Benutzer:Andreas Werle/Moderne Shakespeare-Editionen

Mit dem Begriff Moderne Shakespeare-Editionen werden die Werkausgaben Shakespeares aus der Zeit nach dem Abschluss des sog. Malone-Boswell-Variorums aus dem Jahre 1821 bezeichnet.

Einleitung Bearbeiten

In dem Artikel Frühe Shakespeare-Editionen wird die Geschichte der Werkausgaben zwischen 1709 und 1821 beschrieben. Die darauf folgende Editionspraxis ist für das 19. Jahrhundert zuerst vom sogenannten Capell-Malone-Paradigma geprägt. Dies ist die Zeit der quartobasierten Editionen mit dem Versuch, den ursprünglichen Text anhand der ältesten Drucke wiederherzustellen. Die bedeutendste Ausgabe des 19. Jahrhunderts ist das Furness-Variorum (1871-1912). Etwa zur selben Zeit entstehen die ersten Ausgaben eines akademischen Autorenkollektivs. Die entscheidenden Neuerungen im 20. Jahrhundert sind die Rehabilitation der First Folio durch Pollard und der Beginn der New Bibliography mit W.W. Gregg.

New Variorum Shakespeare Bearbeiten

Die Entwicklung der Editionspraxis im 20. Jahrhundert Bearbeiten

1909 veröffentlichte Alfred W. Pollard seine erste Arbeit über das Verhältnis der Quarto- und Folioausgaben der Dramen Shakespeares, in der er zwischen „guten und schlechten Quartos“ unterschied und herausstellte, dass es nur fünf Quartos minderer Qualität gäbe, nämlich die Quartoausgaben von Henry V, Merry Wives of Windsor und Pericles, sowie die beiden Erstausgaben von Romeo and Juliet und Hamlet. Damit rehabilitierte er die Herausgeber der First Folio.[1] 1931 ergänzte Ronald Brunlees McKerrow die Überlegungen Pollards, indem er, gestützt auf die Untersuchung des Manuskriptes von Sir Thomas More[2] (einem Gemeinschaftswerk von Anthony Munday, Henry Chettle, Thomas Heywood, Shakespeare und Thomas Dekker.), erklärte, dass die guten Quartos unmittelbar auf handschriftlichen Entwürfen Shakespeares beruhten.[3] Ausgehend von den Arbeiten Pollards und McKerrows entwarf W. W. Greg die Hypothese, dass die handschriftlichen Erstfassungen Shakespeares durch variable speech prefixes[4] und ungenaue stage directions[5] identifizierbar wären. Er schlug für diese Handschriften den Begriff „foul paper“ vor und unterschied sie von „theatre promptbooks“, in denen diese technischen Textbestandteile durchgehend korrigiert und präzisiert sind.[6]

Weitere Forschungen erfassten und verglichen die existierenden Ausgaben und gliederten sie in drei Gruppen: „foul paper“-Texte, „prompt book“-Texte und sogenannte „scribal transripts“.[7] Andere unterschieden die ursprüngliche Schmierfassung („rough copy“) von einer Reinschrift durch einen professionellen Kopisten („fair copy“) und einen Arbeitstext für die Schauspielertruppe, das „prompt-book“.[8] Auch die Dreiteilung in Quartos, die auf einem „foul paper manuscript“ basieren (Q2 des Hamlet von 1604/05), solchen, die auf einem „fair copy transcript“ basieren (Q1 des Othello von 1622) und sogenannte „reported texts“ (Q1 des Hamlet von 1603), ist üblich.[9] Die ausführlichste Unterscheidung treffen die Autoren des Textual Companion. Sie definieren für jedes Stück einen Kontrolltext und ordnen ihm einen zugrundeliegenden Handschriftentyp zu (underlying copy).[10] Diese Rekonstruktionen waren die Ausgangsbasis für ein optimistisches Forschungsprogramm, das George Walton Williams 1971 so zusammengefasst hat: Da keines der Manuskripte mehr existiert und die frühen Drucke die einzigen materiellen Zeugen sind, besteht die zentrale Aufgabe der Editoren darin, die Einflüsse und Veränderungen, die die Manuskripte durch die Arbeit der Schriftsetzer erfahren hatten, zu untersuchen. Eine vollständige Analyse aller Texte in Bezug auf diesen Prozess müsste es ermöglichen, die ursprünglichen Manuskripte wiederherzustellen.[11]

