Châtelperronien

archäologische Kultur zwischen Mittel- und Jungsteinzeit

Das Châtelperronien (kurz CP-Kultur) ist eine archäologische Kultur am Übergang vom Mittelpaläolithikum zum Jungpaläolithikum, die im Jahr 2014 mittels Radiokohlenstoffdatierung in die Zeitspanne zwischen 45 000 und 40 000 Jahren vor heute (cal BP) datiert wurde.[1] Im westeuropäischen Verbreitungsgebiet ist es die letzte Kultur, die mit den Neandertalern in Verbindung steht.[2] Da sie sich zeitlich mit dem älteren Aurignacien überschneidet und Annäherungen in den materiellen Hinterlassenschaften auftreten, wurde sie insbesondere von Jean-Jacques Hublin als Beleg der kulturellen Beeinflussung des Neandertalers durch die Cro-Magnon-Menschen interpretiert.[3][4] Diese Interpretation war zunächst umstritten,[5][6] sie wurde jedoch 2016 durch erhalten gebliebene Eiweiße aus mehreren Dutzend in der Höhle Grotte du Renne gefundenen Knochen untermauert.[7]

Châtelperronien
Zeitalter: Mittel-/Jungpaläolithikum
Absolut: vor ca. 38.000 bis 33.000 Jahren

Ausdehnung
West- und Südwesteuropa
Leitformen

Châtelperron-Spitzen, Klingen, Knochenwerkzeuge, Schmuck

Karte
Ausgewählte Châtelperronien Fundstellen aus der ROAD database (CC BY-SA 4.0 ROCEEH)

Bezeichnung und Typlokalität Bearbeiten

Die Bezeichnung Châtelperronien wurde 1906 von Henri Breuil eingeführt, nach der Fundstelle Grotte des Fées bei Châtelperron (Département Allier).

Verbreitung Bearbeiten

Das Châtelperronien ist lediglich in Frankreich und Nordspanien verbreitet. In Frankreich findet es sich hauptsächlich im Südwesten (Départements Charente, Dordogne, Lot und Vienne), im westlichen Pyrenäenraum sowie im Loire- und im Seinebecken.

Zeitlicher Rahmen Bearbeiten

Als Substrat der Entstehung des Châtelperroniens wird das Moustérien vom Typ Moustérien de tradition Acheuléen angesehen. In Südfrankreich wird es gemäß der Gliederung von Denis Peyrony als „Périgordien I“ (auch Périgordien ancien oder Périgordien inférieur) bezeichnet.[8] Das Châtelperronien bestand zeitgleich zum Unteren Aurignacien und wurde vom Mittleren Aurignacien abgelöst.

Klima Bearbeiten

 
Das Chätelperronien im zeitlichen Rahmen 25 bis 45 ka

Das Châtelperronien liegt in einem klimatisch zwar insgesamt gesehen etwas milderen, aber durch deutliche Temperaturschwankungen sehr instabilen Zeitabschnitt der Würmeiszeit. Es setzt im Huneborg II mit dem Dansgaard-Oeschger-Ereignis DO8, einer recht bedeutenden Warmphase, ein. Nach einer markanten Abkühlung um 34.000 v. Chr. folgte mit DO7 eine weitere Warmphase, die bereits zum Denekamp-Interstadial gehört. DO6, ebenfalls aus dem Denekamp-Interstadial, kennzeichnet dann das Ende des Châtelperroniens. In Frankreich wird selbst noch das DO5 (Maisières-Interstadial) zum Châtelperronien gerechnet.

Hominine Fossilien Bearbeiten

Hominine Fossilien des Châtelperroniens wurden in gesichertem archäologischen Kontext nur in zwei Fundplätzen gefunden: das Fossil Saint-Césaire 1 in Saint-Césaire[9] und der Grotte du Renne (Rentierhöhle) von Arcy-sur-Cure.[10] Eine Studie, die isolierte Zähne aus Châtelperronien-Schichten als Hauptquelle einbezog, konnte eine relativ sichere Zuordnung dieser Kultur zum Neandertaler bestätigen.[2] Die Neandertaler-Bestattung von Saint-Césaire galt in der deutschsprachigen Literatur lange Zeit als unsicherer Beleg, weil die umgebende Fundschicht nach Meinung von Gerhard Bosinski eher als spätes Moustérien des Typs MtA denn als Châtelperronien gewertet wurde.

