In den Jahren 1969 bis 1972 wurde die Systematische Heuristik erfolgreich bei zahlreichen Entwicklungsprojekten des Maschinenbaus, der Chemieindustrie (Leuna und Schwedt) und der Elektronik (Robotron) praktisch angewandt.[1] Das Zentralinstitut für Schweißtechnik in Halle/Saale (ZIS, Werner Gilde) war für Johannes Müller ein methodologisches „Versuchsfeld“, das er bis 1986 betreute.

Aus ideologischen Gründen wurde die Abteilung SH bereits im Jahr 1972 wieder aufgelöst. Unter Leitung von Johannes Müller dokumentierten die Mitarbeiter der Abteilung SH ihr Wissen in der dritten Auflage der Programmbibliothek. Die geplante Rechnerunterstützung der Systematischen Heuristik konnte nicht begonnen werden.

Johannes Müller arbeitete danach weiter mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern unter dem Dach des Zentralinstituts für Kybernetik und Informationsprozesse (ZKI an der AdW, Berlin, Horst Völz).[2] Er untersuchte dort bis 1981 heuristische Verfahren unter informationstechnischem Aspekt. Danach konzentrierte er sich auf die Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften und sein Hauptwerk, der Herausgabe der Monographie, in der er die „systematischen Problemlösungsmethoden mit und ohne Rechnereinsatz“ im Maschinen- und Gerätebau umfassend analysierte und darstellte. Nach 1989 bemühte er sich intensiv um die Fundierung der Konstruktionswissenschaft im wiedervereinigten Deutschland.

Systematische Heuristik Bearbeiten

Die Systematische Heuristik ist eine Technologie der geistigen Arbeit. Sie ist ein Methodensystem zur Bewältigung von Aufgabenstellungen und Problemlösungsprozessen aus den Bereichen Naturwissenschaft und Technik.

Das Prinzip der Systematischen Heuristik besteht darin, wiederkehrende Problemklassen mit Methoden zu bearbeiten, die sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben. Diese Methoden werden Programme genannt und in einer Programmbibliothek zur Wiederverwendung bereitgestellt. Das Verfahren der Problemlösung wird durch das Oberprogramm der Systematischen Heuristik vorgeschrieben und für die jeweilige Aufgabe spezifiziert. Die Systemwissenschaftliche Arbeitsweise (SWAW) beschreibt die Arbeitsmethoden und den Begriffsapparat der Systematischen Heuristik.

Erkenntnisse über das methodische Denken Bearbeiten

Im Verlauf der Ausarbeitung und Anwendung der Systematischen Heuristik wurden wesentliche Erkenntnisse und Einsichten über das menschliche Denken gewonnen:

Kompetenz und Effektivität eines Problemlösers hängen erheblich davon ab, wie weit er über Methoden und andere mentale Strukturen verfügt, die invariant – wenn auch flexibel – auf umfangreiche Klassen von Aufgabenstellungen seines Berufes anwendbar sind. Sie gewährleisten schnellen Durchblick und ermöglichen die Umsetzung seines Erfahrungs- und Wissensschatzes. Nach allen Beobachtungen erwirbt, speichert und verwaltet aber ein Ingenieur solche Strukturen unbewusst und er setzt sie im Normalbetrieb auch unbewusst ein, um seinen Arbeitsprozess zu planen und zu steuern.

Erst dann, wenn im anstehenden Problemlösungsprozess seine Kompetenz überzogen wird, geht er zum Rationalbetrieb (vorzugsweise bewusstes Denken) über. Dann setzt er auch seinen Methodenvorrat bewusst ein und entwickelt ihn auch bewusst weiter. So viel wie notwendig, so wenig wie möglich, denn dieses Verhalten erfordert mentale Anstrengung, mehr Zeit und Aufwand.

Für den Rationalbetrieb hat sich bewährt, diese mentalen Strukturen in Form von Graphen, Algorithmen, Schablonen und relationalen Netzen zu modellieren und zu analysieren. Damit werden sie auch für andere Bearbeiter verfügbar. IT-Systeme können dabei als Informationsträger nützlich sein, Intelligenz aber liefern sie nicht.

