Unter Neige versteht man im engeren Sinne entweder einen Zustand kurz vor der Leerung oder einen verbliebenen Rest selbst. Aus der Übertragung der „Neigung“ eines Gefäßes (beispielsweise eines Fasses), um auch die letzte Flüssigkeit entnehmen zu können, wurde die Tätigkeit des Neigens auf die verbliebene Flüssigkeitsmenge im Sinne eines Getränkerests übertragen. Im weiteren Sinne bezeichnet die Redewendung „zur Neige gehen“[1] alles, was kurz vor der Leerung oder seinem Ende steht, beispielsweise ein Zeitalter oder ein Geldbetrag.

Neige in Bierglas
Karikatur eines Neigentrinkers von Arpad Schmidhammer mit Anspielung auf den Vers „Ach neige, du Schmerzensreiche“ aus Goethes Faust (1905)

Neige als Getränkerest Bearbeiten

In Sprichwörtern Bearbeiten

Da der Rest im Falle von Wein- oder Bierfässern durch sedimentierte Feststoffe (Hefen, Weinstein etc.) meist getrübt ist, wird Neige meist mit einer negativen Konnotation versehen (Die Gottlosen trinken die Neige aus[2]). Daher wird in verschiedenen Trinksitten jenem das Recht auf einen frischen Antrunk beispielsweise bei einem Rundgesang und Trunk aus einem Trinkhorn zugestanden, der zuvor auch die schlechtere Neige austrank. Umgekehrt wurde sprichwörtlich, dass der Genuss des frischen Antrunks auch die Bürde der Neige begründe (Wer vom frischen getrunken, muß auch die Neigen trinken[3]). Diese Sitte findet sich auch in makkaronischer Dichtung in einem Vers des sogenannten Zanower Rechts: Qui bibit ex neigas, de frischibus incipit ille.[4] Bis zur bitteren Neige ist der Titel eines Romans von Johannes Mario Simmel, der 1975 verfilmt wurde. Er spielt auf eine Variation der Redewendung „Bis zum bitteren Ende“ an.

In der Studentensprache Bearbeiten

Die Neige in einem Trinkhorn, einem großen Trinkgefäß oder auch nur einem Trinkglas wird oft auch als „Rest“ bezeichnet. In der Studentensprache seit dem 18. Jahrhundert wird dem Trinken dieses Restes oder dieser Neige eine besondere rituelle Aufmerksamkeit zuteil, seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist in Ansehung der geringen Menge einer Neige und auch in Anlehnung an die geringe Wertigkeit des (trüben) Restes der feststehende Ausdruck „schäbiger Rest“ gebräuchlich.[5] Bereits im Jus potandi des Richard Brathwaite (1616) wird das Austrinken der Neige mit Ritualen, zu singenden Abschiedsliedern oder speziellen Verpflichtungen für den Leertrinkenden verknüpft. Das Leertrinken der Neige wurde auch als Leertrinken „bis auf die Nagelprobe“ nach dem gleichnamigen Ritual bezeichnet.[6]

„Kannenglück“ Bearbeiten

Da ab dem 16. Jahrhundert auch in der Studentensprache große Trinkgefäße jeglicher Art allgemein auch als „Kanne“ (lat. canna: Rohr, Gefäß) bezeichnet wurden, verbreitete sich das Synonym „Kannenglück“ für die Neige, welches jedoch schon im niederdeutschen kannengluk belegt ist[7]. Aus dieser Bezeichnung für die Neige eines Trinkgefäßes leitet sich auch Kanluk und Kannegeluk im Niederländischen, pot-luck im Englischen und sönnelykke im Dänischen ab. Im Trinkbrauch des sogenannten Hospitiums wird 1747 die hefehaltige Neige im Glas abfällig auch als „Philister“ bezeichnet, ebenso wie der verharzte Rest in einer ausgerauchten Tabakspfeife.[8]

In der Rechtsprechung Bearbeiten

Mindestens seit dem 18. Jahrhundert sind Fälle dokumentiert, in denen der Verkauf von Bierresten aus Gläsern (Neigebier,[9] Neigbier[10], Bierneigen[11] oder Ständerlingsbier[12]) vermischt mit neuem Bier bestraft wurde.

Bezeichnungen in Dialekten Bearbeiten

Im altbayerischen Dialekt gibt es den Ausdruck Noagerlzuzler als despektierliche Bezeichnung für jemanden, der die abgestandenen Bierreste anderer Leute ausschlürft (= „auszuzelt“), sowie im übertragenen Sinn für Personen, die auf Almosen und milde Gaben angewiesen sind und dadurch der vermeintlich besseren Gesellschaft lästig sind.

Quellen Bearbeiten

  • Jacob und Wilhelm Grimm: Das Deutsche Wörterbuch, „Neige“, Band 13, Spalte 565ff
  • Blasius Multibibus (d. i. Richard Brathwaite): Jus Potandi, oder Zechrecht, Leipzig 1616

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Duden | Neige | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft. Abgerufen am 26. August 2021.
  2. Christoph Ernst Steinbach: Vollständiges Deutsches Wörter-Buch, Breslau 1734 Band 2, 116
  3. Karl Simrock: Die deutschen Sprichwörter, 1846
  4. Karl Simrock: ebd. nach: F. Hasemann: Über den pommerschen Trink-Convent vor 400 Jahren in der Oderzeitung, Stettin 1867
  5. Christian Helfer: Kösener Brauch und Sitte, Saarbrücken 1991, S. 172
  6. Johann Grässli: Burschicoses Wörterbuch oder: Erklärung aller im Studentenleben vorkommenden Sitten, Ausdrüke, Wörter, Redensarten und des Comments: nebst Angabe der auf allen Universitäten bestehenden Corps, ihrer Farben und der Kneipen : ein untentbehrliches Hand- und Hilfsbuch für Lyceisten, Gymnasiasten, Penäler, Polytechniker ... und Studenten, die forsche Häuser werden wollen, diesen zur Erlernung, und alten, ausgesoffenen Burschen und einphilistrirten Häuptern zur Erinnerung an's sel. Burschenleben. Brodtmann, 1846, S. 335 (google.de [abgerufen am 5. Dezember 2021]).
  7. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 2. Aufl. Leipzig 1793–1801, Band 2, 733
  8. vgl. Friedrich Kluge: Deutsche Studentensprache, Straßburg 1895, S. 114
  9. Silesia (Prussia): Gesetz- und Verordnungs-Blatt für das Kronland Herzogthum Ober- und Nieder-Schliesen. A. Pawlitschet, 1919, S. 23 (google.de [abgerufen am 26. August 2021]).
  10. C. A. Neufeld: Der Nahrungsmittelchemiker als Sachverständiger: Anleitung zur Begutachtung der Nahrungsmittel, Genußmittel und Gebrauchsgegenstände nach den gesetzlichen Bestimmungen. Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-642-92055-4, S. 391 f. (google.de [abgerufen am 26. August 2021]).
  11. Auszüge aus gerichtlichen Entscheidungen zum Gesetze, betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen. Verlag von Julius Springer, 1894, S. 161 (google.de [abgerufen am 26. August 2021]).
  12. Sammlung der kurpfalz-baierischen allgemeinen und besonderen Landesverordnungen von Justiz-, Finanz-, Landschafts-, Maut-, Accis-, Kommerzien-, Manufaktur- oder Fabriquen-Sachen. Vötter, 1784, S. 367 (google.de [abgerufen am 26. August 2021]).