Das Erdbeben von Istanbul im Jahr 1766 war ein starkes Erdbeben im östlichen Marmarameer nahe den Prinzeninseln[1] in den frühen Morgenstunden des 22. Mai 1766.[2] Das Erdbeben hatte eine Magnitude von 7,1 MS,[1] und führte zu starken Schäden in der Küstenregion zwischen İzmit und Tekirdağ.[3] In dieser Gegend folgte auf das Erdbeben ein Tsunami mit weiteren Zerstörungen. Das Erdbeben war das letzte schwere Beben in Istanbul und wurde von einem Bruch in der Nordanatolischen Verwerfung verursacht.[4][5]

Erdbeben von Istanbul 1766
Erdbeben von Istanbul 1766 (Istanbul)
Erdbeben von Istanbul 1766 (Istanbul)
Datum 22. Mai 1766
Uhrzeit 5:10 Uhr
Magnitude 7,1 MS
Epizentrum 40° 54′ 0″ N, 29° 0′ 0″ OKoordinaten: 40° 54′ 0″ N, 29° 0′ 0″ O
Land Osmanisches Reich
Tsunami Bosporus-Ufer, Galata, Mudanya, Prinzeninseln
Tote 4.000


Radierung von William Henry Bartlett mit Schäden an der Stadtmauer (ca. 1838)

Geologie Bearbeiten

Das Marmarameer ist ein Pull-Apart-Becken, das durch Entlastungszonen der Nordanatolischen Verwerfung entstand.[6] Im östlichen Marmarameer teilt sich diese dextrale Blattverschiebung in drei Äste; während sich der sinistrale südliche Zweig über das Festland nach Südwesten in Richtung Ayvacik bewegt, ziehen sich die beiden anderen Hauptäste unter dem Marmarameer hindurch, formen so das Pull-Apart-Becken des Meeres und treffen sich im Nordosten wieder.[6] Die Zone der Extension erscheint dort, wo die Grenzen der Transformstörung zwischen Anatolischer Platte und Eurasischer Platte nach Norden von der İzmit-Verwerfung zur Ganos-Verwerfung wird. Im Marmarameer gibt es ein kleineres Pull-Apart-Becken (Nord-Marmarameer-Werwerfung), welches die drei submarinen Tekirdağ-, Zentral- und Çınarcık-Becken verbindet mit der Izmit- und der Ganos-Verwerfung.[6] Bei Istanbul wird die nördlicher Seite des Beckens der Nord-Marmarameer-Werwerfung zum nördlichen Zweig der Nordanatolischen Verwerfung und ist ein einzelnes Segment mit einer scharfen Biegung.[6] Nach Westen verläuft die Verwerfung in West-Ost-Richtung und ist eine Blattverschiebung. Nach Osten verläuft die Verwerfung in Nordwest-Südost-Richtung und ist eine Transtension.[6]

Im Jahr 1766 riss die Verwerfung entweder unter den Prinzeninseln[5] oder wahrscheinlicher unter dem Çınarcık-Becken, da ein zentraler Bruch wohl nicht einen so großen Tsunami verursacht hätte, der Istanbul und die Bucht von Izmit traf.[7] Das Ereignis im Jahr 1766 war das letzte, das durch einen Bruch der Nordatlantischen Verwerfung in der Marmararegion verursacht wurde.[4] Aufeinanderfolgende Großereignisse, die in Istanbul erhebliche Schäden verursachten, wie das Erdbeben von Istanbul am 10. Juli 1894 (mit Epizentrum im Golf von Izmit) und das Mürefte-Erdbeben vom 9. August 1912 (mit Epizentrum nordwestlich der Marmara-Insel) müssen als isolierte Ereignisse betrachtet werden, die durch den ungleichmäßigen Spannungsabbau während der Erdbebensequenz des 18. Jahrhunderts verursacht wurden, zu der das Beben von 1766 gehört.[4]

Verlauf Bearbeiten

Das Beben begann etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang um 5:10 Uhr am 22. Mai 1766, dem dritten Tag des Islamischen Opferfestes.[8] Die ersten Erschütterungen wurden begleitet von einem lauten Grollen und dauerten zwei Minuten.[8] Es folgten weniger intensive Erschütterungen von vier Minuten Dauer und Nachbeben von rund acht Minuten.[8] In den folgenden Wochen gab es mehrere Nachbeben. Die Dauer der gesamten Sequenz betrug ein Jahr.[9] Mathematische Modelle dieses Ereignisses stimmen mit einem Verwerfungsbruch überein, dessen Länge zwischen 70 und 120 km liegt.[4]

