Diskussion:Niedrigzinspolitik

Letzter Kommentar: vor 22 Tagen von Koma Kulshan in Abschnitt Die Vorstellung eines "normalen Zinses"

Die Vorstellung eines "normalen Zinses" Bearbeiten

Der Satz: "Die Senkung des Geldzinses durch geldpolitische Maßnahmen führt laut der monetären Überinvestitionstheorie zu künstlichen Boomphasen, die wiederum scharfe wirtschaftliche Abschwünge zur Folge haben." War so, wie er da stand, schlichtweg falsch, denn dies ist nur dann der Fall, wenn eine Senkung des Geldzinses unter den aktuellen Gleichgewichtszins (bzw. unter den aktuellen natürlichen Zins) erfolgt. Den Satz habe ich daher entsprechend ergänzt. Dieser Satz ist meines Erachtens Ausdruck einer Fehlannahme, die sich durch den gesamten Artikel zieht, nämlich, dass es so etwas wie einen normalen Zins gibt, der a priori gegeben ist. Marktradikale, die sonst immer argumentieren, dass Sparer sich dann ja umorientieren können und zu Investoren werden können (und genau dies ist in Situationen, in denen zu wenig investiert wird, der richtige Anreiz), beklagen sich bei diesem Thema dann plötzlich, dass Sparer benachteiligt werden.

Darüber hinaus hat die Vermögenspreisentwicklung in einer Diskussion über die Geldpolitik meines Erachtens nichts zu suchen. Warum? Um das zu erläutern, muss ich ein wenig ausholen:

Zinsen sind der Preis auf dem Kapitalmarkt. Der Zins bringt also Kapitalnachfrage (durch Menschen, die einen Kredit aufnehmen möchten) und Kapitalangebot (Menschen, die sparen möchten - zum Beispiel Festgeldanlagen) zusammen. Wenn Dumping-Zinsen herrschen, bedeutet dies, dass die Kapitalnachfrage das Kapitalangebot massiv übersteigen müsste. Wenn die Kapitalnachfrage wirklich viel größer ist, als das Kapitalangebot, äußert sich das in Inflation - und zwar in Inflation auf dem Markt für produzierbare Güter (weiter unten dazu mehr). Die Zinsen waren ab 2008 (bis mindestens 2020) so niedrig. Wir können von einer Zeitverzögerung der Wirkung der Geldpolitik von 4 bis 8 Quartalen ausgehen. Demnach hätten wir spätestens 2010 einen hohen Anstieg der Inflation erleben müssen. Das war aber nicht der Fall. Die Geldpolitik war daher alles andere als verantwortungslos – sie hat dafür gesorgt, dass wir nicht in eine Große Depression 2.0 abgerutscht sind. Gegner dieser Sichtweise würden jetzt argumentieren, dass die Inflation bei den Assetpreisen stattgefunden hat. Aus den folgenden Gründen kann man eine verantwortungslose Geldpolitik aber eben nicht an der Assetpreisinflation ablesen:

Die Notenbank bzw. eine vernünftige Geldpolitik ist darauf bedacht, dass das Produktionspotential der entsprechenden Volkswirtschaft ausgelastet ist (aber eben nicht "überausgelastet"). Wenn also die Handyproduktion nicht weiter gesteigert werden kann (Handys = produzierbare Güter) und die Nachfrage nach Handys trotzdem steigt, dann steigen die Preise für Handys. → die Geldpolitik war dann zu locker, weil zu viel Nachfrage kreiert wurde. Solange aber die Preise von produzierbaren Gütern (auf breiter Front) nicht nennenswert steigen, hat die Notenbank zumindest nicht zu viel Nachfrage geschaffen.

Wenn aber die Nachfrage nach Assets (zum Beispiel Grundstücke am Meer oder die Nachfrage nach Grund und Boden allgemein) steigt, dann können diese Güter nicht so ohne weiteres in höherer Menge produziert werden. Daher ist ein Preisanstieg bei Assets kein Indikator dafür, dass die Notenbank dafür gesorgt hat, dass die Nachfrage das Produktionspotential übersteigt.

Wenn die Realzinsen niedrig sind (insbesondere bei 0% und die Erwartung besteht, dass die Zinsen dauerhaft niedrig bleiben) ist eine Preisexplosion der Assets sogar fundamental begründet.

