Das hier ist eine Arbeitshypothese, die auf mir plausibel erscheinenden Gedankengängen beruht, deren empirische Bestätigung aber noch aussteht. Wer eigene Gedanken dazu hat, kann sie gern unten unterschrieben anhängen. Für Fragen gibt es auch eine Diskussionsseite.
Hypothese

Wikipedia funktioniert am Besten von unten, vom Einzelnen und kleinen Gruppen ausgehend.

Was bedeutet das?

Wie kommst du darauf? Bearbeiten

Einen Artikel zu beginnen oder zu verbessern ist fundamental eine individuelle Tätigkeit. Sie bedeutete, ins Jahr 2001 zurückversetzt, dass jemand Interesse an und Wissen zu einem Thema hatte, das er in einem Artikel der ganzen Welt präsentierte. Während das Projekt wuchs, fanden sich Benutzer mit ähnlichen Interessen, die gegenseitig ihre Artikel verbesserten, sich austauschten und die Artikelqualität und -quantität vorantrieben. Gleichzeitig gab es aber weiter Benutzer, die allein vor sich hinarbeiteten, entweder weil sie durch ihr Themengebiet relativ isoliert waren oder weil sie lieber selbständig arbeiten. Durch die geringe Anzahl an Seiten und Benutzern war alles noch recht hübsch überschaubar, Nachrichten verbreiteten sich schnell und Entscheidungen waren mit WP:SM und WP:IAR als Werkzeugen relativ leicht zu fällen.

Exkurs zu Gruppen und dem Ertragsgesetz Bearbeiten

Mit der weiteren Entwicklung passiert aber etwas, dass in der Welt des Projektmanagements schon seit langem bekannt ist. Im Prinzip geht es um Folgendes: nehmen wir an, es gibt ein Projekt mit einem bestimmten Ziel, zum Beispiel ein Lehrer, der Schularbeiten bewertet. Das Projekt lässt sich in einzelne Arbeitsschritte einteilen, wie zum Beispiel den Text zu lesen, die Qualität anhand gefestigter Kriterien (z.B. Nachvollziehbarkeit, Vollständigkeit, Stil, Orthographie, Grammatik) zu bewerten, diese Qualität in eine oder mehrere quantitative Werte (sprich Noten oder Punkten) zu übersetzen, die Bewertung zu vermerken und den Schüler über die Bewertung zu informieren. Diese Arbeitsschritte sind zum Teil automatisierbar, so kann der Schüler beispielsweise automatisch eine E-Mail erhalten, sobald seine Bewertung in einem Computersystem gespeichert wurde. Der größte Teil muss allerdings von Menschen vorgenommen werden. Der Fortschritt beim Erreichen des Ziels lässt sich recht gut erkennen. Je mehr dieser Arbeitsschritte der Lehrer erledigt, um so näher rückt er ans Ziel. Für Projekte wie diese Bewertung einer Schularbeit gibt es gewisse Gemeinsamkeiten, die bestimmten ähnlichen Gesetzen unterliegen. Verallgemeinernd gesagt geht es um Projekte, die folgende Bedingungen erfüllen:

  1. Es gibt ein konkretes Ziel zu erreichen.
  2. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Arbeitsschritte erledigt werden.
  3. Die Arbeit ist größtenteils nicht automatisierbar, sie muss von Menschen vorgenommen werden.
  4. Der Fortschritt im Erreichen des Ziels ist von der erledigten Arbeit abhängig.

Fortschritt und Arbeit Bearbeiten

Die Beziehung zwischen erfolgter Fortschritt und erledigter Arbeit sieht dann in etwa so aus:

 
Abhängigkeit zwischen erledigter Arbeit und Erreichen des Ziels

Wie man hier sieht, fängt jeder Weg bei 0% an und hört bei 100% auf. Der Unterschied ist die Art und Weise, wie man von 0 zu 100 kommt. Bei der orangenen Version gibt es eine Proportionalität, sprich die Arbeit am Anfang und am Ende trägt denselben Anteil zum Erreichen des Ziels bei. Es gibt eine konstante Entwicklungsgeschwindigkeit. In der grünen Version ist der Fortschritt anfangs viel langsamer, beschleunigt sich aber im späteren Teil. In der blauen Version ist es genau umgekehrt: anfangs trägt die Arbeit viel mehr zum Vorankommen bei, später weniger. Der braune Graph zeigt noch die differenzierteste Version mit abwechselnden Entwicklungsgeschwindigkeiten, aber auch sie führt am Ende zum Ziel.

