Myeloproliferative Neoplasie

Gruppe von Bluterkrankungen
(Weitergeleitet von Myeloproliferatives Syndrom)
Klassifikation nach ICD-10
C92.1 Chronische myeloische Leukämie
ICD-O 9875/3
D45 Polyzythämia vera
ICD-O 9950/3
D47.3 Essentielle Thrombozythämie
ICD-O 9962/3
D47.3 Primäre Myelofibrose
ICD-O 9961/3
C92.7 Chronische Neutrophilenleukämie
ICD-O 9963/3
D47.5 Chronische Eosinophilenleukämie/
Hypereosinophiles Syndrom
ICD-O 9880/3
D47.0 indolente systemische Mastozytose
ICD-O 9741/1
D47.0 systemische Mastozytose mit assoziierter klonaler hämatologischer Nicht-Mastzell-Krankheit
ICD-O 9741/3
C96.2 aggressive systemische Mastozytose
ICD-O 9741/3
C94.3 Mastzell-Leukämie
ICD-O 9742/3
C96.2 Mastzellsarkom
ICD-O 9740/3
C94.6 Nicht klassifizierbare Myeloproliferative Neoplasie
ICD-O 9975/3
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Unter dem Begriff der Myeloproliferativen Neoplasie (MPN, von altgriechisch µυελός myelos, deutsch ‚Mark‘, gemeint ist das Knochenmark, nicht das Rückenmark, Proliferation von lateinisch proles ‚Nachwuchs‘, gemeint ist Zellwachstum und -vermehrung sowie Neoplasie für ‚Neubildung‘) werden eine Reihe von malignen chronischen Bluterkrankungen der myeloischen Reihe zusammengefasst. Der Begriff stammt aus der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2008 und hat seitdem einen genau definierten Bedeutungsinhalt. Im Jahr 2016 wurden die Diagnosekriterien durch die WHO aktualisiert.

Historisches

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Im Jahr 1951 schlug der amerikanische Hämatologe William Dameshek vor, eine Gruppe von bösartigen Bluterkrankungen aufgrund verschiedener klinischer Gemeinsamkeiten unter dem Oberbegriff Myeloproliferative Syndrome (MPS) zusammenzufassen.[1] Dameshek ordnete die folgenden fünf Erkrankungen unter diesem Begriff ein:

Später wurden allerdings nur noch die ersten vier Erkrankungen unter diesem Begriff zusammengefasst. Das Di Guglielmo-Syndrom (der Begriff ist heute nicht mehr in Gebrauch) wurde dagegen den akuten myeloischen Leukämien (AML) zugeordnet (AML FAB M6).

Allen vier Erkrankungen ist gemeinsam, dass sie auf einer bösartigen Entartung von blutbildenden Zellen der myeloischen Reihe beruhen, die zu einer verstärkten Proliferation (einem verstärkten Wachstum) der betreffenden Zellreihe führen. Beispielsweise kommt es bei der Polycythaemia vera zu einer verstärkten und unkontrollierten Neubildung von roten Blutzellen, bei der essentiellen Thrombozythämie kommt es zur verstärkten Bildung von Thrombozyten, wodurch in beiden Fällen Krankheitssymptome resultieren. Typisch ist außer den Blutveränderungen häufig eine Splenomegalie (Vergrößerung der Milz) und häufig auch eine Hepatomegalie (Vergrößerung der Leber). Alle vier Erkrankungen tragen das Risiko eines Übergehens in eine akute myeloische Leukämie (bzw. „Blastenkrise“) in sich, allerdings mit deutlich unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Bei der Osteomyelofibrose liegt außerdem ein ausgeprägter bindegewebiger Umbau (Fibrose) des Knochenmarks vor.

Im Laufe der Jahrzehnte ließen sich die oben genannten Erkrankungen immer besser klinisch diagnostizieren und von anderen Erkrankungen abgrenzen, so dass schließlich nicht mehr von Myeloproliferativen Syndromen (= Symptomkomplexen), sondern von (chronischen) Myeloproliferativen Erkrankungen (CMPE/MPE oder CMPD/MPD, myeloproliferative disease) gesprochen wurde. Weitere Erkrankungen wurden unter diesen Oberbegriff aufgenommen (siehe die Auflistung unten). Seit der Veröffentlichung der Klassifikation der hämatologischen Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2008 ist der Begriff Myeloproliferative Neoplasie (MPN) in offiziellem Gebrauch. Der Begriff Syndrom sollte in diesem Zusammenhang nicht mehr gebraucht werden, da er veraltet ist.

