Die hexatische Phase ist eine zwischen Flüssigkeit und Kristall liegende thermodynamische Phase (Aggregatzustand) in zweidimensionalen Systemen. Sie stellt eine anisotrope Flüssigkeit mit typischerweise sechszähligem Direktorfeld dar (hexa = griechisch sechs):

  • Flüssig ist die hexatische Phase, da aufgrund der Dissoziation von Dislokationen der Schermodul verschwindet.
  • Anisotrop ist diese Phase, da in sechs Richtungen noch recht gerade Linien entlang der nächsten Nachbarn gezogen werden können. Die Existenz dieses Richtungsfeldes bedeutet, dass es ein elastisches Modul gegen Verdrillung bzw. Torsion in der Ebene geben muss, das analog zu Flüssigkristallen Frankkonstante genannt wird.

Erst die Dissoziation von Disklinationen an einem zweiten Phasenübergang bei höherer Temperatur oder kleinerer Dichte erzeugt eine isotrope Flüssigkeit, in der auch die Orientierungselastizität verschwindet. Die hexatische Phase enthält folglich Dislokationen, aber noch keine Disklinationen.

Ordnungsparameter Bearbeiten

Die hexatische Phase lässt sich durch zwei Ordnungsparameter beschreiben, von denen die Translationsordnung kurzreichweitig ist (exponentieller Abfall) und die Orientierungsordnung quasi-langreichweitig (algebraischer Abfall).

Phase Translationsordnung Orientierungsordnung Defekte
kristallin quasi-langreichweitig:   langreichweitig:   defektfrei
hexatisch (anisotrop flüssig) kurzreichweitig:   quasi-langreichweitig:   Dislokationen
isotrop flüssig kurzreichweitig:   kurzreichweitig:   Dislokationen und Disklinationen

mit der Korrelationslänge  .

Translationsordnung Bearbeiten

 
Dislokationspaare zerstören die diskrete Translationsordnung (Verschiebung entlang der roten Pfeile), es lässt sich aber noch eine Orientierungsordnung erkennen, die in einer Richtung durch die schwarzen Linien angedeutet ist (oben). Erst Disklinationen zerstören zusätzlich die Orientierungsordnung (unten).

Kennt man die Positionen der Atome oder Partikel, so lässt sich die Translationsordnung messen mit der Translationskorrelationsfunktion   als Funktion des Abstandes zwischen dem Gitterplatz am Orte   und dem Ort  , basierend auf der zweidimensionalen Dichtefunktion   im reziproken Raum:

 

Der Ortsvektor   zeigt hier auf einen Gitterplatz im Kristall, um den das Atom mit der Auslenkung   thermisch fluktuieren kann,   ist ein reziproker Gittervektor in der Fourierdarstellung. Die spitzen Klammern deuten die statistische Mittelung über alle Teilchenpaare im Abstand R an (vgl. Korrelationsfunktion).

In der hexatischen Phase fällt die Translationskorrelationfunktion schnell, d. h. exponentiell ab.

Im (zweidimensionalen) Kristall dagegen ist die Translationsordnung quasi-langreichweitig, die Korrelationsfunktion zerfällt langsamer, d. h. algebraisch; sie ist allerdings nicht wie in drei Dimensionen perfekt langreichweitig, da die Auslenkungen   aufgrund des Mermin-Wagner-Theorems bei Temperaturen oberhalb des absoluten Nullpunktes logarithmisch über alle Grenzen anwachsen (divergieren).

Nachteil der Translationskorrelationsfunktion ist, dass sie streng genommen nur im Kristall definiert ist: spätestens in der isotropen Flüssigkeit, wenn Disklinationen vorhanden sind, lässt sich der reziproke Gittervektor nicht mehr bestimmen.

Orientierungsordnung Bearbeiten

 
Die j nächsten Nachbarteilchen bestimmen das sechszählige Richtungsfeld des i-ten Teilchens
 
Die Orientierungskorrelation des lokalen Richtungsfeldes als Funktion des Abstandes für den Kristall (blau), die hexatische Phase (grün) und die isotrop flüssige Phase (rot).

Die Orientierungsordnung bzw. das Direktorfeld   lässt sich aus dem lokalen Richtungsfeld für ein Teilchen am Ort   bestimmen, indem man die Winkel   der Verbindungsachsen zu den   nächsten Nachbarn im sechszähligen Raum aufsummiert und mit der Anzahl   der (im Mittel sechs) Nachbarn normiert:

 

  ist eine komplexe Zahl vom Betrag  , die Phase   gibt die Richtung des sechszähligen Direktorfeldes an; für einen hexagonalen Kristall sind dies die Richtungen der Kristallachsen. Für ein Teilchen mit fünf oder sieben nächsten Nachbarn, wie bei Dislokationen und Disklinationen, verschwindet das lokale Direktorfeld:  , bis auf einen sehr kleinen Beitrag aufgrund von thermischen Fluktuationen.

Aus dem Direktorfeld   lässt sich für zwei Teilchen i und k im Abstand   die Orientierungskorrelationsfunktion bestimmen:

 

Die spitzen Klammern deuten wieder die statistische Mittelung über alle Teilchenpaare an.

