Die Bezeichnung Buekenhout-Tits Geometrie[1] (auch Buekenhout-Geometrie[2] oder Diagramm-Geometrie[3] genannt) steht in der Geometrie für eine gemeinsame Verallgemeinerung der Begriffe projektive Geometrie, affine Geometrie, Blockplan, linearer Raum und vieler weiterer verwandter Begriffe. Das Konzept wurde in den Jahren nach 1956 maßgeblich von Jacques Tits und später seinem Schüler Francis Buekenhout entwickelt, nach denen es inzwischen auch benannt ist. Die Grundidee dieses Konzeptes ist es, von Details der geometrischen Struktur weitgehend abzusehen und dafür die Eigenschaften klassischer Strukturen und deren Verallgemeinerungen zu untersuchen, die mit dem klassischen geometrischen Begriff „Fahne“ verbunden sind.

Die Diagramm-Geometrie wurde von Tits mit einigem Erfolg auf (nichtkommutative) endliche einfache Gruppen und deren Klassifikation angewandt.[4] Diese Gruppen lassen sich mit rein gruppentheoretischen Methoden bis heute kaum weiter sinnvoll zerlegen: Ihr Normalteilerverband ist trivial und ihr Untergruppenverband schon bei den kleinsten Vertretern zu groß und in seiner Struktur zu wenig charakteristisch, als dass er einen Ansatzpunkt für Untersuchungen, geschweige denn eine Klassifikation bieten könnte. Andererseits ist lange bekannt, dass viele der einfachen Gruppen auf klassischen geometrischen Strukturen oder deren Verallgemeinerungen als volle Automorphismengruppen oder als eine deren Unter- oder Faktorgruppen operieren (siehe als Beispiel Wittscher Blockplan), häufig sind diese „geometrischen“ Strukturen projektive Ebenen oder (allgemeiner) Blockpläne. Der Ansatz von Tits bestand zunächst darin, einer Gruppe, die auf geometrischen Strukturen unterschiedlicher Art als Gruppe von Automorphismen operiert, eine geeignete „zusammengesetzte, geometrische“ Struktur zuzuordnen, die möglichst viele wesentliche Informationen der verschiedenen Ausgangsstrukturen widerspiegelt.[4]

Ein Buekenhout-Diagramm für eine Rang-4-Geometrie. Das Residuum nach einem der Typen 1 bis 3 ist jeweils ein projektiver Raum (Rang 3), das Residuum nach zwei dieser Typen, z. B. nach ist jeweils eine projektive Ebene. Durch die Pfeile wird eine (denkbare) Trialität (vergleichbar der geometrischen Dualität) angedeutet – sie sind selbst nicht Bestandteil des Buekenhout-Diagramms. Modelle solcher selbst-trialen Geometrien lassen sich aus geeigneten quadratischen Mengen konstruieren, etwa aus der Kleinschen Quadrik[5] in einem siebendimensionalen, endlichen projektiven Raum. Dies ist bereits kein Grunddiagramm mehr, da das Axiom (TP) nur für die Residuen nach einem der Typen 1 bis 3 erfüllt wird.

Eine weitere wichtige Anwendung liegt in der Untersuchung von induzierten Geometrien, die sich zum Beispiel aus quadratischen Mengen auf endlichen projektiven Räumen ergeben, vergleiche die Abbildung am Ende der Einleitung.[1] Historisch bemerkenswert ist, dass bereits im Jahr 1896 Eliakim Hastings Moore[6] ein Konzept für eine abstrakte Geometrie, die im Wesentlichen der Diagramm-Geometrie entspricht, vorgeschlagen hat.[7] Zu Moores Zeiten wurde dies aber nicht weiter verfolgt.

Leitideen Bearbeiten

Die Diagramm-Geometrie verallgemeinert Konzepte, die aufgrund von Fragestellungen aus sehr unterschiedlichen Teilgebieten der Mathematik entstanden sind. Daher werden viele geometrische Begriffe mit einem neuen, allgemeineren Inhalt gefüllt, der oft die sonst üblichen Begriffe nicht im formalen Sinn verallgemeinert. Eine Inzidenzstruktur ist zum Beispiel keine Geometrie im Sinne der Diagramm-Geometrie, aber jede Inzidenzstruktur lässt sich auch in natürlicher Weise als Diagramm-Geometrie (und zwar vom Rang 2) auffassen. Als Leitidee kann hier das Konzept der (endlichdimensionalen) projektiven Geometrien gelten, daher wird in diesem Artikel häufig der entsprechende Begriff für projektive Geometrien dem Begriff aus der Diagrammgeometrie gegenübergestellt. Tatsächlich bilden projektive Ebenen zusammen mit zwei Arten von trivialen Rang-2 Geometrien die wichtigsten Grundbausteine der bis heute untersuchten Diagramm-Geometrien.