Die Gruppe der Myeloproliferativen Neoplasien

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Zu den MPN im Sinne der WHO-Klassifikation 2016 zählen:[2]

Anmerkungen

  1. der Zusatz „NOS“ nimmt Bezug darauf, dass es auch andere Eosinophilenerkrankungen mit spezifischen genetischen Veränderungen gibt (PDGFRA, PDGFRB, FGFR1, PCM1-JAK2, siehe untenstehende Tabelle), diese sind hier ausgeschlossen

Die wesentlichen Änderungen im Vergleich zur WHO-Klassifikation 2008 sind die Unterscheidung eines frühen, „präfibrotischen“ Stadiums von einem späten, „postfibrotischen“ Stadium mit Knochenmarkfibrose bei der Primären Myelofibrose, sowie die Herausnahme der Mastozytose aus der Gruppe der MPN. Die Mastozytose bildet künftig eine eigene Entität.

Abgrenzung zu anderen myeloischen Erkrankungen

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Die Abgrenzung der MPN zur akuten myeloischen Leukämie (AML) ist einigermaßen willkürlich (arbiträr): ab einem Blastenanteil von 20 % im Knochenmark liegt definitionsgemäß eine AML vor. Die Abgrenzung zu den Myelodysplastischen Syndromen (MDS) ist manchmal schwierig und es gibt fließende Übergänge. Grundkennzeichen der MDS ist die Ausreifungsstörung der Blutbildung im Knochenmark, die zu einer Zytopenie (Anämie, Thrombopenie, Leukopenie) im peripheren Blut führt. Bei den Myeloproliferationen steht dagegen die Proliferation mindestens einer Zellreihe (Myelopoese, Erythropoese, Thrombopoese) auch im peripheren Blut im Vordergrund.

Typische genetische Veränderungen bei Myeloproliferativen Erkrankungen

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Häufig sind die MPN durch aktivierende Mutationen in Tyrosinkinase-Genen (ABL, JAK2, FGFR1) charakterisiert und können dann zum Teil mit spezifischen Tyrosinkinaseinhibitoren behandelt werden.[2]

Erkrankung Gen-Alterationen
CML BCR-ABL, sehr selten BCR-JAK2, BCR-FGFR1
PV JAK2 V617F, oder (selten) JAK2-Exon 12-Mutationen
ET JAK2 V617F, Calreticulin (CALR) Exon 9-Mutationen, MPL-Mutationen, seltener andere[Bem 1]
PMF JAK2 V617F, Calreticulin Exon 9-Mutationen, MPL-Mutationen, seltener andere[Bem 1]
CNL CSF3R-Mutationen
CEL heterogen, nicht genau bekannt[Bem 1]
MPN, NOS heterogen, nicht genau bekannt[Bem 1]

Bemerkungen

  1. a b c d mehrere Dutzend andere Gene wurden bei MPN (aber auch bei anderen myeloischen Neoplasien) mutiert gefunden. Dazu zählen z. B. ASXL1, TET2, SRSF2, SF3B1, RUNX1, …

Die WHO-Klassifikation von 2001, 2008 und 2016 im Vergleich

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Die folgende Tabelle stellt die Klassifikation der chronischen myeloischen Erkrankungen in den WHO-Klassifikationen aus den Jahren 2001, 2008 und 2016 gegenüber.