Wiederholt wurden in Fundplätzen mit Châtelperronien Interstratifikationen von Neandertalern und Cro-Magnon-Mensch diskutiert, z. B. in El Pendo (Nordspanien), Roc de Combe und Le Piage 15 (Frankreich)[11] sowie auch in der Typlokalität Grotte des Fées bei Châtelperron.[12][13][14] Ein im Jahre 2011 publizierter oberer Schneidezahn aus Châtelperronien-Schichten von Roches d’Abilly weist indes keine Neandertalermerkmale auf.[15] Eine Publikation von 2012 konnte sich erstmals auf eine direkte 14C-Datierung eines Knochens von Saint-Césaire stützen, die ein Alter von 41.500 BP ergab.[16]

Archäologisches Inventar Bearbeiten

Werkzeuge Bearbeiten

 
Umzeichnung von Spitzen der Châtelperronien-Industrie

Charakteristisch für die Werkzeugindustrie des Châtelperroniens ist die Neuentwicklung der Châtelperron-Spitzen (oder -Messer) mit gebogenem, abgestumpften Rücken.

Das Châtelperronien zeichnet sich einerseits durch das Vorkommen typischer jungpaläolithischer Elemente wie Knochen-, Geweih- und Elfenbein-Werkzeuge, Klingen und Schmuck aus. Die Verwendung von Knochenmaterial zur Herstellung von Waffen und Werkzeugen hat einige Vorläufer in den Neandertaler-Kulturen des Mittelpaläolithikums, wie die Knochenspitzen aus Salzgitter-Lebenstedt oder der Großen Grotte bei Blaubeuren. Elfenbein wurde weit häufiger als Werkstoff verwendet als Geweih.[5] Andererseits weisen Inventare des Châtelperronien noch einen deutlichen Anteil mittelpaläolithischer Technologien wie das Vorkommen der Levalloistechnik auf. In anderen Regionen Europas gab es ähnliche Übergangsindustrien, so in Ost- und Mitteleuropa das Bohunicien und Szeletien, in Italien das Uluzzien.

Schmuckgegenstände Bearbeiten

 
32 Millimeter großes, aus Knochen gefertigtes Ohrgehänge von Arcy-sur-Cure

Die Frage, wer die Träger des Châtelperroniens waren und inwieweit solche Interstratifikationen belegbar sind, spielt eine große Rolle in der Diskussion zur Genese der jungpaläolithischen Kleinkunst.[17] Als sicherster Fundplatz für den Beleg von Schmuckobjekten des Neandertalers galt bislang die zwischen 1949 und 1963 von André Leroi-Gourhan ausgegrabene Grotte du Renne (Rentierhöhle), Teil der Höhlen von Arcy-sur-Cure, Département Yonne. Mit dem Beweis, dass es sich bei den isolierten Zähnen um Reste von Neandertalern handelt, schien zugleich gesichert, dass die in den Châtelperronien-Fundschichten gefundenen Schmuckgegenstände (Ohrgehänge, durchbohrte und mit Rillen versehene Zähne als Schmuckanhänger, Fossilien und anderes) mit dem Neandertaler in Verbindung stehen müssten.[3] Die Fachzeitschrift Nature titelte 1996 anlässlich dieses Beitrags: Neanderthal Fashion.[18] Offen schien dabei lediglich die Frage, ob dies durch Akkulturation des anatomisch modernen Menschen (Cro-Magnon-Mensch) in Europa geschehen ist, oder ob Neandertaler diese Entwicklung unabhängig vom eingewanderten modernen Menschen hervorgebracht hätten.[19]

Neue 14C-Daten (31 AMS-Daten mit Ultrafiltration) konnten jedoch zeigen, dass die Châtelperronien-Schichten von Arcy eine Datenstreuung zwischen etwa 21.000–49.000 BP aufweisen, was im Sinne der Autoren für eine erhebliche Durchmischung des Fundhorizontes spricht.[20] Einige modifizierte Knochen wurden direkt datiert und sind mit weniger als 30.000 BP eindeutig jünger als die letzten bekannten Neandertaler Südwesteuropas. Nach Ansicht der Autoren sei trotz der Assoziation mit Neandertalerresten nicht mehr sicher, dass es sich um ungestörte Schichten handelt. Vielmehr sei die Vermischung mit Artefakten und Schmuckgegenständen wahrscheinlich, die der anatomisch moderne Mensch (Cro-Magnon-Mensch) hergestellt hat. Dem widerspricht eine Serie von neuen 14C-Daten, die nach wie vor den Neandertaler mit dem Châtelperronien der Grotte du Renne assoziieren lässt.[16]