Grundkonzepte aus der projektiven Geometrie Bearbeiten

 
Ein Buekenhout-Diagramm für einen dreidimensionalen projektiven Raum. Das Residuum nach einem Punkt (point) oder einer Ebene (plane) ist jeweils eine projektive Ebene. Dagegen ist das Residuum einer Gerade (line) ein verallgemeinertes Zweieck

Ein endlichdimensionaler projektiver Raum bestimmt die Menge   seiner echten projektiven Unterräume (einschließlich der Menge seiner Punkte, aber hier ohne die leere Menge und den Gesamtraum). Jedem Element von   kann durch eine „Typisierungsfunktion“   ein „Typ“ aus einem Indexvorrat   (hier etwa seine jeweilige projektive Dimension) zugeordnet werden. Die Menge dieser Typen kann durch eine endliche Menge, zum Beispiel   beschrieben werden. Die Anzahl der tatsächlich auftretenden Typen   ist dann die projektive Dimension (oder der „Rang“) des Gesamtraumes. Auf der Menge   der „Elemente“ (echten Unterräume) ist durch die symmetrisierte Teilraumrelation   eine Inzidenzrelation gegeben.

Eine Fahne in einer solchen projektiven Geometrie ist eine durch die antisymmetrische Inzidenz (hier: die nicht symmetrisierte Unterraumrelation) total geordnete Teilmenge von  . Eine solche Fahne ist auch für einen unendlichen projektiven Raum endlich, sofern nur die Dimension dieses Raumes endlich ist und die Länge der Fahne ist nicht größer als diese projektive Dimension des Raumes.

Definitionen Bearbeiten

Geometrie Bearbeiten

Sei   eine Menge, ihre Elemente und Teilmengen werden als Typen bezeichnet. Eine (Diagramm)-Geometrie   über   besteht aus einem Tripel  , wobei   eine Menge,   eine symmetrische und reflexive Relation auf  , die Inzidenzrelation ist,   eine surjektive Funktion  , die Typisierungsfunktion, wenn das folgende Axiom (TP=transversality property) erfüllt ist:[8]

(TP) Ist   eine maximale Menge von paarweise inzidenten Elementen, dann ist die Einschränkung der Typisierungsfunktion   auf   eine Bijektion  .

Fahne, Zimmer, Residuum, Rang Bearbeiten

Sei   eine Geometrie über  .

  • Eine Fahne von   ist eine (möglicherweise leere) Menge   paarweise inzidenter Elemente von  .
  • Zwei Fahnen   heißen inzident, wenn auch   eine Fahne ist.
  • Maximale Fahnen heißen Zimmer (engl. chambers).
  • Die Menge aller Zimmer von   wird als   notiert.
  • Der Typ einer Fahne   ist die Menge  .
  • Für eine Teilmenge der Typmenge   wird jede Fahne vom Typ   auch als  -Fahne bezeichnet.
  • Der Kotyp einer Fahne   ist die Menge  .
  • Das Residuum einer Fahne   in   ist die Geometrie   über  , die durch
  und die Einschränkung   der Inzidenzrelation   auf   und der Typisierungsfunktion   gegeben ist.
  • Der Rang   von   ist die Mächtigkeit von  , also die Anzahl   der Typen, die in   vertreten sind.
  • Der Rang einer Fahne   ist die Anzahl der Elemente von  , ihr Korang ist der Rang von  .

Grunddiagramm einer Geometrie Bearbeiten

Sei   eine Geometrie über  . Ein Paar verschiedener Elemente („Typen“)   heißen verbunden das heißt, sie bilden eine Kante des Grunddiagramms, wenn mindestens eine Fahne mit dem Kotyp   existiert, deren Residuum kein verallgemeinertes Zweieck ist.

