Mein Ödipus-Komplex

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My Oedipus Complex (dt. Mein Ödipus-Komplex in der Übersetzung von Elisabeth Schnack 1958) ist eine Kurzgeschichte des irischen Schriftstellers Frank O’Connor, die erstmals im Dezember 1950 in Today’s Woman publiziert und 1952 in der Kurzgeschichtensammlung The Stories of Frank O’Connor aufgenommen wurde.[1] Die Geschichte thematisiert die konflikthafte Entwicklung in der Beziehung zwischen dem fünfjährigen Protagonisten und seinem Vater, mit dem der Junge nach dessen Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg in schmerzhafter Weise die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Mutter teilen muss.

Antoine-Denis Chaudet: Ödipus als Kind aus dem Jahr 1801 (Paris, Louvre)

Inhalt Bearbeiten

Der fünfjährige Ich-Erzähler Larry stellt anfangs kurz die Vorgeschichte der Erzählung dar, die die Keime des nachfolgenden Konfliktes in sich birgt. Larry lebt allein mit seiner Mutter zusammen; der Vater kehrt nur zu kurzen Besuchen aus dem Krieg heim. Diese Gastbesuche des Vaters sind für den kindlichen Protagonisten geheimnisvoll wie „Sankt Nikolaus“ (S. 7)[2] sowie zugleich interessant und angenehm, hat der Vater doch seltsame Angewohnheiten wie Rauchen oder Rasieren und riecht „so schön“ (S. 7). Das Alltagsleben mit seinen täglich wiederkehrenden Gewohnheiten und Ritualen spielt sich allerdings ausschließlich zwischen Mutter und Sohn ab. Dabei fühlt der Junge sich in einer Beziehung zu seiner Mutter, die der eines Ehepartners ähnelt. Er plant gemeinsame Unternehmungen, überlegt, wie das Heim schöner gestaltet werden könne, kostet das morgendliche und abendliche Kuscheln und Erzählen im Bett der Mutter aus und denkt „über die Sache mit dem Baby“ nach. Er fragt sich, ob nicht die Zeit für Familienzuwachs gekommen sei, obwohl die Mutter der Ansicht ist, die finanziellen Möglichkeiten der Familie würden dafür nicht ausreichen.(S. 7 f.). Trotz seiner Privilegien im alleinigen Umgang mit der Mutter betet der Junge jedoch für seinen Vater, damit dieser gesund aus dem Krieg heimkomme (S. 8).

Als der Vater schließlich eines Morgens endgültig heimkehrt, wird dem Erzähler bewusst, dass die neue Situation seine vertraute Beziehung zur Mutter ernsthaft gefährdet. Der Erzähler muss feststellen, dass er sich irrt, wenn er den Vater mit „langweiligen Besuchern“ auf dieselbe Stufe stellt: Nun genießt er nicht mehr die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Mutter; er hat zu schweigen, während sie sich mit dem Vater unterhält (S. 8 f.); ihre wiederholten Bemerkungen, „ich rede mit Pappi“ werden für den Fünfjährigen zu „schrecklichen Worten“ (S. 9). Der nachmittägliche Spaziergang mit dem Vater, statt wie zuvor mit der Mutter, langweilt ihn, da der Vater sich nicht intensiv um ihn kümmert und seinen eigenen Interessen nachgeht. Auch am Abend hat die Mutter für ihn jetzt keine Zeit mehr; er muss zudem still sein, wenn der Vater die Zeitung liest (S. 9f.). Der Junge erkennt bald, dass der Vater für ihn zum Rivalen im Werben um die Aufmerksamkeit der Mutter geworden ist; er wünscht sich, sein Gebet wäre nie in Erfüllung gegangen, und überlegt, was er tun könne, um den Vater wieder so schnell wie möglich zurück in den Krieg zu schicken (S. 9). In der ungekürzten Ausgabe des englischen Originaltextes äußert Larry diesen Wunsch auch seiner Mutter gegenüber. So heißt es: „‘Mummy,’ I said that night […], ‘do you think if I prayed hard God would send Daddy back to the war?’“ (S. 2; sinngemäß dt.: „‚Mammi,‘ sagte ich an jenem Abend […], ‚glaubst du, wenn ich wirklich ernsthaft darum bete, dass Gott Pappi wieder zurück in den Krieg schickt?‘“).[3] In der deutschen Übersetzung von Schnack entfällt diese für die Aussage der Geschichte durchaus bedeutsame Passage (vgl. dt. Text, S. 9 f.).

Als Larry früh am nächsten Morgen wie gewohnt zur Mutter ins Bett kommen will, stellt er fest, dass der Vater mehr Platz einnimmt, als ihm seiner Meinung nach zusteht, und versucht erfolglos mit einigen Tritten den Vater dazu zu bewegen, zur Seite zu rücken; für den Erzähler ist es fortan nicht mehr „bequem“ im mütterlichen Bett; auch seine Versuche, mit der Mutter ein Gespräch zu beginnen, werden von dieser sofort unterbunden mit der stereotypen Ermahnung: „Still, Kindchen […] weck Pappi nicht auf“ (S. 10 f.). Doch der Vater wird wach und ist deutlich verärgert; es herrscht eine gedrückte Stimmung; selbst die Mutter ist wütend über Larry (S. 11). Als der Vater eine Tasse Tee für die Mutter holt, ist der Fünfjährige empört, da ihm anschließend keine eigene Tasse Tee ans Bett gebracht wird und er aus der Untertasse der Mutter trinken soll: „Ich wollte nicht aus ihrer Untertasse trinken. Ich wollte als Gleichberechtigter in meinem eigenen Heim behandelt werden und eine Tasse für mich alleine haben“ (S. 11).

Die Krise spitzt sich am folgenden Tag weiter zu. Nachdem der Junge eine aus seiner Sicht endlos lange Zeit gewartet hat, um das der Mutter gegebene Versprechen zu erfüllen, den Vater nicht zu stören, geht er schließlich dennoch zur Mutter ins Bett. Diese versucht erneut, ihn zum Schweigen zu bringen, doch der Erzähler will absichtlich die aus seiner Sicht längst überfällige Entscheidung zwischen seinen eigenen Ansprüchen und denen des Vaters herbeiführen.