Trotz der Unsicherheit bezüglich Arcy-sur-Cure sind zum Beispiel auch aus der spärlich dokumentierten Höhle von Quinçay, Département Vienne ähnliche Schmuckgegenstände aus Châtelperronien-Schichten bekannt. Dabei handelt es sich um perforierte Eckzähne von Wolf, Fuchs und Rothirsch.[21] Auch in der Typlokalität Châtelperron, in Roche au Loup und anderen Fundplätzen sind Schmuckgegenstände gefunden worden.[22][5] Neben aktiv veränderten Schmuckgegenständen spielen auch Fossilien eine Rolle, wie die Dentalien von Saint-Césaire.[5] Eine zugespitzte Infragestellung von Neandertalerschmuck insgesamt[20] scheint daher nicht angezeigt.

Fundplätze Bearbeiten

Frankreich Bearbeiten

Nordspanien Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • Ofer Bar-Yosef, Jean-Guillaume Bordes: Who were the makers of the Châtelperronian culture? In: Journal of Human Evolution. Band 59, Nummer 5, 2010, S. 586–593, doi:10.1016/j.jhevol.2010.06.009.
  • Henri Breuil: Études de morphologie paléolithique. II. L’industrie de la grotte de Châtelperron (Allier) et d’autres gisements similaires. In: Revue de l’École d'Anthropologie de Paris. Band 21, 1911, S. 29–40 und 66–76.
  • Henri Delporte: L’industrie de Châtelperron et son extension géographique. In: Congrès Préhistorique de France. Band 14, 1955, ZDB-ID 800555-2, S. 233–250.
  • Henri Delporte: Les fouilles des grottes paléolithiques de Châtelperron (Allier). In: Gallia. Band 13, Nummer 1, 1955, S. 79–84, doi:10.3406/galia.1955.1425.
  • Henri Delporte: La Grotte des Fées de Châtelperron (Allier). In: Congrès Préhistorique de France. Band 15, 1957, S. 452–477.
  • André Leroi-Gourhan: Les fouilles d’Arcy-sur-Cure (Yonne). In: Gallia Préhistoire. Band 4, 1961, S. 3–16, doi:10.3406/galip.1961.1182.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Tom Higham, Katerina Douka et al.: The timing and spatiotemporal patterning of Neanderthal disappearance. In: Nature. Band 52, Nummer 7514, 2014, S. 306–309, doi:10.1038/nature13621.
    Neandertaler starben vor spätestens 39.000 Jahren aus. Auf: idw-online vom 20. August 2014.
  2. a b Shara E. Bailey, Timothy D. Weaver, Jean-Jacques Hublin: Who made the Aurignacian and other early Upper Paleolithic industries? In: Journal of Human Evolution. Band 57, Nummer 1, 2009, S. 11–26, doi:10.1016/j.jhevol.2009.02.003.
  3. a b Jean-Jacques Hublin, Fred Spoor, Marc Braun, Frans Zonneveld, Silvana Condemi: A Late Neanderthal Associated with Upper Palaeolithic Artefacts. In: Nature. Band 381, Nummer 6579, 1996, S. 224–226, doi:10.1038/381224a0.
  4. Jean-Jacques Hublin, Sahra Talamo, Michèle Julien, Francine David, Nelly Connet, Pierre Bodu, Bernard Vandermeersch, Michael P. Richards: Radiocarbon dates from the Grotte du Renne and Saint-Césaire support a Neandertal origin for the Châtelperronian. In: PNAS. Band 109, Nummer 46, 2012, S. 18743–18748, doi:10.1073/pnas.1212924109, Volltext (PDF).
  5. a b c d Francesco d’Errico, Joao Zilhão, Michèle Julien, Dominique Baffier, Jacques Pelegrin: Neanderthal Acculturation in Western Europe? A Critical Review of the Evidence and it’s Interpretation. In: Current Anthropology. Band 39, Supplement 1, 1998, S. S1–S44, doi:10.1086/204689, Volltext (PDF; 1,26 MB).
  6. Michael Balter: Neandertal Champion Defends the Reputation of Our Closest Cousins. In: Science. Band 337, Nummer 6095, 2012, S. 642–643, doi: 10.1126/science.337.6095.642, Volltext (PDF; 711 kB).