Ein Beispiel: Der Fundamentalwert eines Grundstücks, welches eine Pacht in Höhe von 1000 EUR im Jahr abwirft, ist ungefähr so hoch, wie der (theoretische) Wert einer Anleihe, die (real) 1000 EUR Zinsen abwirft. Die Höhe der Pacht wird in der Regel nicht großartig vom Zinsniveau beeinträchtigt. Man stelle sich vor, wie viel Geld man (theoretisch) bräuchte, um (bei einem Zinsniveau von 0% und leichter Inflation) eine (risikolose) Anleihe zu kaufen, die real 1000 EUR Zinsen abwirft. Das ist schlicht und einfach unmöglich! Der theoretische Realwert des Grundstücks ist somit unendlich. Es gibt ja sogar Ökonomen, die deshalb der Meinung sind, dass der natürliche Zins nicht auf 0% sinken kann (zumindest nicht gleichzeitig mit einer Erwartung, dass die Zinsen dauerhaft so niedrig bleiben werden), bzw. dass dann alle Knappheiten beseitigt sein müssten. Alle Beweise sprechen allerdings dagegen, denn wir haben in den 2010er Jahren erlebt, dass das Kapitalangebot selbst bei einem (Real-)Zinsniveau von 0% und darunter immer noch höher war als die Kapitalnachfrage. Das könnte mit Risikoaversion zusammenhängen, ein Konzept, welches in einer Modellannahme der vollständigen Information natürlich nicht vorkommt. Man kann jetzt noch argumentieren, dass der Gleichgewichtszins und der natürliche Zins unterschiedliche Dinge sind, aber da möchte ich jetzt nicht drauf eingehen.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Wenn eine Gesellschaft reicher wird, ist sie in der Lage, jeden Menschen mit einem Fernseher und einem Kühlschrank zu versorgen. Sie wird nicht in der Lage sein, für jeden ein Grundstück am Meer oder in der Innenstadt einer angesagten Metropole zur Verfügung zu stellen. Steigende Preise hier, sind also ein Ausdruck der Knappheit (die relativ zugenommen hat) und ggf. einer zunehmenden Ungleichheit, aber kein Ausdruck einer verfehlten Geldpolitik. Wenn eine Gesellschaft insgesamt reicher wird, werden Grundstücke also relativ zu produzierbaren Gütern knapper werden.

Daher muss man zwischen produzierbaren und nicht produzierbaren (oder nur sehr eingeschränkt produzierbaren) Gütern (wie Grund und Boden) unterscheiden. Nur wenn der Preis für produzierbare Güter insgesamt stark steigt, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass die Notenbank zu viel Nachfrage geschaffen hat.

Keynes hat immer von der "Vorstellung eines normalen Zinses" gesprochen. Wahrscheinlich bezog er diesen Begriff eher darauf, dass Menschen bei sehr niedrigen Zinsen ihr Geld lieber horten, als niedrig verzinste Anleihen zu kaufen, aber der Begriff passt auch hier.

Die meisten Autoren des Artikels können sich nicht vorstellen können, dass es Situationen gibt, in der fast alle in Panik geraten und anfangen zu "sparen". Was, wenn das Gleichgewicht zwischen Kapitalnachfragern (Investoren) und Kapitalanbietern (Sparern) so sehr verschoben ist, dass der Zins immer weiter sinken muss, damit hier ein Gleichgewicht besteht? 75 Jahre Frieden haben zu der Entwicklung von gewaltigen Vermögen geführt (Stichwort Josefs-Pfennig). Ganz viele dieser wohlhabenden Menschen möchten vor allem eins: Dass Ihr Geld sicher angelegt ist. Sie wünschen sich ein Sicherheitspolster und möchten sich auf keinen Fall verschulden oder anderweitig ins Risiko gehen. Daher ist es völlig plausible, warum die Fed geschätzt hatte, dass der Gleichgewichtszins 2008 bei ca. -5% lag. Goldman Sachs hatte den Gleichgewichtszins damals sogar auf -7% taxiert. --Koma Kulshan (Diskussion) 13:34, 29. Apr. 2024 (CEST)Beantworten