Mit der Orientierungskorrelationsfunktion lassen sich alle drei o. g. Phasen identifizieren:

  • Im Kristall zerfällt die Korrelationsfunktion nicht, sondern nähert sich einem konstanten Wert (blau in der doppeltlogarithmischen Abb.): Die Torsionssteifigkeit ist beliebig groß, d. h. die Frankkonstante ist unendlich.
  • In der hexatischen Phase zerfällt die Orientierungskorrelationsfunktion nach einem Potenzgesetz (algebraisch), in der doppeltlogarithmischen Darstellung gibt dies gerade Linien (grün in der Abbildung dargestellt).
  • In der isotropen Flüssigkeit zerfällt die Korrelation exponentiell, dies gibt gekrümmte Kurven im log-log Diagramm (rot in der Abb. bzw. Geraden im lin-log Diagramm).

Alle Kurven sind überlagert von der diskreten Struktur der Atome bzw. der Partikel, zu sehen an den Minima bei halbzahligen mittleren Teilchenabständen  . Teilchen, die in den Positionen schlecht korreliert sind, sind auch im lokalen Richtungsfeld schlecht korreliert.

Hintergrund Bearbeiten

Die Theorie des zweistufigen Schmelzens wurde von John Michael Kosterlitz und David J. Thouless bzw. Bertrand Halperin, David R. Nelson und A. Peter Young in ihren Arbeiten zum Schmelzen in zwei Dimensionen entwickelt. Nach den Anfangsbuchstaben der Nachnamen der Autoren hat sich der Name KTHNY-Theorie eingebürgert.

M. Kosterlitz und D. Thouless wurden für die Idee des Schmelzens durch topologischen Defekte mit dem Nobelpreis für Physik 2016 ausgezeichnet (siehe auch Kosterlitz-Thouless-Übergang). Die hexatische Phase wurde von D. Nelson und B. Halperin vorhergesagt, sie hat in dreidimensionalen Systemen kein strenges Analogon.

Zweizählige Direktorfelder kennt man von Flüssigkristallen; dort kommt die Anisotropie aus der länglichen (prolat) oder abgeplatteten (oblat) Form der einzelnen Moleküle.

Siehe auch Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • J M Kosterlitz, D J Thouless: Long range order and metastability in two dimensional solids and superfluids. (Application of dislocation theory). In: Journal of Physics C: Solid State Physics. 5. Jahrgang, Nr. 11. IOP Publishing, 12. Juni 1972, ISSN 0022-3719, S. L124–L126, doi:10.1088/0022-3719/5/11/002.
  • J M Kosterlitz, D J Thouless: Ordering, metastability and phase transitions in two-dimensional systems. In: Journal of Physics C: Solid State Physics. 6. Jahrgang, Nr. 7. IOP Publishing, 12. April 1973, ISSN 0022-3719, S. 1181–1203, doi:10.1088/0022-3719/6/7/010.
  • J M Kosterlitz: The critical properties of the two-dimensional xy model. In: Journal of Physics C: Solid State Physics. 7. Jahrgang, Nr. 6. IOP Publishing, 21. März 1974, ISSN 0022-3719, S. 1046–1060, doi:10.1088/0022-3719/7/6/005.
  • David R. Nelson, J. M. Kosterlitz: Universal Jump in the Superfluid Density of Two-Dimensional Superfluids. In: Physical Review Letters. 39. Jahrgang, Nr. 19. American Physical Society (APS), 7. November 1977, ISSN 0031-9007, S. 1201–1205, doi:10.1103/physrevlett.39.1201.
  • B. I. Halperin, David R. Nelson: Theory of Two-Dimensional Melting. In: Physical Review Letters. 41. Jahrgang, Nr. 2. American Physical Society (APS), 10. Juli 1978, ISSN 0031-9007, S. 121–124, doi:10.1103/physrevlett.41.121.
  • David R. Nelson, B. I. Halperin: Dislocation-mediated melting in two dimensions. In: Physical Review B. 19. Jahrgang, Nr. 5. American Physical Society (APS), 1. Februar 1979, ISSN 0163-1829, S. 2457–2484, doi:10.1103/physrevb.19.2457.
  • A. P. Young: Melting and the vector Coulomb gas in two dimensions. In: Physical Review B. 19. Jahrgang, Nr. 4. American Physical Society (APS), 15. Februar 1979, ISSN 0163-1829, S. 1855–1866, doi:10.1103/physrevb.19.1855.
  • A. Jaster: The hexatic phase of the two-dimensional hard disk system. In: Physics Letters A. 330. Jahrgang, Nr. 1–2. Elsevier BV, 2004, ISSN 0375-9601, S. 120–125, doi:10.1016/j.physleta.2004.07.055, arxiv:cond-mat/0305239.
  • P. Keim, G. Maret, H.H.v. Grünberg: Frank's constant in the hexatic phase. In: Phys. Rev. E'. 75. Jahrgang, 2007, S. 031402, doi:10.1103/PhysRevE.75.031402, arxiv:cond-mat/0610332.
  • U. Gasser, C. Eisenmann, G. Maret, P. Keim: Melting of crystals in two dimensions. In: ChemPhysChem. 11. Jahrgang, Nr. 5, 2010, S. 963–970, doi:10.1002/cphc.20090075.
  • M. Kosterlitz: Commentary on Ordering, metastability and phase transitions in two-dimensional systems. In: Journal of Physics C. 28. Jahrgang, Nr. 48, 2016, S. 481001, doi:10.1088/0953-8984/28/48/481001.