Wie er dabei schildert, verstehe er sehr wohl, worum es gehe. Er wolle reden, der Vater wolle schlafen; die Frage sei daher, wessen Haus es denn eigentlich sei.[4] So besteht er der Mutter gegenüber entschieden auf seine ihm traditionell zustehenden Rechte: „»Mammi, ich fände es gesünder, wenn Vater auch ein eigenes Bett zum Schlafen hat!«“ (S. 12). Als seine Mutter darauf nicht eingeht, weckt er wütend den Vater mit einem „Knuff“ (S. 12; im Original: „a kick“ [Tritt], S. 4) auf und veranstaltet eine Schreiszene. Daraufhin erhält er von seinem zornigen Vater eine Tracht Prügel. Die Prügel an sich empfindet der Junge als “gar nicht schlimm”; was ihn allerdings „vollkommen verrückt“ macht, ist „die Ungerechtigkeit, von einem Fremden geschlagen zu werden, der sich in [sein] Heim und Mutters Bett geschlichen“ hat (S. 13).

Nach der Konflikteskalation ändert sich in der nächsten Zeit nur wenig an der Situation zwischen Vater und Sohn; das Zusammenleben erlebt Larry als „die reinste Hölle“; der Umgang zwischen ihm und seinem Vater bleibt feindselig (im englischen Original: „Father and I were enemies, open and avowed“, S. 5); die gekürzte deutsche Übersetzung „kühl und höflich“ gibt an dieser Stelle den vom Ich-Erzähler erlebten sinnbildlichen Kriegszustand im Haus nur unzureichend wieder (S. 13).[5] Dem Vater gelingt es zunehmend, seine Vormachtstellung in der Familie weiter auszubauen und verstärkt die Zuneigung der Mutter zu gewinnen.

Wie ihm dies möglich ist, bleibt dem kindlichen Erzähler ein Rätsel, trotz seiner eingehenden Beobachtungen des väterlichen Verhaltens. Zunächst nimmt er an, es habe damit zu tun, dass der Vater Zeitung lese, Pfeife rauche und seinen Tee schlürfe; doch seine eigenen Versuche, dieses Verhalten seines Vaters zu imitieren, um so wieder die Gunst der Mutter zu gewinnen, bleiben von dieser gänzlich unbeachtet (S. 13 f.). So vermutet er schließlich, dass das Gewinnen der mütterlichen Zuneigung und Liebe durch den Vater etwas mit dem Erwachsensein zu tun haben müsse:

„Ich konnte immer noch nicht verstehen, weshalb Mutter ihn so gern hatte. Er war in jeder Beziehung weniger nett als ich. Oft benutzte er häßliche Wörter, und seinen Tee trank er auch nicht immer leise. Eine Weile glaubte ich, ihre Liebe käme daher, weil sie sich für Zeitungen interessierte. Also dachte ich mir Neuigkeiten aus und tat so, als läse ich sie ihr vor. Aber es machte ihr nicht viel Eindruck. Ich steckte mir seine Pfeife in den Mund und wanderte so durchs Haus. Ich schlürfte sogar beim Teetrinken, aber sie verbot es mir. Der einzige Ausweg schien der zu sein, recht schnell zu wachsen und sie ihm dann wegzunehmen“ (S. 13).

Einstweilen bleibt dem kindlichen Ich-Erzähler nur das Abwarten; bei Gelegenheit kündigt er jedoch dem Vater die Fortführung des nur aufgeschobenen Kampfes an, indem er ihm voller Verachtung mitteilt, er werde die Mutter später heiraten und mit ihr auch „sehr viele Babys haben“ (S. 13 f.; im englischen Original heißt es hier: „‘It’ll be very nice’, I said confidently. ‘Because we’re going to have lots and lots of babies’“, S. 6).[6]

Aus dieser Ankündigung des Erzählers erwächst in der Handlung der Kurzgeschichte jedoch eine doppelte Ironie. Als bald darauf tatsächlich ein Baby in der Familie ankommt, verliert Larry damit noch mehr die Aufmerksamkeit der Mutter, die nun völlig dem kleinen ‚Sonny‘ gehört. Andererseits gewinnt er aber ein neues Verhältnis zum Vater, der offenbar auch das Getue um den Neuankömmling missbilligt und ebenfalls darunter zu leiden hat (S. 14f.). Die Solidarität der „Entrechteten“ wird endgültig gefestigt, als der Vater eines Nachts durch den plärrenden Säugling aus dem Ehebett vertrieben wird und wütend in Larrys Bett Unterschlupf suchen muss.[7]

Wenngleich Larry zunächst enttäuscht ist, dass es nicht seine Mutter, sondern sein Vater ist, der zu ihm nachts ins Bett gekommen ist, bemerkt er nun doch eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen sich und seinem Vater: Ebenso wie er selbst „durchschaute [der Vater] das Baby ohne weiteres. […] Jetzt war er an der Reihe. Erst hatte er mich aus dem großen Bett verjagt, und nun war er selbst weggejagt worden. Mutter kümmerte sich um niemanden mehr als um das ekelhafte Baby, und Vater und ich, wir mußten darunter leiden“ (S. 15).

Diese neue Einsicht lässt Nähe zum Vater entstehen: „Ich war schon mit fünf Jahren sehr großherzig; Rachsucht lag mir einfach nicht. Also streichelte ich ihn leise und sagte wie Mammi: »Ja, ja, ja, Pappi!«“ (S. 15). Larry bittet seinen Vater, ihn in den Arm zu nehmen und „er tat es, so gut er’s konnte. Er war nichts als Knochen, der Mann, aber immerhin war es besser als gar nichts. Ich kuschelte mich an und schlief ein“ (S. 15).

Zu Weihnachten, so berichtet der Ich-Erzähler abschließend, strengte der Vater „sich mächtig an und kauft mir eine phantastisch schöne Eisenbahn. Denn seit jener Nacht war’s mit den bitteren Gefühlen zwischen uns vorbei“ (S. 15).