WHO-Klassifikation 2001 WHO-Klassifikation 2008 WHO-Klassifikation 2016
  • Chronische myeloproliferative Erkrankungen (CMPD)
  • Myelodysplastische Syndrome (MDS)
  • MDS/MPN, d. h. Erkrankungen mit sowohl myeloproliferativen als auch myelodysplastischen Merkmalen
  • Mastzell-Erkrankungen
  • Myeloproliferative Neoplasien (MPN)
  • Myelodysplastische Syndrome (MDS)
  • MDS/MPN-Mischformen
  • Myeloische Neoplasien mit Eosinophilie und
    genetischen Abnormalitäten, die die Gene
    PDGFRA,[Erl. 1] PDGFRB,[Erl. 2] oder FGFR1[Erl. 3] betreffen
  • Myeloproliferative Neoplasien (MPN)
  • Mastozytose
  • Myelodysplastische Syndrome (MDS)
  • MDS/MPN-Mischformen
  • Myeloische Neoplasien mit Eosinophilie und
    genetischen Abnormalitäten, die die Gene
    PDGFRA,[Erl. 1] PDGFRB[Erl. 2] oder FGFR1[Erl. 3] betreffen, oder die das Fusionsgen PCM1-JAK2 aufweisen
  • Myeloische Neoplasien mit prädisponierenden Keimbahn-Genalterationen

Erläuterungen

  1. a b PDGFRA: platelet-derived growth factor receptor alpha, Rezeptor alpha für Wachstumsfaktor aus Thrombozyten
  2. a b PDGFRB: platelet-derived growth factor receptor beta, Rezeptor beta für Wachstumsfaktor aus Thrombozyten
  3. a b FGFR1: fibroblast growth factor receptor 1, Rezeptor 1 für Fibroblasten-Wachstumsfaktor

Bei der Neuformulierung der WHO-Klassifikation von 2008 wurde bewusst nicht der alte Name myeloproliferative Syndrome oder myeloproliferative Erkrankungen gewählt. Einerseits geschah dies, um keine Verwechslungen mit den alten Bedeutungen dieser Begriffe aufkommen zu lassen, andererseits sollte klarer werden, dass es sich bei den so benannten Erkrankungen nicht um "Syndrome" (Symptomkomplexe) im engeren Sinne, sondern um relativ gut definierte maligne Erkrankungen (Neoplasien) handelt.

Manchmal werden alle Erkrankungen, die keine CML sind, unter dem Begriff „Philadelphia-Chromosom-negative MPN“ zusammengefasst.

Literatur

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  • S. H. Swerdlow, E. Campo, N. L. Harris, E. S. Jaffe, S. A. Pileri, H. Stein, J. Thiele, J. W. Vardiman (Hrsg.): WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues. 4. Auflage. IARC Press, Lyon 2008, ISBN 978-92-832-2431-0. (die WHO-Klassifikation von 2008)
  • E. Jaffe, N. L. Harris, H. Stein, J. W. Vardiman (Hrsg.): Pathology and Genetics of Tumours of Haemopoietic and Lymphoid Tissues. IARC Press, Lyon 2001. (die WHO-Klassifikation von 2001)
  • A. M. Vanucchi, P. Guglielmelli, A. Tefferi: Advances in Understanding and Management of Myeloproliferative Neoplasms. In: CA Cancer J Clin. Vol 59, Number 3, 2009, S. 171–191. PMID 19369682
  • A. Tefferi, J. W. Vardiman: Classification and diagnosis of myeloproliferative neoplasms: the 2008 World Health Organization criteria and point-of-care diagnostic algorithms. In: Leukemia. Band 22, 2008, S. 14–22. PMID 17882280. (Übersichtsartikel zur WHO-Klassifikation 2008)
  • W. Dameshek: Some speculations on the myeloproliferative syndromes. In: Blood. Band 6, 1951, S. 372–375. PMID 14820991 Volltext (Historischer Artikel, Begriffsprägung "Myeloproliferative Syndrome")
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Einzelnachweise

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  1. W. Dameshek: Some speculations on the myeloproliferative syndromes. In: Blood. Band 6, 1951, S. 372–375. PMID 14820991 (Volltext)
  2. a b D. A. Arber, A. Orazi, R. Hasserjian, J. Thiele, M. J. Borowitz, M. M. Le Beau, C. D. Bloomfield, M. Cazzola, J. W. Vardiman: The 2016 revision to the World Health Organization classification of myeloid neoplasms and acute leukemia. In: Blood. Band 127, Nr. 20, 2016, S. 2391–2405. doi:10.1182/blood-2016-03-643544 PMID 27069254.