugendzeit da, dann entscheidet nicht der Zufall, sondern seine Befähigung für seine Stellung als Mitglied der menschlichen Gesellschaft.

Fußnoten Bearbeiten

2 Johann (Hans), geb. 17.04.1863 Danzig, gest. 16.04.1936 Leipzig

3 Martha, geb. 09.06.1865 Danzig, gest. 1945 Danzig (verschollen)

4 Richard, geb. 06.02.1867 Danzig, gest. 18.04.1936 Bennewitz/Wurzen

5 Wilhelmine Schroeder, geb. 03.09.1832 Stolp/Pommern, gest. 24.03.1885 Danzig

6 Max, geb. 15.06.1869 Danzig, gest. 01.04.1948 Leipzig

7 Johann Lipjinski (Libginski), geb. 17.04.1837 Tiegenhof / Westpreußen, gest. 04.04.1875 Danzig

8 Johann Lebjinski (Kutzmiercick alias Libginski), geb. 20.11.1812 Gnojau / Konkreßpolen, gest. 06.01.1876 Danzig

9 Kohlrübe

10 Wilhelm, geb. 19.08.1840 Tiegenhof / Westpreußen, gest. 02.05.1890 Tiegenhof

11 eiserner Kochtopf


12 Regina Hogenbaum adoptierte Schreiber, geb. 1813, gest. 18.09.1898 Danzig

13 Maria, geb. 02.10.1850 Tiegenhof, gest. 26.02.1920 Tiegenhof

14 Ernestine Ellendt, geb. 01.07.1855 Tiegenhof, gest. 03.03.1926 Danzig

15 Sitzbank in offenen Booten

16 ein Boot durch einen am Heck hin und her bewegten Riemen fortbewegen

17 terrassenartiger Vorbau an Häusern

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Handschriftliche Aufzeichungen, Kopie im Besitz des Verfassers.