Interpretationsansatz Bearbeiten

Ihren besonderen Reiz und ihre besondere Aussage gewinnt Mein Ödipus-Komplex durch das Ausdrucksmittel der Ironie. Außer in der Entwicklung der Handlung, wo sich die Gebete bzw. Wünsche des Jungen – zu Beginn die Heimkehr des Vaters aus dem Krieg, im Schlussteil dann der Familiennachwuchs – erfüllen, gleichzeitig durch die Erfüllung der Wünsche aber das genaue Gegenteil des Erhofften oder Erwarteten eintritt, verwendet O’Connor hauptsächlich Ironie in der Erzählsituation. Wie Borgmeier in seiner Interpretation der Kurzgeschichte aufzeigt, besteht fast durchgängig „ein komisches Mißverhältnis [sic] zwischen dem erlebenden und erzählenden Ich. Während Wahrnehmungen und Erfahrungen des Protagonisten in der Geschichte ihrem Inhalt nach auf den begrenzten und egozentrischen Erlebnisbereich eines Fünfjährigen beschränkt bleiben, erfolgt die Wiedergabe der Ereignisse, der emotionalen Reaktionen und Denkprozesse des Kindes in der Art eines Erwachsenen. Vokabular, Stil und Ausdrucksweise des Erzählten stehen in ironischem Kontrast zum Inhalt sowie zum unmittelbar wiedergegebenen Dialog.“[8]

Ein charakteristisches Beispiel ist die Stelle, als die Mutter Larry zum ersten Mal ermahnt, still zu sein und den Vater nicht aufzuwecken:

„»Still, Kindchen«, flüsterte sie, »weck Pappi nicht auf!«

Das war ja etwas ganz Neues!“ (im Original: „[…] a new development which threatened me“, sinngemäß „eine neue bedrohliche Entwicklung“, in der dt. Übersetzung verkürzt).

„Wenn ich morgens nicht mehr erzählen durfte, wie sollte ich denn da Ordnung schaffen in meinem Kopf?

»Warum?« fragte ich.

»Pappi ist müde!«

Das ist doch kein Grund! dachte ich“ (im englischen Original weiter: „I was sickened by the sentimentality of her ‘poor Daddy’“, S. 3, sinngemäß dt.: „Mir war übel von der Sentimentalität ihres ‚armen Pappis‘“; in der dtsch. Übersetzung verkürzt) „und fuhr fort: »Mammi, weißt du, wohin ich heute mit dir gehen möchte?«

»Nein, mein Kind«, seufzte sie“ (S. 10 f.).

O’Connor erzeugt an dieser Stelle, wie durchgehend in der gesamten Kurzgeschichte, für den Leser den Eindruck, die Gedankengänge des Kindes in der Erwachsenensprache wiederzugeben. Dieser Eindruck entsteht nicht nur durch den erhöhten Grad der Abstraktion („a new development“, „a quite inadequate reason“ im Originaltext), sondern auch durch lässig eingefügte umgangssprachliche Wendungen wie „sickened“ oder „that sort of gush“ (vgl. Originaltext S. 3). Durch diese Form der Bewusstmachung des kindlichen Denkens, die sukzessive erfolgt, erscheint der Protagonist in einem gewissen Maße als frühreifer Charakter. Mit dieser ironischen Verknüpfung von kindlich-eingeschränktem, direktem Ausdrucksinhalt und vollständig entwickeltem Argumentationsinstrumentarium siedelt O’Connor My Oedipus Complex in einem Zwischenbereich der short story an, der die Gegenpole von aspektarmer Schlicht- bzw. Einfachheit und realitätsferner Abstraktion in gleicher Weise meidet.

O’Connors Kurzgeschichte behandelt die authentische, lebendige Erfahrungs- und Erlebniswelt des fünfjährigen Kindes mit der abstrahierenden Übersicht eines Erwachsenen. Diese ironische Kontrastierung wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass die kindlichen Erfahrungen in dieser Kurzgeschichte überwiegend einen Bereich berühren, der üblicherweise der Welt der Erwachsenen zugerechnet wird, nämlich den Aspekt der Sexualität.[9]

Nicht nur rein zufällig spielt O’Connors Kurzgeschichte zu einem großen Teil im Bett der Mutter. Das Ehebett oder „big bed“, wie es im Originaltext genannt wird, bildet den wesentlichen Schauplatz von My Oedipus Complex und verkörpert gleichzeitig den zentralen Auslöser des Vater-Sohn-Konfliktes, die Zuneigung und Liebe der Mutter. Das große Bett wird dabei bereits im zweiten Absatz der Erzählung eingeführt und deutet den zentralen Konflikt der Kurzgeschichte schon zu Beginn vorbereitend an. Ist der Vater während seiner kurzen Heimataufenthalte im Ersten Weltkrieg für den Jungen zwar noch ein willkommener Gast, so wird der Platz im Bett der Mutter schon zu eng; der Protagonist muss sich in den frühen Morgenstunden zwischen die Mutter und den Vater quetschen („Eigentlich mochte ich seine kurzen Besuche recht gern, obwohl es sehr ungemütlich eng zwischen ihm und der Mutter war, wenn ich frühmorgens in das große Bett kletterte“, S. 7).

Es gehört zu Larrys Ritualen, als normaler Tagesbeginn in das Bett der Mutter zu kommen; hier findet er, wie Borgmeier in seiner Interpretation schreibt, „die Partnerin zum Gedankenaustausch, die ihm Wärme und Geborgenheit gibt, und neben ihr schläft er dann gewöhnlich wieder ein“.[10] So schildert der kindliche Protagonist seinen üblichen Tagesbeginn im ersten Teil der Kurzgeschichte folgendermaßen:

„Danach (d. h. nach dem Wachwerden) ging ich ins Schlafzimmer meiner Mutter, kletterte zu ihr ins Bett und erzählte ihr meine Pläne. Inzwischen war ich vor Kälte fast zum Eiszapfen erstarrt (im Original: „petrified [= versteinert] in my nightshirt“, S. 2). Sobald ich wieder aufgetaut war, schlief ich über meinem Geplauder ein […]“ (S. 8).