Wie gesagt, das Aussehen der Kurve wird durch die Geschwindigkeit bestimmt, in der Arbeitsschritte zum Fortschritt beitragen. Die zeitliche Erfüllung des Ziels ist direkt davon abhängig, wie schnell diese Arbeitsschritte durchgeführt werden. Was bestimmt diese Geschwindigkeit? Zum Einen ist es die Qualität der Arbeiter: welche Fähigkeiten hat ein Arbeiter, die zur Durchführung der Arbeitsschritte effektiv verwendet werden können? Zum Anderen ist es aber auch die Quantität der Arbeiter: wieviele Arbeiter können zur gleichen Zeit Arbeitsschritte durchführen? In beiden Fällen scheint es so, als gäbe es eine direkte Proportionalität. Je mehr Fähigkeiten ein Arbeiter hat und je mehr Arbeiter es gibt, um so schneller wird das Ziel erreicht. Wenn das so wäre, könnte jedes Projekt gerettet bzw. beschleunigt werden, indem mehr Leute mit mehr Qualifikationen eingestellt werden. Wir hätten also eine Entwicklung wie diese:

 
Lineare Ertragsfunktion

Ertragsgesetz Bearbeiten

Nur leider ist so eine Entwicklung nicht realistisch. Oder zumindest nicht in allen oder vielen Situationen. Wenn es um isolierte Arbeit geht, die jeder allein verrichten kann, ohne von anderen abhängig zu sein, dann ist die stete Vergrößerung der Arbeiteranzahl in der Tat die richtige Strategie. Wo aber Kommunikation und Abstimmung zwischen Arbeitern notwendig ist, geht dieser Ansatz schief. Das liegt daran, dass jeder zusätzliche Arbeiter positive und negative Effekte verursacht. Positive Effekte sind hauptsächlich das Produktionspotenzial, negative Effekte sind hauptsächlich der erhöhte Kommunikations- und Abstimmungsbedarf. Die positiven Effekte sind relativ konstant, sie sind jedenfalls nur geringfügig von der Anzahl der Arbeiter abhängig. Die negativen Effekte haben allerdings ein ansteigendes Verhalten, je mehr Arbeiter es gibt. Wer zum Beispiel mal in einem Startup-Unternehmen von Anfang an mitgearbeitet hat, wird diese Entwicklung kennen. Anfangs mit zwei, drei Leuten kann mühelos direkt kommuniziert werden. Kommen noch ein paar mehr Leute dazu, werden Gruppenmeetings und Schriftverkehr notwendig. Ab einer bestimmten Größe kommen dann vielleicht Newsletter und ähnliche Rundschreiben dazu. Je mehr die Gruppe wächst, um so schwieriger wird es, alle auf dem Laufenden zu halten. Das Phänomen, das man hier beobachtet, nennen die Wirtschaftswissenschaftler Ertragsgesetz und sieht in einer Tabelle zum Beispiel so aus (der Graph kommt aus dem englischen Artikel dazu):

Arbeiter Positiv Negativ Ergebnis (Ertrag) Gewinn (Grenzertrag) Durchschnitt Phase
1 10 0 10 +10 10 -
2 20 1 19 +9 9,5 III
3 30 3 27 +8 9 III
4 40 6 34 +7 8,5 III
5 50 10 41 +6 8,2 III
6 60 14 46 +5 7,7 III
7 70 20 50 +4 7,1 III
8 80 27 53 +3 6,6 III
9 90 35 55 +2 6,1 III
10 100 44 56 +1 5,6 III
11 110 54 56 0 5,1 III
12 120 65 55 -1 4,6 IV
13 130 77 53 -2 4,1 IV
14 140 90 50 -3 3,6 IV
 
Realistischere Ertragsfunktion

Die Zahlen sind hier frei erfunden, es geht um das hinterstehende Prinzip, das unabhängig von den Zahlenwerten funktioniert. Die Tabelle verdeutlicht, wie jeder neue Arbeiter seine eigene Leistung einbringt, die negativen Effekte, die durch die immer höher werdende Anzahl an Arbeitern verursacht werden, diese zusätzliche Leistung aber regelrecht wieder „auffressen“. Will die Gruppe also ihr Ziel in einem guten Tempo erreichen, reicht es nicht, ständig neue Arbeiter hinzuzufügen, weil das ab einem bestimmten Punkt mehr kostet als bringt.

Umgang mit dem Ertragsgesetz Bearbeiten

Der offensichtlichste und auch populärste weil effektivste Ansatz zur Lösung dieses Problems ist es, einerseits weiterhin neue Arbeiter hinzuzufügen, andererseits aber dafür zu sorgen, dass der Kommunikations- und Abstimmungsaufwand relativ konstant bleibt. Das funktioniert zum Beispiel dadurch, dass sich die Gruppe teilt und die Teilgruppen möglichst getrennte Aufgabenbereiche übernehmen. Voraussetzung dafür ist, dass die zu erledigenden Arbeitsschritte irgendwie kategorisierbar sind, um sie auf mögliche Teilgruppen abzubilden. Das geht zum Beispiel in einem Krankenhaus sehr gut. Hier hat eine Gesamtgruppe ein konkretes Ziel: Patienten zu heilen. Patienten lassen sich aufgrund der Art ihrer Krankheit aufteilen, diese Aufteilung findet ihr Pendant in der fachlichen Ausrichtung der Ärzte, Krankenpfleger und Techniker. Durch eine Teilung der Gruppe anhand ihrer fachlichen Ausrichtung verringert sich der Kommunikations- und Koordinationsaufwand, womit ein größerer Teil des eigentlichen Leistungspotenzial dem zugute kommt, wofür das Krankenhaus eigentlich da ist: der Heilung von Menschen.