  7. Frido Welker, Mateja Hajdinjak, Sahra Talamo, [...] und Jean-Jacques Hublin: Palaeoproteomic evidence identifies archaic hominins associated with the Châtelperronian at the Grotte du Renne. In: PNAS. Band 113, Nummer 40, 2016, S. 11162–11167, doi:10.1073/pnas.1605834113.
  8. Denis Peyrony: Les Industries „aurignaciennes“. dans le bassin de la Vézère. In: Bulletin de la Société Préhistorique de France. Band 30, Nummer 10, 1933, S. 543–559, JSTOR:27912303.
  9. François Lévêque, Bernard Vandermeersch: Découverte de restes humains dans un niveau Castelperronien à Saint-Césaire (Charente-Maritime). In: Comptes rendus de l’Académie des sciences. Serie D, Band 291, Nummer 2, 1980, S. 187–189.
  10. André Leroi-Gourhan: Les fouilles d’Arcy-sur-Cure (Yonne). In: Gallia Préhistoire. Band 4, 1961, S. 3–16, doi:10.3406/galip.1961.1182.
  11. Jean-Guillaume Bordes: Les interstratifications Châtelperronien / Aurignacien du Roc-de-Combe et du Piage (Lot, France). Analyse taphonomique des industries lithiques. Implications archéologiques. Bordeaux 2002, (Bordeaux, Université Bordeaux I, Diserttion, 2002).
  12. Wil Roebroeks: Time for the Middle to Upper Paleolithic transition in Europe. In: Journal of Human Evolution. Band 55, Nummer 5, 2008, S. 918–926, doi:10.1016/j.jhevol.2008.08.008.
  13. Brad Gravina, Paul Mellars, Christopher Bronk Ramsey: Radiocarbon dating of interstratified Neanderthal and early modern human occupations at the Chatelperronian type-site. In: Nature. Band 438, Nummer 7064, 2005, S. 51–56, doi:10.1038/nature04006.
  14. Paul Mellars, Brad Gravina, Christopher Bronk Ramsey: Confirmation of Neanderthal/modern human interstratification at the Chatelperronian type-site. In: PNAS. Band 104, Nummer 9, 2007, S. 3657–3662, doi:10.1073/pnas.0608053104.
  15. Thierry Aubry et al.: Stratigraphic and technological evidence from the middle palaeolithic-Châtelperronian-Aurignacian record at the Bordes-Fitte rockshelter (Roches d’Abilly site, Central France). In: Journal of Human Evolution. Band 62, Nummer 1, 2011, S. 116–137, doi:10.1016/j.jhevol.2011.10.009.
  16. a b Jean-Jacques Hublin, Sahra Talamo, Michèle Julien, Francine David, Nelly Connet, Pierre Bodu, Bernard Vandermeersch, Michael P. Richards: Radiocarbon Dates from the Grotte du Renne and Saint-Césaire support a Neandertal Origin for the Châtelperronian. In: PNAS. Band 109, Nummer 46, 2012, S. 18743–18748, JSTOR:41830096.
  17. João Zilhão, Francesco d’Errico, Jean-Guillaume Bordes, Arnaud Lenoble, Jean-Pierre Texier, Jean-Philippe Rigaud: Analysis of Aurignacian interstratification at the Châtelperronian-type site and implications for the behavioral modernity of Neandertals. In: PNAS. Band 103, Nummer 33, 2006, S. 12643–12648, doi:10.1073/pnas.0605128103.
  18. Nature. Band 381, Nummer 6579, 1996, Frontcover.
  19. Christopher Stringer, Clive Gamble: In Search of the Neanderthals. Solving the Puzzle of Human Origins. Thames and Hudson, London 1993, ISBN 0-500-27807-5.
  20. a b Thomas Higham, Roger Jacobi et al.: Chronology of the Grotte du Renne (France) and implications for the context of ornaments and human remains within the Châtelperronian. In: PNAS. Band 107, Nummer 47, 2010, S. 20234–20239, doi:10.1073/pnas.1007963107.
  21. Jeanne-Marie Granger, François Lévêque: Parure castelperronienne et aurignacienne: étude de trois séries inédites de dents percées et comparaisons. In: Comptes rendus de l’Académie des sciences. Serie IIA, Band 325, Nummer 7, 1997, S. 537–543, doi:10.1016/S1251-8050(97)89874-6.
  22. Randall White: Personal Ornaments from the Grotte du Renne at Arcy-sur-Cure. In: Athena Review. Band 2, Nummer 4, 2000, S. 41–46, Volltext.