Der angestammte Platz im Bett der Mutter wird durch den Vater nach dessen Rückkehr bedroht. Bereits am zweiten Morgen bemerkt Larry: Der Vater „nahm noch mehr Platz als sonst ein, und ich hatte es gar nicht bequem“ (S. 10). Dabei bedeutet die „Bettgemeinschaft“ dem Jungen durchaus mehr, als es zunächst scheint; er möchte ganz bei seiner Mutter schlafen, wie der Leser später erfährt, als der kindliche Erzähler verärgert ist, weil „ein Fremder“ so ohne Weiteres die ganze Nacht das Bett mit der Mutter teilen darf (S. 11). Das Verhalten des Jungen in dieser Szene ähnelt, wie Borgmeier schreibt, dem „eines abgewiesenen Liebhabers“[11]:

„Und dabei war alles so ungerecht! Immer, wenn ich zu Mutter gesagt hatte, es sei unnötig, zwei Betten zu haben, und wir könnten die ganze Nacht in einem Bett schlafen, hatte sie geantwortet, daß [sic] es gesünder in zwei Betten sei. Und nun kam dieser Mann hier, dieser fremde Mensch, und schlief die ganze Nacht in ihrem Bett, ohne im geringsten [sic] an die Gesundheit zu denken!“ (S. 11).

Interessanterweise werden die in Liebesbeziehungen nicht völlig unüblichen Scheinargumente auch in Mein Ödipus-Komplex ausgetauscht. Ebenso wie der Junge, der das Argument der Ökonomie der Haushaltsführung vorschiebt, argumentiert die Mutter mit dem Aspekt der Gesundheit als vermeintlichem Grund. Larry wiederum wird an späterer Stelle genau diese Argumentation für seine Ziele und Zwecke nutzen, um kurz vor der Eskalation des Konfliktes mit dem Vater diesen mit einer offensichtlich diplomatischen Begründung aus dem Bett der Mutter zu vertreiben: „Mammi, ich finde es gesünder, wenn Vater auch ein eigenes Bett zum Schlafen hat!“ (S. 12).[12]

Ungeachtet aller kindlicher Unschuld trägt Larrys Beziehung zu seiner Mutter unverkennbar sexuelle Züge. Zu der Bettproblematik kommt das weitere Problem der „Sache mit dem Baby“ (im Originaltext: that little matter of the baby, dt. verkürzt), über das der Erzähler „immer verschiedener Meinung mit Mutter war“ (vgl. S. 9 f.). Die sexuellen Bezüge werden an gleichermaßen an weiteren Stellen in der Geschichte hervorgehoben. So mag Larry den ängstlichen Gesichtsausdruck nicht, den er bei seiner Mutter in einem Gespräch mit dem Vater beobachtet, da dieser in seiner Wahrnehmung das gute Aussehen der Mutter beeinträchtigt:

„[Vater] sprach sehr ernst mit meiner Mutter, die ein besorgtes Gesicht machte. Natürlich gefiel mir das gar nicht, daß [sic] sie besorgt aussah, denn sie war dann nicht mehr so schön“ (S. 8).

Ebenso empfindet Larry nach der Tracht Prügel, die er von seinem Vater erhalten hat, „die Schadenfreude des gekränkten Liebhabers über den Schmerz der Mutter“, wie es bei Borgmeier heißt.[13]

Der Vater wird für den Protagonisten zu einem echten Rivalen oder Nebenbuhler, den er gleichzeitig als Feind erlebt (vgl. S. 10), aber auch in seinen Methoden, die Gunst der Mutter zu gewinnen, kopiert (vgl. die durchaus komisch wirkende Imitation des Zeitungslesens, Pfeiferauchens und schlürfenden Teetrinkens, S. 13).[14]

Trotz der auffälligen sexuellen Bezüge in dieser Kurzgeschichte O’Connors ist die Erzählung jedoch nicht als exemplarische case study für den Freudschen Ödipuskomplex zu verstehen. Die „im Titel implizierte Abnormität steht in ironischem Kontrast zur vernünftigen Stimme des erzählenden Ich und zur gesunden Häuslichkeit der dargestellten Familie, deren ‚normales‘ Familienleben nur durch einen Einfluß [sic] von außen, durch die kriegsbedingte Abwesenheit des Vaters, vorübergehend aus dem Gleichgewicht gebracht ist.“[15]

Symbolische und stilistische Mittel Bearbeiten

Das übergreifende Thema in My Oedipus Complex ist, wie in den meisten Kurzgeschichten O’Connors, die Frage des Verhältnisses des Einzelnen zur Gemeinschaft, in der er sich befindet, sowie der menschlichen Kontakte und der Beziehung zur Umwelt im weiteren Sinne. Der fünfjährige Protagonist lebt zunächst in harmonischem Einklang mit seiner familiären Umwelt: Dissonanzen treten erst auf, als sich der Junge durch die Heimkehr des Vaters mit einer einschneidenden Veränderung bzw. Verengung seiner Lebenswelt konfrontiert sieht, mit der er sich am Ende der Short Story jedoch arrangieren kann.[16]

Die Veränderung in der Umwelt des Jungen spiegelt sich in der Kurzgeschichte in dem mehrfach variierten Tagesanfang. Obwohl O’Connor in seinen literaturtheoretischen Äußerungen deutlich Position gegen die symbolische Short Story bezieht[17], verwendet er hier eine nachhaltige Symbolik, die unauffällig auf ihrer starken realen Grundlage zum Tragen kommt.