Allerdings entspricht dieser Arbeitsstil nicht der menschlichen Mentalität! Der Mensch schätzt die Routine und bewältigt damit den größten Teil seines Lebens. Zugespitzt formulierte Müller: „Im Normalfall denkt der Mensch nicht!“. Seinen Verstand benutzt der Mensch nur dann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Er vermeidet systematische Problemlösungen so lange wie möglich, denn sie bedeuten Stress und Aufwand. Deshalb legen Forscher und Entwickler in der Regel das schöne Methodensystem wieder beiseite, sobald der Druck von oben nachlässt. Eine ganz wesentliche Erkenntnis aus der industriellen Anwendung der Systematischen Heuristik.

So sehr sich solche Modelle und Methoden in gewissen Situationen bewährt haben, sie sind bestenfalls als erste Annäherung an die tatsächlich im intellektuellen Prozess wirkenden Strukturen anzusehen. Sie unterstützen den Problemlösungsprozess und machen ihn handhabbar – so wie die Grammatik die Sprachfähigkeit erleichtert. Wie diese Strukturen aber im menschlichen Intellekt tatsächlich aussehen, wissen wir noch nicht. Beim gegenwärtigen Stand (2004) der Psychologie und Neurophysiologie ist das Problem aus heuristischer Sicht auch nicht anzugehen.

Ergebnisse der Hirnforschung haben inzwischen Sachverhalte über das menschliche Verhalten und Denken bestätigt, die Johannes Müller bereits in den 1970er Jahren als Methodologe und Konstruktionswissenschaftler formuliert hat.

Politisches Umfeld Bearbeiten

Johannes Müller hatte eine Technologie der geistige Arbeit entwickelt und die politischen Umstände in der DDR passten dazu: Forschung, Entwicklung und Effektivität waren hoch priorisierte Ziele des Arbeiter- und Bauernstaates. Nur so konnte man versuchen, mit der Wirtschaftsentwicklung Westdeutschlands Schritt zu halten (Neues Ökonomisches System, NÖS). Im Jahr 1969 wird durch direkte Intervention von Walter Ulbricht (initiiert durch Werner Gilde, ZIS) die Abteilung Systematische Heuristik bei der Akademie für Marxistisch-Leninistische Organisationswissenschaft (AMLO), Berlin, gegründet (weder Marx noch Lenin haben sich mit Organisationswissenschaft befasst).

Ulbricht setzt sich über Verdächtigungen der Hochschule für Maschinenbau in Karl-Marx-Stadt hinweg, die gegen Johannes Müller wegen ‚Entideologisierung der marxistisch-leninistischen Philosophie‘ ein Parteiverfahren anstrengen. Er wird mit der Leitung der Abteilung SH beauftragt.

Mit der Anwendung der Systematischen Heuristik in der DDR-Industrie konnte nachgewiesen werden: Wenn Forscher und Entwickler durch ihre Leiter mehr oder weniger sanft gezwungen und durch Methodik-Spezialisten angeleitet werden, mit der Systematischen Heuristik zu arbeiten, sind sie tatsächlich effektiver als vorher. Trotzdem entscheidet 1971 nach dem VIII. Parteitag das Politbüro der SED, die Akademie MLO und mit ihr die Abteilungen SH und Operation Research aufzulösen. Walter Ulbricht wurde im Mai 1971 durch Erich Honecker abgelöst. Jetzt setzt sich Kurt Hager (Ideologie) gegen Günter Mittag (Wirtschaft) durch.

Die Arbeit der Abteilung Systematische Heuristik in den Großforschungszentren der DDR war nachweislich erfolgreich, aber das zählte in der DDR nicht. Für einige Genossen des Politbüros (Kurt Hager, Otto Reinhold) war die Reinheit der Lehre und der „unerschütterliche Klassenstandpunkt“ wichtiger als wissenschaftliche Erkenntnisse und wirtschaftliche Erfolge. Es durfte nicht sein, dass der Sozialismus mit technokratischen (= ideologiefreien) Methoden aufgebaut werden sollte! Die hoch spezialisierte Methodik-Gruppe wurde aus rein ideologischen Gründen aufgelöst und nach Hause geschickt. Damit war auch die industrielle Anwendung der Systematischen Heuristik beendet.

Die ehemaligen Mitarbeiter der Abteilung SH haben auch ohne Institution weiter mit der Systematischen Heuristik gearbeitet. Aus den Mitarbeitern der Abteilung SH gingen später 10 Hochschullehrer, darunter sechs Professoren, hervor. Sie und anderen Multiplikatoren haben in der Konstruktionswissenschaft und anderen Ingenieursdisziplinen die Systematische Heuristik in vielfältiger Form angewandt, modifiziert und weiterentwickelt.

