Rechtsfortbildung

Schließen „planwidriger Lücken im Gesetz“ durch Richterrecht
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Unter Rechtsfortbildung wird eine über die Gesetzesauslegung hinausgehende Form der angewandten Rechtswissenschaft bezeichnet, mit der geltendes Recht geschaffen wird. Regelmäßig wird die Rechtsfortbildung von Gerichten vorgenommen,[1] so dass der Rechtsbegriff eng mit dem des Richterrechts verknüpft ist. Die richterliche Rechtsfortbildung steht im Spannungsfeld zwischen juristischem Aktivismus und richterlicher Selbstbeschränkung.

Beispielsfall der Rechtsfortbildung

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Ein populäres Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung ist der sogenannte Hühnerpestfall.[2] Dort wurde ein Impfstoffwerk verklagt, weil es einen verunreinigten Impfstoff hergestellt hatte, der zum Tode der mit diesem Impfstoff geimpften Hühner führte. Ein Schadensersatzanspruch konnte allerdings nur bestehen, wenn dem Impfstoffwerk Verschulden im Hinblick auf die Verunreinigung nachgewiesen werden konnte. Nach den gesetzlichen Vorgaben hätte der Kläger das Verschulden beweisen müssen, was ihm jedoch nicht gelang. Der Bundesgerichtshof nahm hier ohne gesetzliche Grundlage eine Beweislastumkehr vor, d. h. der beklagte Impfstoffhersteller musste beweisen, dass ihm kein Verschulden zur Last fiel.

Zulässigkeit von Rechtsfortbildung

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Im deutschen Recht wird, anders als beispielsweise im Recht der Europäischen Union, zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterschieden.[3] Während die Auslegung von Gesetzen zur allgemeinen Aufgabe von Gerichten gehört, bedarf es für die Zulässigkeit von Rechtsfortbildung einer darüber hinausgehenden Begründung. Die Zulässigkeit von Rechtsfortbildung ist heute allgemein anerkannt. Sie unterliegt allerdings Grenzen, die sich sowohl aus der Methodik des einfachen Rechts als auch aus dem Verfassungsrecht ergeben.

Nach einfachem Recht ist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung, dass das geltende Gesetzesrecht eine Lücke aufweist (Gesetzeslücke).[4][5] Eine solche Lücke muss abgegrenzt werden gegenüber einem rechtspolitischen Fehler: Es geht darum, ob das geltende Recht nach seiner eigenen Logik bestimmte regelungsbedürftige Fälle nicht regelt, nicht darum, ob der Interpret eine andere gesetzliche Regelung für besser hielte.

Unter den verschiedenen Arten von Gesetzeslücken[6][7][8][9] ist die nachträgliche Regelungslücke hervorzuheben: Nach Inkrafttreten des Gesetzes haben sich entweder das rechtliche Umfeld oder die Rechtstatsachen geändert, sodass jetzt entweder eine neue Regelung oder eine Änderung der bestehenden Regelung erfolgen müsste.

Typisches Beispiel für das Auffinden und das Schließen einer Gesetzeslücke ist die Analogie, insbes. die Gesetzesanalogie:[10] Ein Gesetz regelt zwei Fälle, A und B, aber nicht einen dritten Fall C. Der Fall C ist den Fällen A und B ähnlich, es besteht eine Gleichheit der Interessenlage. Die auf diese Weise festgestellte Lücke wird dadurch geschlossen, dass die für A und B geltende Rechtsfolge auch im Falle C angewandt wird.

Verfassungsrechtlich muss eine Rechtsfortbildung dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und vor allem dem Gewaltenteilungsprinzip entsprechen.[11] Da Richter – anders als Abgeordnete – nicht gewählt werden, dürfen sie nach dem Demokratieprinzip durch Rechtsfortbildung kein eigenes rechtspolitisches Konzept entwickeln. Nach dem Rechtsstaatsprinzip ist u. a. eine Rechtsfortbildung unzulässig, die eine Systemänderung mit sich bringt, die wegen ihrer Komplexität nur vom Gesetzgeber geleistet werden kann. Aus dem Gewaltenteilungsprinzip ergibt sich, dass die politische Gestaltung dem Gesetzgeber vorbehalten ist.