Die Beziehung Larrys zu seiner Umwelt kommt in seinem Blick aus dem Mansardenfenster zum Ausdruck, seine emotionale Erlebniswelt bzw. sein Lebensgefühl durch den symbolhaften Vergleich und die Beziehung zur Sonne. Am Anfang der Kurzgeschichte steht sein Tagesbeginn in Harmonie mit der Sonne: „I always woke with the first light, and, with all the responsibilities of the previous day melted, feeling myself rather like the sun, ready to illumine and rejoice …“ (Original S. 1; dt. sinngemäß: „Ich wachte schon beim ersten Tageslicht auf, mein Kopf berstend voll mit den Verantwortungen des letzten Tages, und fühlte mich ziemlich wie die Sonne, bereit zu leuchten und mich zu freuen …“)[18] Später ist dieser Einklang getrübt, und kurz bevor dem Höhepunkt des Vater-Sohn-Konfliktes heißt es im Originaltext: „I didn’t feel in the least like the sun“ (S. 4; in der dtsch. Übersetzung fehlt diese Textstelle ebenso; vgl. dt. Text S. 12). Der morgendliche Blick aus dem Dachfenster in seiner ursprünglichen Form entspricht, wie Borgmeier in seiner Ausdeutung der Symbolik in My Oedipus Complex darlegt, „der Welt des Kindes; der engere Lebensraum, die eigene Seite des Tales, ist in das Licht des Erkennens und der Bekanntheit getaucht, wenngleich er auch fremde, unvertraute Aspekte bietet; die Ferne erscheint weithin dunkel“.[19]

So schildert der Ich-Erzähler im Originaltext den Ausblick aus dem Dachfenster wie folgt:

„The window overlooked the front gardens of the terrace behind ours, beyond these it looked over a deep valley to the tall red brick houses terraced up the opposite hillside, which were all still in shadow, while those at our side were all lit up, though with long strange shadows that made them seem unfamiliar, rigid and painted“ (Originaltext S. 1, dt.: sinngemäß: „Das Fenster war auf die vorderen Gärten der Terrasse hinter der unserigen ausgerichtet; jenseits dieser Gärten sah man über ein tiefes Tal bis zu den hohen roten Ziegelsteinhäusern auf der entgegengesetzten Seite des Hügels, die alle noch im Schatten lagen, während die auf unserer Seite alle erleuchtet waren, obschon mit langen seltsamen Schatten, die sie unvertraut, starr und bemalt erschienen ließen“; in der Übersetzung von Schnack fehlt auch diese Passage).

Nach der Heimkehr des Vaters und den beginnenden Spannungen in der Vater-Sohn-Beziehung bringt der Ich-Erzähler seine veränderte Lebenssituation symbolhaft in der nunmehr bedrückend erscheinenden Außenwelt bei Tagesbeginn zum Ausdruck: „[…] ich spielte – stundenlang, wie es mir schien. Dann holte ich den Stuhl und sah aus dem Mansardenfenster, auch stundenlang. Es war langweilig, und es war kalt“ (S. 12). Im ungekürzten Originaltext heißt es im Anschluss: „Dawn was just breaking, with a guilty air that made me feel I had caught it in the act“ (S. 3; dt. sinngemäß: „Der Tag brach gerade im Morgengrauen an, mit einer schuldbewussten Luft, und ich hatte das Gefühl, ihn auf frischer Tat ertappt zu haben“). Unmittelbar vor dem offenen Ausbruch des Streites zwischen Vater und Sohn wird bei der Erwähnung des Ausblicks das sich bietende Bild gar nicht mehr vom Ich-Erzähler dargestellt (vgl. dt. Text S. 12, Originaltext S. 4).[20]

Ein weiteres, symbolisch bedeutsames Zeichen aus der realen Alltagswelt des kindlichen Ich-Erzählers, das in seiner Funktion dem obigen erwähnten Ehebett vergleichbar ist, zeigt sich in der ungekürzten Originalfassung von My Oedipus Complex in der Souvenirkiste des Vaters.

Während der Abwesenheit des Vaters darf der Junge mit der Erlaubnis seiner Mutter nach Herzenslust in der Kiste kramen (vgl. Originaltext S. 1); noch ist seine Dominanz im Hause unangefochten. Nach der Auseinandersetzung mit seinem Vater findet dieser Larry wieder einmal bei seinen Souvenirs bzw. Schätzen und macht ihm eine „schreckliche Szene“ („a terrible scene“, S. 5); diesmal ergreift die Mutter jedoch demonstrativ Partei für den Vater und dessen Rechte: „Mother got up and took the box from me. ‘You mustn’t play with Daddy’s toys unless he let’s you, Larry,’ she said severely. ‘Daddy doesn’t play with yours’“ (S. 5; dt. sinngemäß: „Mutter stand auf und nahm mir die Kiste weg. ‚Du darfst nicht mit Pappis Spielsachen spielen, wenn er dich nicht lässt, Larry,‘ sagte sie streng. ‚Pappi spielt auch nicht mit deinen‘“).

Auffällig sind hier im Originaltext von My Oedipus Complex die Worte der Mutter: „Daddy’s toys“. Mit diesem Ausdruck bereitet sie gleichsam symbolisch die schließliche Niederlage des Vaters bzw. die Annäherung von Vater und Sohn am Ende der Geschichte vor, indem sie mit ihrer Wortwahl die beiden auf eine gemeinsame kindliche Stufe stellt. Diese Ebene der komischen Gleichstellung deutet auf den Ausgleich und den gemeinsamen Erfahrungshorizont zwischen Vater und Sohn am Schluss, als Larry in der englischen Fassung seine Empfindungen schildert: „I couldn’t help feeling sorry for Father. I had been through it all myself …“ (S. 6; dt. sinngemäß: „Ich konnte nicht umhin, Mitleid mit Vater zu haben. Ich hatte es alles selbst durchlebt …“).[21]

My Oedipus Complex erweist sich dementsprechend, wie Borgmeier in seiner Analyse der englischen Ausgangsfassung zusammenfassend feststellt, „als sorgfältig konstruiertes Kunstwerk, und der durch das Fehlen spektakulärer Stilmittel und Techniken erzeugte, für O’Connor typische Eindruck der Leichtigkeit […] stellt sich als trügerisch heraus“.[22]

Die Aufbau der Erzählung ähnelt der Struktur des klassischen Dramas: Nach der Exposition der Vorgeschichte bzw. Ausgangssituation steuert die Handlung in mehreren Szenen auf die Krise zu, die in der offenen Konfrontation zwischen Vater und Sohn und der physischen Gewalttätigkeit des Vaters ihren Höhepunkt findet; zugleich wird damit in klassischer Form die Peripetie eingeleitet, die schließlich zur Konfliktlösung und Versöhnung zwischen den Kontrahenten führt. Die in den einzelnen Szenen gesetzten Tageszeiten bilden „in dieser dramatischen Linienführung [eine] entsprechende formale Klammer des Geschehens; zunächst spielt sich die Handlung vornehmlich morgens ab […], nach dem Höhepunkt hingegen abends und schließlich gar nachts“.[23]