Das Beben spürte man laut Berichten bis Aydin, Thessaloniki, am Berg Athos, in Aytos in Ostbulgarien und an der Küste des Schwarzen Meeres.[9] Dieses Erdbeben wurde mit dem katastrophalen Erdbeben in Lissabon verglichen, das elf Jahre zuvor stattfand.[10]

Schäden Bearbeiten

Die Zone mit schweren Schäden (auf der Mercalliskala mehr als VII) reichte von Bursa bis Küçükçekmece,[11] aber Schäden entstanden von Tekirdağ und Gelibolu im Westen über Izmit im Osten bis Edirne im Norden.[12][9] Auch die Ortschaften um Mudanya erlitten Schäden,[7] die Häfen der Region wurden durch den Tsunami unbenutzbar, während Galata und Büyükçekmece schwer beschädigt wurden. In Istanbul wurde die Intensität des Erdbebens zwischen Grad VII[13] und VIII bis IX geschätzt.[11] Viele Wohnhäuser und öffentliche Gebäude stürzten ein.[9] Darüber hinaus wurde ein Teil des unterirdischen Wasserverteilungssystems zerstört;[9] der Ayvat-Damm in Kağıthane wurde beschädigt und in Istanbul stürzte das Gewölbe einer unterirdischen Zisterne ein.[9]

In Istanbul wurden die meisten Moscheen und Kirchen beschädigt, ebenso wie der Topkapı-Palast. Der osmanische Sultan musste bis zur Wiederherstellung seiner Räume in Provisorien leben.[14] Die Bevölkerung konnte nicht in ihre Häuser zurück und übernachtete in Zelten in Parks und auf offenen Flächen.[15] Unter den Sultansmoscheen wurde die Kuppel der Beyazit-Moschee beschädigt,[16] während das Minarett und die Hauptkuppel der Mihrimah-Sultan-Moschee einstürzte.[17] Die Süleymaniye-Moschee wurde ebenso beschädigt.[18] Bei der Fatih-Moschee stürzten Minarette ein, außerdem die Haupt- und einige Nebenkuppeln[19] und 100 Studenten der Koranschule starben.[14] Auch die Kariye-Moschee wurde stark beschädigt.[20] Nur die Hagia Sophia blieb nahezu unbeschädigt.[21][22] Die Festung Yedikule,[23] die Stadttore Eğrikapı und Edirnekapı und die Stadtmauern wurden ebenfalls beschädigt, außerdem der Kapalı Çarşı.[24][25] In Çatalca und den umgebenden Orten stürzten alle Gebäude ein.[9] Den höchsten Tsunami gab es am Ufer des Bosporus.[4]

Im August desselben Jahres traf ein Erdbeben mit der Magnitude 7,4 MS die Dardanellen-Region. Die Schäden in Istanbul waren nur gering.[12]

Opferzahlen Bearbeiten

Die Zahl der Toten wird auf ca. 4.000 geschätzt,[9][4] von denen 880 in Istanbul starben.[4]