 
Abstimmungsaufwand bei verschiedenen Gruppengrößen

Weil in kleinen Gruppen die positiven die negativen Effekten überwiegen, ist also eine Organisation entlang möglichst kleiner, gut funktionierender Gruppen oder Teams sinnvoll und nützlich. Wie groß so ein Team sein muss, hängt zwangsläufig von der Arbeitsart und -umgebung ab, im Allgemeinen wird aber meist von einer „idealen“ Teamgröße zwischen fünf und zehn Personen gesprochen[1].

Ebenso verringert sich der Abstimmungsaufwand, wenn es ein großes Maß an Vertrauen und Homogenität innerhalb der Gruppe gibt. Vertrauen bedeutet hier die Gewissheit eines Arbeiters, dass ein anderer Arbeiter sich seinen Erwartungen entsprechend verhalten wird, ohne das kontrollieren zu müssen. Wenn viel Vertrauen existiert, können Arbeiter autarker und damit produktiver arbeiten, vorausgesetzt das Vertrauen wird nicht durch Nichterfüllung der Erwartungen verletzt. Es verringert sich also die Menge nötiger expliziter Abstimmungen untereinander, weil sie bereits implizit ohne zusätzlichen Kommunikationsaufwand stattfinden. Homogenität wiederum verringert aufgrund der hohen Menge ähnlicher Ansichten den Kommunikationsaufwand, der bei Abstimmungen untereinander benötigt wird, weil es zu weniger Meinungsverschiedenheiten kommt. Vertrauen und Homogenität kommen allerdings auch mit Kosten. So errichtet eine starke Vertrautheit innerhalb der Gruppe eine Barriere, die „Neuankömmlinge“ erst überwinden müssen, um in die Gruppe gleichberechtigt aufgenommen zu werden. Das kann dazu führen, dass das Produktionspotenzial des Neuankömmlings nicht in dem Maße genutzt werden kann, wie es eigentlich möglich wäre. Ein hohes Maß an Homogenität verhindert die Wahrscheinlichkeit, dass innovative Ideen und neue Denkansätze aktiv vorgestellt und vorangetrieben werden. Es ensteht ein gewisses Maß an Konservatismus.

Erkenntnis Bearbeiten

Wir haben also bisher erkannt:

  1. Fortschritt im Erreichen eines Ziels ist eine Funktion der erledigten Arbeit.
  2. Eine höhere Anzahl an Arbeitern kann zu einem schnelleren Erreichen des Ziels führen.
  3. Wenn Arbeitsschritte Koordinierung und Kommunikation zwischen Menschen verlangen, kann die Vergrößerung der Arbeiteranzahl mehr kosten als nutzen.
  4. Wenn Gruppen und damit Koordinationsaufwand klein gehalten werden, bleibt mehr vom Leistungspotenzial für das Erreichen des Ziels übrig.

Ertragsgesetz in der Wikipedia Bearbeiten

Die berechtigte Frage ist nun, was das alles mit der Wikipedia zu tun hat. Dabei muss man beachten, dass viele der gerade genannten Bedingungen auch in der Wikipedia erfüllt sind.

  1. Es gibt ein konkretes Ziel zu erreichen: Es soll eine Enzyklopädie aus freien Inhalten erstellt werden, in der das gesammelte Wissen der Menschheit enthalten ist.
  2. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Arbeitsschritte erledigt werden: Artikel müssen geschrieben und verbessert, Systematiken erstellt, Navigations-/Auffindmöglichkeiten eingebaut und Fehler behoben werden.
  3. Die Arbeit ist größtenteils nicht automatisierbar, sie muss von Menschen vorgenommen werden: Artikel schreiben ist ein inhärent kreativer Vorgang. Auch lassen sich Systematiken nur schwer automatisch aufbauen. Navigation ist von der „Usability“ abhängig, sprich von den intuitiven Erwartungen im Verhalten, die ein Benutzer an ein System stellt. Und Fehler lassen sich im Fließtext auch nur schwer automatisch finden.
  4. Der Fortschritt im Erreichen des Ziels ist von der erledigten Arbeit abhängig: je mehr Inhalte geschaffen und auf einem akzeptablen Qualitätsstandard gehoben sind, um so näher kommt man dem Ziel.

Daraus folgt, dass sich auch die Wikipedia nicht den eben beschriebenen Gesetzmäßigkeiten entziehen kann. Je mehr Benutzer sich in einem Bereich beschäftigen und dort Entscheidungsbedarf entsteht, um so größer wird der Aufwand, der zur Abstimmung und Koordination nötig ist. Das deckt sich auch mit den Erfahrungen, die man in der Wikipedia macht. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut in Portalen mit einer überschaubaren Anzahl recht aktiver Benutzer, die sich gegenseitig vertrauen und ähnliche Ansichten haben (z.B. Portal:Lebewesen). Problemzonen sind die Bereiche, an denen sich:

Anmerkungen Bearbeiten

  1. An Ideal Team - generalizing team perfomance and size for delivering better results. Abgerufen am 10. Februar 2008.