Die Vorgeschichte wird dabei in Mein Ödipus-Komplex ebenso wie in anderen Kurzgeschichten O’Connors entsprechend seiner mehrfach theoretisch dargelegten Abneigung gegen eine formale dramatische Exposition ganz vom Ich-Erzähler berichtet.[24]

Wirkungsgeschichte Bearbeiten

My Oedipus Complex gehört neben The Genius, The Study of History und First Confessions zu der Gruppe der Kindheitsgeschichten in O’Connors Kurzprosa, in deren Mittelpunkt jedes Mal ein kleiner Junge steht, der einschneidende, angstbesetzte Erfahrungen in der Begegnung mit der für ihn unvertrauten oder unverständlichen Welt der Erwachsenen macht.

Kosok geht in seiner Untersuchung der Kurzgeschichten O’Connors sogar so weit, Mein Ödipus-Komplex in die Reihe irischer stories of initiation einzureihen, welche die „erschreckende, beängstigende, letzten Endes aber auch befreiende Konfrontation Heranwachsender […] mit den seltsamen Riten, den ‚Realitäten‘ der Erwachsenenwelt“ thematisieren.[25]

Gemäß O’Connors Kurzgeschichtenkonzept wird dabei an zentraler Stelle der Augenblick der „intense awareness of human loneliness“ gestaltet.[26] Nach O’Connor unterscheidet genau dies die Gattung der Short Story von der des Romans, seine theoretische Konzeption, die auch in My Oedipus Complex ihren literarischen Ausdruck findet, steht den literaturtheoretischen Vorstellungen von James Joyce nahe, der als charakteristisches Merkmal der Kurzgeschichte den Moment der Einsicht bzw. Erleuchtung, die so genannte epiphany (dt. Epiphanie, d. h. eine unerwartete Erfahrung oder ein unvermutetes Erlebnis), definiert.

Kosok zufolge hat Frank O’Connor mit Kurzgeschichten wie My Oedipus Complex dazu beigetragen, den literarischen Status und hohen Rang der Kurzgeschichte in der irischen Erzähltradition aufzubauen. Mit „einer bis ins letzte [sic] ausgefeilten Technik der Erzählperspektive (vor allem in der Erfindung komplexer Ich-Erzähler), […] der Andeutungs- und Suggestionsprozesse, der Reduktion und Konzentration“ verlangt die Lektüre dieser Geschichten vom Leser „prinzipiell die gleiche Bereitschaft zur intensiven Kooperation wie die Lektüre von Lyrik.“[27]

Thematisch bereitet Mein Ödipus-Komplex zudem mit dem Aufwerfen der Problematik der zwischenmenschlichen Sexualität, die O’Connor trotz der drohenden Zensur durch die Katholische Kirche in dieser Erzählung in unverkennbarer, wenngleich indirekter oder impliziter Weise behandelt, den Weg vor für die jüngeren irischen Kurzgeschichten, die durch eine „neue Offenheit in Fragen der Sexualität“ im Gegensatz zu dem herrschenden Moralkodex der Katholischen Kirche in Irland geprägt sind.[28]

O’Connor setzt in der erzählerischen Gestaltung dieser Thematik des Sexuellen eine auch in seinen anderen Kurzgeschichten verwendete Andeutungstechnik ein, durch die die Zusammenhänge in der dargestellten Situation erst allmählich für den Leser deutlich werden, so dass dieser bei einer erneuten Lektüre des Textes in Kenntnis des vollständigen Erzählzusammenhangs eine ganz neue Sichtweise entwickelt.[29]

Autobiographischer Hintergrund und Bedeutungsgehalt Bearbeiten

 
Geburtsort O’Connors: Cork in Irland um 1900

Der Protagonist und Ich-Erzähler in My Oedipus Complex wird in verschiedenen literaturwissenschaftlichen bzw. literaturkritischen Deutungen dieser Geschichte von einigen Interpreten als Frank O’Connor (oder Michael O’Donovan, wie sein bürgerlicher Name lautete,[30]) selber verstanden. So schreibt beispielsweise Elisabeth Schnack in einer Kurzbiografie von Frank O’Connor, dass seine Kindergeschichten, zu denen auch My Oedipus Complex gehört, „autobiographische[sic] Züge tragen“ und viel über dessen einsame, auf sich selbst gestellte Kindheit in einer durch Armut geprägten irischen Familie verraten.[31]

Die Grundsituation und verschiedene Details in Mein Ödipus-Komplex entsprechen durchaus dem Bild, das der Autor von seiner eigenen Kindheit in An Only Child beschreibt. So stellt er sich selbst als „das klassische Beispiel eines Mutterjungen“ dar und berichtet über seine Eifersucht auf den Vater, der ebenfalls lange Zeit abwesend war. Wie Larry in der Kurzgeschichte kannte der junge Michael O’Donovan alias Frank O’Connor seinen Vater, der wie Larrys Vater am Ersten Weltkrieg teilnahm, nur aus Kurzbesuchen, bei denen dieser stets allerhand Krimskrams mitbrachte. Auch Michael O’Donovan erlebte die Zeit allein mit seiner Mutter zu Hause, ungestört durch den Vater, als die glücklichste Zeit seiner Kindheit.[32]

Der Tagesablauf in der Kindheit, den O’Connor in seiner Autobiografie schildert, zeigt bis ins Detail Parallelen zu der Kurzgeschichte: Am Anfang des Tages stand beispielsweise auch für Frank O’Connor der Blick aus dem Mansardenfenster auf die Stadt und ihre reizvolle Umgebung, neben gemeinsamen Einkäufen mit der Mutter wurden nachmittags häufig Spaziergänge unternommen. Ebenso stimmt die Schilderung von O’Connors Vater im Hinblick auf dessen Person und Erscheinung in vielen Einzelheiten mit Larrys Vater überein; die Entsprechungen gehen dabei bis in die Wortwahl.[33]