Ob und Wie der Rechtsfortbildung

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Von der Frage, ob eine Rechtsfortbildung in einem konkreten Fall überhaupt zulässig ist, ist die Frage zu trennen, auf welche Weise die gefundene Lücke zu schließen ist.[12][13][14] In einem Fall zur befristeten Einstellung von Bewerbern für einen Arbeitsplatz ohne das Erfordernis eines sachlichen Grundes für die Befristung hatte das Bundesarbeitsgericht im Wege der Rechtsfortbildung festgestellt: Bei der gesetzlichen Formulierung, es komme darauf an, ob der Bewerber „bereits zuvor“ bei demselben Arbeitgeber beschäftigt war, seien Vorbeschäftigungen nicht zu berücksichtigen, die mehr als drei Jahre zurückliegen.[15] Das Bundesverfassungsgericht hat die Feststellung des Bundesarbeitsgerichts, dass die gesetzliche Regelung lückenhaft und dass eine Rechtsfortbildung erforderlich sei, gebilligt („Ob“ der Rechtsfortbildung). Im Hinblick auf die Art der Schließung der Lücke hielt es allerdings die Festlegung auf drei Jahre für verfassungswidrig; vielmehr sei die Lage im Einzelfall zu prüfen („Wie“ der Rechtsfortbildung).[16]

Anwendung von Generalklauseln

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Wenn Gerichte Generalklauseln auslegen, kann es sich um bloße Auslegung handeln oder um Rechtsfortbildung. Kennzeichen von Generalklauseln ist, dass sie den Gerichten einen weiten Spielraum eröffnen. Soweit die Entscheidung noch von der Regelung erfasst wird, handelt es sich um Auslegung.[17] Allerdings haben die Gerichte aus solchen Generalklauseln häufig eigene Rechtsinstitute entwickelt, die sich so nicht aus dem Gesetz ableiten ließen.[18] In diesen Fällen liegt eine Rechtsfortbildung vor. In besonderem Maße erfolgte eine solche Rechtsfortbildung unter Berufung auf § 242 BGB und das Prinzip von Treu und Glauben.[19]

Rangkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung

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Die Gerichte sind bei ihren Entscheidungen an die Beachtung von höherrangigem Recht gebunden (Normenhierarchie). Sind zu einer Vorschrift des einfachen Rechts mehrere Auslegungen möglich, dann ist diejenige zu wählen, die am ehesten dem höherrangigen Recht entspricht. Insofern gibt es eine völkerrechtsorientierte,[20][21] eine unionsrechtsorientierte[22][23] und eine verfassungsorientierte[24] Gesetzesauslegung von einfachem Recht. In diesen Fällen steht das Ergebnis mit den Auslegungsregeln des deutschen Rechts in Einklang.

Ist nach diesen Regeln eine rangkonforme Auslegung nicht möglich, kann eine rangkonforme Rechtsfortbildung möglich sein, die den erhöhten Anforderungen an eine Rechtsfortbildung gegenüber der Auslegung unterliegt. Insofern kommen eine völkerrechtskonforme, eine unionsrechtskonforme oder eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung in Betracht.[25]

Der Gleichheitssatz als Leitfaden der Rechtsfortbildung

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Rechtsfortbildung vollzieht sich weitgehend am Leitfaden des Gleichheitssatzes; dieser, so hat man[26] gesagt, sei gleichsam die „Seele der juristischen Hermeneutik“. Grundsätzlich führt Gleichbewertung auf normativer Ebene zu einer Generalisierung, Ungleichbewertung zu einer Differenzierung von Rechtsgrundsätzen.[27] Die konkretisierende Entfaltung gesetzlicher Begriffe wie „Treu und Glauben“ und „gute Sitten“ geschieht in fallvergleichenden Schritten. Fallvergleichendes Denken findet sich auch jenseits der Gesetzesauslegung. Das römische Fallrecht entwickelte sich durch Gleichbewertung „ad similia procedens“ (Digesten 1, 3, 12), indem man die Lösung eines juristischen Problems auf die Lösung eines gleich zu bewertenden Falles übertrug; desgleichen entfaltete sich das angelsächsische Common Law durch „reasoning from case to case“.[28] Das kontinentale Gesetzesrecht kennt eine Rechtsfortbildung durch Analogie, also ebenfalls durch Fallvergleich. Die Legislative steht unter dem Gebot systemgerechter Gesetzgebung, in der „sich der Gleichheitssatz vor allem als Forderung nach Folgerichtigkeit der Regelungen, gemessen an den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen, zu Wort meldet“.[29][30] Selbst die Subsumtion problematischer Fälle unter das Gesetz vollzieht sich in fallvergleichendem Denken.[31] „Wo Gesetzgeber und Richter die für sie offengelassenen Fragen der Gleichbehandlung entscheiden, nehmen sie daran Anteil, … die lebendige Rechtskultur dieser Gemeinschaft weiterzubilden.“[32]