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Nicholas Ambraseys: The Earthquake of 1509 in the Sea of Marmara, Turkey, Revisited. In: Bulletin of the Seismological Society of America. Band 91, Nr. 6 (Dezember 2001), S. 1397–1416 doi:10.1785/0120000305
  2. Nicholas Ambraseys, J. A. Jackson: Seismicity of the Sea of Marmara (Turkey) since 1500. In: Geophysical Journal International. Jahrgang 141, Nr. 3 (Juni 2000), S. F1 doi:10.1046/j.1365-246x.2000.00137.x
  3. Erhan Afyioncu: Istanbul'un son buyuk depremi. In: Sabah. 20. August 2017, abgerufen am 16. Mai 2020.
  4. a b c d e f g Nicolas Pondard, Rolando Armijo, Geoffrey C. P. King, Bertrand Meyer, Frederic Flerit: Fault interactions in the Sea of Marmara pull-apart (North Anatolian Fault): earthquake clustering and propagating earthquake sequences. In: Geophys. J. Int. Jahrgang 171, Nr. 3, S. 1185–1197, doi:10.1111/j.1365-246X.2007.03580.x (Online als PDF)
  5. a b Marco Bohnhoff, Patricia Martínez-Garzón, Fatih Bulut, Eva Stierle, Yehuda Ben-Zion: Maximum earthquake magnitudes along different sections of the North Anatolian fault zone. In: Tectonophysics. Band 674, S. 147–165, doi:10.1016/j.tecto.2016.02.028
  6. a b c d e Roland Armijo, Bertrand Meyer, Sébastien Navarro, Geoffrey King, Aykut Narka: Asymmetric slip partitioning in the Sea of Marmara pull-apart: a clue to propagation processes of the North Anatolian Fault?. In: Terra Nova. Band 14, Nr. 2, 2002, S. 80–86 (Online als PDF)
  7. a b Helene Hebert, Francois Schindele, Yildiz Altinok, Bedri Alpar, Cem Gazioglu: Tsunami hazard in the Marmara Sea (Turkey): a numerical approach to discuss active faulting and impact on the Istanbul coastal areas. In: Marine Geology. Band 215, Nr. 1–2 (2005), S. 23–43, doi:10.1016/j.margeo.2004.11.006
  8. a b c Erhan Afyouncu: Istanbul's nightmare: A timeline of earthquakes that shook the city. In: Daily Sabah. 26. September 2018, abgerufen am 16. Mai 2020.
  9. a b c d e f g h Nicholas Ambraseys, C. F. Finkel: Long-term seismicity of Istanbul and of the Marmara sea region. In: Terra Nova. Jahrgang 3, Nr. 5, S. 527–539, doi:10.1111/j.1365-3121.1991.tb00188.x
  10. Şevket Erşan: A Comparative Evaluation of the Results of Two Earthquakes: Istanbul and Lisbon Earthquake in 18th Century. Proceedings of the 2nd International Conference on Historic Earthquake-Resistant Timber Frames in the Mediterranean Region – H.Ea.R.T.2015, 2. bis 4. Dezember 2015, LNEC, Portugal
  11. a b Tom Parsons: Recalculated probability of M>=7 earthquakes beneath the Sea of Marmara, Turkey. In: Journal of Geophysical Research. Jahrgang 109, Nr. B5, S. B05304, doi:10.1029/2003JB002667, Online)
  12. a b Mustapha Meghraoui, Ersen Aksoy, Serdar Akyüz, Matthieu Ferry, Aynur Dikbaş, Erhan Altunel: Paleoseismology of the North Anatolian Fault at Güzelköy (Ganos segment, Turkey): Size and recurrence time of earthquake ruptures west of the Sea of Marmara. In: Geochemistry, Geophysics, Geosystems. Jahrgang 13, Nr. 4, o. S., doi:10.1029/2011GC003960 (Online als PDF)
  13. Dietrich Lange, Heidrun Kopp, Jean-Yves Royer, Pierre Henry, Ziyadin Çakir, Florian Petersen, Pierre Sakic, Valerie Ballu, Jörg Bialas, Mehmet Sinan Özeren, Semih Ergintav, Louis Géli: Interseismic strain build-up on the submarine North Anatolian Fault offshore Istanbul. In: Nature Communications. Jahrgang 10, Nr. 1, S. 3006 doi:10.1038/s41467-019-11016-z
  14. a b Robert Yeats: Earthquake time bombs. Cambridge University Press, 2015, ISBN 978-1316048184 doi:10.1017/CBO9781316048184
  15. Korai Kamaci: Osmanlı Devlet'inde Depremler ve 1509 Büyük Depremi. In: Istiklal. 19. Oktober 2015, abgerufen am 16. Mai 2020.
  16. Wolfgang Müller-Wiener: Bildlexikon zur Topographie Istanbuls: Byzantion, Konstantinupolis, Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Wasmuth, Tübingen 1977, ISBN 978-3803010223, S. 388
  17. Müller-Wiener (1977), S. 441
  18. Müller-Wiener (1977), S. 467
  19. Müller-Wiener (1977), S. 407
  20. Müller-Wiener (1977), S. 162
  21. Müller-Wiener (1977), S. 93
  22. Damage to domes, minarets and historical structures. In: 1996~2010年間に国内外で生じた主要地震による被害報告書. 土木学会 地震工学委員会. JSCE – Japan Society of Civil Engeneers, abgerufen am 16. Mai 2020.
  23. Müller-Wiener (1977), S. 341
  24. Müller-Wiener (1977), S. 346
  25. Çelik Gülersoy: Story of the Grand Bazaar. İstanbul Kitaplıg, Istanbul 1990, ISBN 978-9757687023, S. 12