Obwohl es eindeutige autobiografische Übereinstimmungen zwischen der Kindheit des Autors und der von Larry in My Oedipus Complex gibt, darf der Ich-Erzähler in dieser Kurzgeschichte nicht ohne Weiteres mit dem Autor gleichgesetzt werden, wie Borgmeier in seiner Analyse zu Recht betont. „My Oedipus Complex ist kein Bruchstück aus der Lebensgeschichte des Autors, sondern ein selbständiges Werk, das durch das behandelte Thema des Vater-Sohn-Konfliktes und nicht durch die Zielsetzung biographischer Dokumentation bestimmt wird. O’Connor […] benutzt seine Kindheitserlebnisse nur als Material; die wenigen, aber bedeutsamen Abweichungen heben hervor, warum es O’Connor in der Kurzgeschichte geht.“[34]

Während O’Connors Vater ein hemmungsloser Trinker war, der die Familie an den Rand des Ruins brachte, ist Larrys Vater ernsthaft darum bemüht, Arbeit zu finden, um die Familie zu ernähren (vgl. Text S. 12); auch die große Armut, unter der O’Connors Familie litt, kommt in der Erzählung nicht zum Ausdruck; anstelle eines dürftigen Weihnachtsgeschenkes wie in O’Connors Kindheit erhält Larry zu Weihnachten von seinem Vater „eine phantastisch schöne Eisenbahn“ (S. 15). Borgmeier weist zusätzlich auf einen weiteren wichtigen Unterschied hin: „Anstelle des meist ernsten Tones des autobiographischen [sic] Berichters herrscht [in der Kurzgeschichte] die heitere Ironie des Lebensphilosophen vor. O’Connor will nicht einmalige, individuelle Lebensbedingungen festhalten, sondern das Wesen menschlicher Beziehungen, den rollenbedingten Konflikt zwischen (heimkehrendem) Vater und Sohn, an einem besonderen Fall darstellen.“[35]

My Oedipus Complex ist, wie Borgmeier weiter ausführt, „zu allererst ein literarisches Kunstwerk“, eine geformte sprachliche Aussage im Sinne von O’Connors Kurzgeschichtenkonzeption, welche die short story als eine ebenso ausgefeilte Kunstform wie das Sonett betrachtet. So wird die Darstellung der kindlichen Lebensgeschichte Larrys in eine formal geschlossene Form gebracht, die O’Connors literaturtheoretischem Konzept entspricht. Larry, das Einzelkind, bekommt am Ende einen Bruder, der in My Oedipus Complex die abschließende Ironie ermöglicht, dass der Vater als Eindringling seinerseits von dem Eindringling Baby verdrängt wird. Ebenso nutzt O’Connor, wie oben dargestellt, das Stilmittel der Ironie auch an anderen wesentlichen Stellen der Kurzgeschichte, beispielsweise als Larrys Gebet, der Vater möge gesund aus dem Krieg heimkehren, sich erfüllt, dabei sich jedoch in das genaue Gegenteil des Gewünschten verkehrt.[36]

Sonstiges Bearbeiten

Der für die Kurzprosa O’Connors typische Eindruck der Leichtigkeit, der jedoch nicht mit einer unverbindlichen Oberflächlichkeit der erzähltechnischen Gestaltung oder gar des Sinngehaltes seiner short stories verwechselt werden darf, ist, wie der Autor selber glaubhaft schildert, das Ergebnis eines längeren, durchaus mühsamen Schaffensprozesses. So schreibt O’Connor in dem Vorwort zu der Ausgabe seiner gesammelten Kurzgeschichten 1952: „Some of the stories had been rewritten twenty, thirty, even fifty times, though a few perfect things like ‘My Oedipus Complex’ […] remain more or less what they were when first they came into my head“ (dt. sinngemäß: „Einige meiner Geschichten waren zwanzig, dreißig, sogar fünfzig Mal neu geschrieben worden, obwohl einige perfekte Sachen wie ‚Mein Ödipus-Komplex‘ mehr oder weniger das geblieben sind, was sie waren, als sie mir zuerst in den Kopf kamen.“)[37]

Sekundärliteratur Bearbeiten

  • Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 274–284
  • Heinz Kosok: Geschichte der anglo-irischen Literatur. Ernst Schmidt Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-503-03004-2, S. 193–195

Ausgaben Bearbeiten

My Oedipus Complex wurde nach der Erstveröffentlichung 1950 in Today’s Woman 1952 in der Anthologie The Stories of Frank O’Connor im New Yorker Knopf Verlag sowie 1953 im Londoner Hamish Hamilton Verlag aufgenommen. My Oedipus Complex and Other Stories erschien ebenso 1963 in der Sammlung My Oedipus Complex and Other Stories als Taschenbuch im englischen Penguin Verlag, Harmondsworth. Diese Anthologie wurde mehrfach in verschiedenen Verlagen neu aufgelegt, zuletzt 1999 im britischen Longman Verlag. Vermutlich 1950 nach den Angaben in WorldCat veröffentlichte Frank O’Connor unter dem Titel Frank O’Connor Reading his Complete Short Story My Oedipus Complex im New Yorker Caedmon Verlag ebenfalls eine Hörfassung der Geschichte auf LP und Tonkassette. Die deutsche Übersetzung von Elisabeth Schnack wurde zuerst 1958 im Züricher Diogenes Verlag in der Sammlung Und freitags Fisch und 1976 in demselben Verlag auch in der Sammlung Mein Ödipus-Komplex · Gesammelte Erzählungen II, ISBN 3-257-20352-7, in einer allerdings gekürzten Fassung publiziert, in der vor allem mehrere für die tiefere symbolische und atmosphärische Aussage der Geschichte bedeutsame Textpassagen entfallen (vgl. die Textdeutung oben).