Literatur

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  • Franz Bydlinski: Juristische Methodenlehre, 2. Auflage, Wien, New York 1991, Stuttgart 2010, S. 472.
  • Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage. Hrsg. von Thomas Würtenberger und Dirk Otto.
  • Hans-Rudolf Horn: Richter versus Gesetzgeber. Entwicklungslinien richterlicher Verfassungskontrolle in unterschiedlichen Rechtssystemen. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 55, 2007, S. 275–302.
  • Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage, München/Wien 2016.
  • Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6., neu bearb. Auflage, Berlin/Heidelberg 1991.
  • Thomas M. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2. Auflage, München 2019.
  • Stephan Pötters, Ralph Christensen: Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung und Wortlautgrenze. In: JuristenZeitung. Nr. 8, 2011, S. 387–394.
  • Franz Reimer, Juristische Methodenlehre, Baden-Baden 2016.
  • Bernd Rüthers / Christian Fischer / Axel Birk, Rechtstheorie und Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, München 2018.
  • Alfred Schramm: „Richterrecht“ und Gesetzesrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse anhand von Merkls Rechtsnormenlehre. In: Rechtstheorie 36, 2005, ISSN 0034-1398, S. 185–208.
  • Reiner Schulze, Ulrike Seif (Hrsg.): Richterrecht und Rechtsfortbildung in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148206-9.
  • Rolf Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, Berlin 1978.
  • Rolf Wank, Juristische Methodenlehre, München 2020, § 15.
  • Reinhold Zippelius: Probleme der Rechtsfortbildung. In: Festschrift für Thomas Würtenberger, Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-13918-7, S. 137 ff.

Einzelnachweise

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  1. Karl Larenz: Methodenlehre. S. 367 ff.
  2. BGH, Urteil vom 26. November 1968, Az. VI ZR 212/66, BGHZ 51, 91 ff. = NJW 1969, 269.
  3. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 15 Rn. 1 ff.
  4. Franz Bydlinski: Juristische Methodenlehre. S. 472 ff.
  5. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 15 Rn. 44 ff.
  6. Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken. S. 236.
  7. Karl Larenz: Methodenlehre. S. 370 ff.
  8. Thomas M. Möllers: Juristische Methodenlehre, § 6 Rn. 84 ff.
  9. Bernd Rüthers, Christian Fischer, Axel Birk: Rechtstheorie, Rn. 832 ff.
  10. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 14 Rn. 104.
  11. BVerfG, Urteil vom 6.6.2018, Az. 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, Volltext NJW 2018, 2542
  12. Ernst. A. Kramer: Juristische Methodenlehre. S. 191 ff.
  13. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 15 Rn. 91 ff.
  14. Reinhold Zippelius: Juristische Methodenlehre, § 11 II, § 12.
  15. BAG, Urteil vom 6.4.2011, Az. 7 AZR 716/09, NJW 2011, 2750.
  16. BVerfG, Urteil vom 6.6.2018, Az. 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14, NJW 2018, 2542.
  17. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 13 Rn. 18.
  18. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 14.
  19. Vgl. Münchener Kommentar zum BGB/Roth, 5. Auflage 2007, § 242 BGB, Rn. 27 ff.
  20. BVerfG, Urt. vom 14.10.2004 Az. 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307, 317.
  21. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 9 Rn. 164 ff.
  22. Clemens Höpfner: Die systemkonforme Auslegung. 2008, S. 249 ff.
  23. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 9 Rn. 106.
  24. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 9 Rn. 143 ff.
  25. Rolf Wank: Juristische Methodenlehre, § 9 Rn. 49 ff.
  26. Reinhold Zippelius: Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, § 12 I b.
  27. Reinhold Zippelius: Juristische Methodenlehre, 11. Auflage 2012, §§ 11 II; 12 I c.
  28. Reinhold Zippelius: Rechtsphilosophie, 6. Auflage, § 18 II.
  29. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 1982, Az. 2 BvL 6/78, 2 BvL 8/79, Leitsatz = BVerfGE 60, 16, 40.
  30. Rolf Wank: Festschrift für Willemsen. 2018, S. 595 ff.
  31. Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage. Hrsg. von Thomas Würtenberger und Dirk Otto, Stuttgart 2010, S. 105.
  32. Reinhold Zippelius: Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Auflage, 1996, S. 327.