Im Zuge dieses Forschungsprogrammes (compositor study, new bibliographical paradigm oder kurz New Bibliography genannt) wurden umfangreiche Untersuchungen durchgeführt. Die vollständige Erfassung aller Quartos, eine umfassende Rekonstruktion der First Folio und ein systematischer Vergleich dieser Texte erfolgte in der erklärten Absicht, den jeweils besten Text wiederherzustellen. Dass dieses Programm gescheitert war, wurde schon um 1980 von Gelehrten eingestanden. Es scheiterte an zwei Gruppen von Stücken. Dabei handelt es sich einmal um die Folioversionen von 2 Henry VI, 3 Henry VI, Henry V. Bei diesen drei Texten ergab es sich, dass die sog „bad Quartos“ von 1594, 1595 und 1600 einen Einfluss auf die Folioversion hatten. Das Quarto von Richard III von 1597 wurde als „memorial reconstructed ‘bad quarto’“ neu klassifiziert. Noch größer sind die Schwierigkeiten bei den Stücken Troilus and Cressida, 2 Henry IV, Hamlet, Othello und King Lear. In diesen fünf Fällen wurde deutlich, dass sie in zwei unterschiedlichen Versionen existieren. Damit erwies sich die Vorstellung eines finally definitive text als Illusion. Die schon 1965 von E. A. J. Honigmann geäußerte Vermutung, dass die Theorie eines einzigen Manuskriptes unangemessen sein könnte, wurde von Stanley Wells 1983 zustimmend kommentiert. Das Konzept der ultimativen Textversion wurde so um die Vorstellung der multiplen Textversionen ergänzt und zur gleichen Zeit erklärte Stephen Orgel, die Annahme the correct text is the authors manuscript sei schlicht falsch, denn Shakespeares Texte seien das Produkt gemeinsamer Arbeit mehrerer Autoren und tatsächlich nicht Besitz des Autors, sondern der Schauspielgruppe gewesen.[12] Schließlich legten William B. Long und Paul Werstine anhand von Manuskriptanalysen die Vermutung nahe, dass Gregs Unterscheidung von foul paper und promptbook empirisch nicht haltbar sei, da man zeigen könne, dass der bookkeeper bei Herstellung des promptbooks tatsächlich kaum regulierend in die speech prefixes und stage directions eingegriffen habe. Zusammen mit neuen Untersuchungen zur Praxis des Buchdruckes war damit der „New Bibliography“ die Faktenbasis entzogen.[13]

Bislang ist trotz seiner offensichtlichen Defizite kein neues Editionskonzept an die Stelle der New Bibliography getreten. Auch die jüngsten wissenschaftlichen Textausgaben verwenden weiter die von Greg eingeführte Terminologie. Dies ist allerdings nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass gemäß der Kuhnschen Beschreibung Paradigmen nicht aufgegeben, sondern abgelöst werden. Die gegenwärtigen Entwicklungen der Editionspraxis reichen von der Überlegung, Texte im Kontext der Aufführungsgeschichte zu betrachten,[14] Untersuchungen zur Unterscheidung von Leseversionen und Spieltexten anzustellen[15] und Vorstellungen über die Unbestimmtheit von Texten.[16] In den jüngsten Ausgaben zeigt sich einerseits die Tendenz zum „unediting“, der Empfehlung, fotografische Faksimiles der frühen Quartos und der First Folio mit all ihren Fehlern zu lesen[17] und die Forderung, Texte anzubieten, die auch für ein breites Publikum zugänglich sind.[18] Die in der dritten Ardenausgabe des Hamlet realisierte Praxis, minimal korrigierte Leseversionen aller drei frühen Shakespearetexte anzubieten, erscheint hierbei als Kompromiss, der beiden Anforderungen gerecht werden will.

Literatur Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Grazia Cambridge Companion. S. 19.
  2. Alfred W. Pollard, W.W. Greg, E. Maunde Thompson, J. Dover Wilson, and R.W. Chambers: Shakespeares Hand in the Play of Sir Thomas More. CUP 1923.
  3. Barbara A. Mowat: The reproduction of Shakespeare’s texts. in: Grazia Cambridge Companion. S. 20. Ronald Brunlees McKerrow: The Elisabethan Printer and Dramatic Manuscripts. in: The Library, Fourth series, vol. 1–26 (1920–1946), 12:3 (1931) S. 253–275.
  4. Mit dem Begriff „speech prefixes“ werden die meist abgekürzten Namen des jeweiligen Sprechers bezeichnet.
  5. Mit dem Begriff „stage directions“ werden die Anweisungen zum Auftritt (enter) und Abgang (exit, exuent) eines Schauspielers bezeichnet.
  6. Grazia Cambridge Companion. S. 20.
  7. Grazia Cambridge Companion. S. 21. Fredson Bowers: „Today’s Shakespeares Texts, and Tomorrow’s“. In: Studies in Bibliography 19 (1966) 39-65. Dort S. 58.
  8. Suerbaum Dramen. S. 301.
  9. Dobson Oxford Companion. S. 361.
  10. TxC. S. 145–147. (tabellarische Zusammenfassung)
  11. Grazia Cambridge Companion. S. 21.
  12. Grazia Cambridge Companion. S. 23.
  13. Grazia Cambridge Companion. S. 21.
  14. Stephen Orgel. What is a Text? in: Research Opportunities in Renaissance Drama 24 (1981), 3-6.
  15. Richard Dutton: The Birth of the Author. 1997.
  16. Marion Trousdale: Diachronic and Synchronic. Critical Bibliography and the Acting of Plays. 1987.
  17. Dobson Oxford Companion. S. 122.
  18. William Shakespeare: King Richard III. The Arden Shakespeare. Third Series. Edited by James R. Siemon. 2009. S. 422.

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