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Vgl. die Angaben im Abschnitt „Ausgaben“.
  2. Textbelege zu Mein Ödipus-Komplex beziehen sich auf die Übersetzung von Elisabeth Schnack in der Sammlung Frank O’Connor: Mein Ödipus-Komplex · Gesammelte Erzählungen II, ISBN 3-257-20352-7.
  3. Vgl. die unter Weblinks angegebene online-Ausgabe des englischen Originaltextes auf: The International Child and Youth Care Network, S. 2f.
  4. Diese Schlüsselstelle der Originalfassung entfällt ebenfalls in der dt. Übersetzung von Schnack. Im englischen Original heißt es: „I understood it only too well. I wanted to talk, he wanted to sleep - whose house was it, anyway?“. Vgl. Originaltext, S. 4.
  5. Vgl. auch das Erleben des Erzählers in der Streitszene: „Er [der Vater] sah mich an wie ein Riese, der mich ermorden wollte“ (S. 13).
  6. Die deutsche Übersetzung von Elisabeth Schnack „»(…) und Kinder werden wir auch haben«“ (S. 14) gibt das Original an dieser Stelle nur unzureichend wieder.
  7. Vgl. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 279. Siehe im dt. Text S. 14f.
  8. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 279f.
  9. Vgl. zu diesem Deutungsansatz im Detail die Ausführungen bei Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 279ff. Siehe auch die Hinweise auf die Thematisierung des Sexuellen in O’Connors Kurzprosa bei Heinz Kosok: Geschichte der anglo-irischen Literatur. Schmidt Verlag, Berlin 190, ISBN 3-503-03004-2, S. 193f. Ebenso in derselbe: Die irische Kurzgeschichte. In: Arno Löffler und Eberhard Späth (Hrsg.): Geschichte der englischen Kurzgeschichte. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2005, ISBN 3-8252-2662-X, S. 260.
  10. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 280f.
  11. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281.
  12. Vgl. dazu auch Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281.
  13. Vgl. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281f. Siehe dazu auch die Textstelle im Original S. 5, die in der dt. Übersetzung leider entfällt: „And there stood Mother in her nightdress, looking as if her heart was broken between us. I hoped she felt as she looked. It seemed to me that she deserved it all.“
  14. Vgl. zu dieser Deutung Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281. Kosok weist in seinen Ausführungen zu My Oedipus Complex auf die komischen Mittel hin, die O’Connor in dieser Kurzgeschichte „zur Abwendung des Unheimlichen und Bedrohlichen“ einsetzt. Siehe Heinz Kosok: Geschichte der anglo-irischen Literatur. Schmidt Verlag, Berlin 190, ISBN 3-503-03004-2, S. 194.
  15. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281. Borgmeier folgt hier der Deutung von Hall und Langland in: J. B. Hall und J. Langland: The Short Story. New York 1956, S. 218.
  16. Vgl. dazu Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 281.
  17. Vgl. Frank O’Connor: Die Kurzgeschichte. In: Irische Meister der Erzählung. Ausgewählt und übersetzt von Elisabeth Schnack. Walter Dorn Verlag. Bremen-Horn 1955, S. 177–184, hier S. 180f.
  18. In der Übersetzung von Elizabeth Schnack wird diese Eingangspassage sehr frei übertragen; der für die Aussage der Geschichte bedeutsame symbolische Vergleich mit der Sonne entfällt dabei. Vgl. dt. Textausgabe, S. 7
  19. Vgl. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 282f.
  20. Siehe dazu im Detail Raimund Borgmeier: Frank O’Connor • My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 283.
  21. Vgl. dazu auch Raimund Borgmeier: Frank O’Connor • My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 283.
  22. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor • My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 283f.
  23. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor • My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 28277.
  24. Vgl. Frank O’Connor: The lonely Voice. A Study of the Short Story. Macmillan Verlag London 1963, S. 218. Siehe dazu auch Raimund Borgmeier: Frank O’Connor • My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 277f.
  25. Heinz Kosok: Geschichte der anglo-irischen Literatur. Schmidt Verlag, Berlin 190, ISBN 3-503-03004-2, S. 193f.
  26. Vgl. Frank O’Connor: The lonely Voice. A Study of the Short Story. Macmillan Verlag London 1963, S. 19.
  27. Heinz Kosok: Geschichte der anglo-irischen Literatur. Schmidt Verlag, Berlin 190, ISBN 3-503-03004-2, S. 194.
  28. Vgl. genauer Heinz Kosok: Die irische Kurzgeschichte. In: Arno Löffler und Eberhard Späth (Hrsg.): Geschichte der englischen Kurzgeschichte. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2005, ISBN 3-8252-2662-X, S. 268f sowie S. 55ff. zu den Bedingungen des literarischen Marktes in Irland, der durch die indirekte, aber wirksame Zensur der katholischen Kirche entscheidend bestimmt wurde.
  29. Vgl.zu O’Connors Andeutungstechnik auch Heinz Kosok: Die irische Kurzgeschichte. In: Arno Löffler und Eberhard Späth (Hrsg.): Geschichte der englischen Kurzgeschichte. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2005, ISBN 3-8252-2662-X, S. 259f.
  30. Vgl. die Angaben bei George Brandon Saul: A Consideration of Frank O’Connors Short Stories. In: Colby Library Quarterly, Volume 6, Article 3, Dezember 1963, S. 329. (vgl. Weblink unten)
  31. Elisabeth Schnack (Hrsg.): Irische Meister der Erzählung. Walter Dorn Verlag, Bremen-Horn 1955, S. 206f.
  32. Vgl. Frank O’Connor: An Only Child. Knopf Verlag New York 1961, S. 20, 38, 153 und S. 148.
  33. Vgl. Frank O’Connor: An Only Child. Knopf Verlag New York 1961, S. 120f., 15, 4, 156, 23 und S. 25. Siehe zu diesen und weiteren eindeutigen Übereinstimmungen auch die Ausführungen von Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 274ff
  34. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 276
  35. Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 276f.
  36. Vgl. dazu auch Raimund Borgmeier: Frank O’Connor · My Oedipus Complex. In: Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hrsg.): Die englische Kurzgeschichte. August Bagel, Düsseldorf 1972, ISBN 3-513-02222-0, S. 277f.
  37. Preface (Vorwort) zu: The stories of Frank O’Connor. Knopf Verlag, New York 1952. Hier zitiert nach: George Brandon Saul: A Consideration of Frank O’Connors Short Stories. In: Colby Library Quarterly, Volume 6, Article 3, Dezember 1963, S. 341. (vgl. Weblink)