Beispiele Bearbeiten

 
Buekenhout-Diagramm eines dreidimensionalen affinen Raumes: Das Residuum nach einem „Punkt“ (point) ist ein projektiver Raum, daher wird die bei der Residuenbildung verbleibende Kante zwischen „Gerade“ (line) und „Ebene“ (plane) nicht besonders gekennzeichnet, dagegen ist das Residuum nach einer „Ebene“ (plane) eine affine Ebene, die daher gekennzeichnet wird. Die Kennzeichnung kann dabei von Autor zu Autor variieren.
  • Eine Inzidenzstruktur   mit   ist eine Rang-  Geometrie. Sie wird als verallgemeinertes Zweieck bezeichnet. In der Diagrammdarstellung wird ein verallgemeinertes Zweieck in der Regel nicht gezeichnet.
  • Eine projektive Ebene ist eine Rang-  Geometrie. Sie wird im Diagramm durch eine Linie ohne Markierung dargestellt.
  • Ein dreidimensionaler affiner Raum   ist eine Rang-  Geometrie mit der Typmenge  , den möglichen Dimensionen der echten Teilräume. Ist   ein Punkt des Raumes, dann ist   eine Fahne vom Typ  , also vom Rang   und Korang  . Das Residuum von   besteht aus allen Geraden und Ebenen, die   enthalten. Dies ist eine projektive Ebene! Dagegen ist das Residuum einer Ebene in   eine affine Ebene, daher wird die Linie, die Punkte und Geraden im Diagramm verbindet, als „affin“ markiert, vergleiche die Abbildung rechts. Das Residuum einer Gerade besteht aus allen Punkten auf der Geraden und allen Ebenen, die die Gerade enthalten. Diese Rang-  Geometrie ist ein verallgemeinertes Zweieck, daher wird im Diagramm keine direkte Verbindung von den Punkten zu den Ebenen gezeichnet.

Literatur Bearbeiten

  • Albrecht Beutelspacher, Ute Rosenbaum: Projektive Geometrie. Von den Grundlagen bis zu den Anwendungen (= Vieweg Studium: Aufbaukurs Mathematik). 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Vieweg, Wiesbaden 2004, ISBN 3-528-17241-X (Inhaltsverzeichnis [abgerufen am 11. August 2012]).
  • Francis Buekenhout: Diagrams for geometries and groups. In: J. Comb. Th. (A). Band 27, 1979, S. 121–151 (Erste Fassung der Grundbegriffe der Diagramm-Geometrie, einige Begriffe haben seitdem eine modifizierte (verallgemeinerte) Definition).
  • Francis Buekenhout: The basic diagram of a geometry. In: Geometry and Groups. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1981, S. 1–29 (Grundbegriffe und Übersicht über elementare Ergebnisse).
  • Francis Buekenhout: The geometry of diagrams. In: Geo. Ded. Band 8, 1979, S. 253–257.
  • B. A. Cooperstein: A characterization of some Lie incidence structures. In: Geo. Ded. Band 6, 1971, S. 232–246.
  • Eliakim Hastings Moore: Tactical Memoranda. In: Amer. J. Math. Band 18. Berlin/Heidelberg/New York 1896, S. 264–303.
  • A. Pasini: Diagrams and incidence structers. Preprint. In: Rapporto matematico. Band 21. Istituto di Mat., Univ. Siena, Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 264–303.
  • J. Tits: Les groupes de Lie exceptionnels et leur interprétation géométrique. In: Bull. Soc. Math. Belg. Band 8, 1956, S. 48–81.
  • J. Tits: Buildings and Buekenhout Geometries. In: M. Collins (Hrsg.): Finite Simple Groups II. Academic Press, New York 1981, S. 309–320.

Einzelnachweise und Anmerkungen Bearbeiten

  1. a b Beutelspacher und Rosenbaum 2004.
  2. Tits (1981)
  3. Buekenhout (1981)
  4. a b Tits (1956)
  5. Beutelspacher und Rosenbaum (2004) 4.7: Die Kleinsche quadratische Menge
  6. Moore (1896)
  7. Buekenhout (1981), S. 2: „Strangely enough the concept of geometry as presented here appears very clearly in a paper of E. H. Moore as early as 1896!“ – Gemeint ist der Artikel Moore (1896)
  8. Buekenhout (1981), die vorliegende Definition mit nur einem Axiom (TP) stellt eine Abschwächung der ursprünglichen Definition aus Buekenhout (1979) dar. Die Gültigkeit der beiden zusätzlichen Axiome (SC) und (GL) wird nach Buekenhout (1981) durch die Wendungen „stark zusammenhängende (strongly connected) Geometrie“ (SC) bzw. „erfüllt die Linearitätsbedingung (Linearity Condition)“ (LC) angegeben.