Die in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR existierenden Erfinderschulen und Seminare zu Kreativitätstechniken konnten auf der Systematischen Heuristik und der Mitwirkung vieler Heuristiker aufbauen. Es zeigte sich, dass über Erfinderschulen einzelne Problemlöser ohne umfangreiche Organisation qualifiziert werden konnten. Mit der komplexen Systematischen Heuristik werden dagegen die größten Effekte erreicht, wenn die Arbeitsweise ganzer Bereiche verändert wird. Mit der Wiedervereinigung geriet die Systematische Heuristik weitestgehend in Vergessenheit.


Publikationen (Auswahl) Bearbeiten

  • 1964: Über die Dialektik im Ingenieurdenken, Karl-Marx-Universität Leipzig, KMUL, Dissertation
  • 1965: Über die Dialektik im Ingenieurdenken, Institut für Fachschulwesen der DDR In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 13, Heft 9, Seiten 1094–1109, ISSN (Online) , ISSN (Print) , DOI: 10.1524/dzph.1965.13.9.1094.
  • 1966: Operationen und Verfahren des problemlösenden Denkens in der konstruktiven technischen Entwicklungsarbeit - Eine methodologische Studie, KMUL Leipzig (Leipzig, Phil. F., Habilitationsschrift vom 23. November 1966).
  • 1967: Zur Bestimmung der Begriffe „Technik“ und „technisches Gesetz“, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 15, Heft 12, Seiten 1431–1449, ISSN (Online) , ISSN (Print) , DOI: 10.1524/dzph.1967.15.12.1431.
  • 1968: Ansatz zu einer systematischen Heuristik, In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 16, Heft 6, Seiten 698–718, ISSN (Online) , ISSN (Print) , DOI: 10.1524/dzph.1968.16.6.698
  • 1969: Systematischen Heuristik für Ingenieure, Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS. Nr. 59, Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale
  • 1970: Programmbibliothek zur systematischen Heuristik für Naturwissenschaftler und Ingenieure, Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS. Nr. 69, Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale
  • 1970: Grundlagen der systematischen Heuristik, Berlin, Dietz Verlag
  • 1973: mit Peter Koch (Hrsg.) und 31 Autoren: Programmbibliothek zur systematischen Heuristik für Naturwissenschaftler und Ingenieure, Dritte Auflage, Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS, Nr. 97, 98 und 99, Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale
  • 1977: Theoretische Grundlagen der Bewertung von Informationen bezüglich ihrer Funktion im gedanklichen Bearbeitungsprozeß, ZKI Informationen Nr. 4, Seite 60 bis 71
  • 1977: mit Gilde, W. Vorgehen zur Analyse von Erfindungen auf ihre Patentfähigkeit, ZKI Informationen Nr. 4, Seite 189 bis 204
  • 1980: Methoden muss man anwenden, Technisch-wissenschaftliche Abhandlungen des ZIS. Nr. 132, Zentralinstitut für Schweißtechnik (ZIS), Halle/Saale
  • 1980: Grundlegende Probleme und Möglichkeiten rechentechnischer Unterstützungen in Bewertungsvorgängen, In: Beiträge zum Problemseminar "Bildschirmunterstütztes Konstruieren", Technische Hochschule Karl-Marx-Stadt, THK, Seite 90 bis 128
  • 1983: Zu methodologischen Problemen der rechnerunterstützten Erzeugnisentwicklung, 7. Kolloquium zu Fragen der Theorie und Methodik der industriellen Formgestaltung, Hochschule für Industrielle Formgestaltung, HIF, Halle/Saale
  • 1990: Arbeitsmethoden der Technikwissenschaften - Systematik, Heuristik, Kreativität, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York, ISBN 3-540-51661-1 - Im Anhang eine Liste von 46 Veröffentlichungen von Johannes Müller
  • 1994: Akzeptanzprobleme in der Industrie über Ursachen und Wege zu ihrer Überwindung., In: Gerhard Pahl (Herausgeber) Psychologische und pädagogische Fragen beim methodischen Konstruieren Seite 247 bis 266 (1994), Verlag TÜV-Rheinland, Köln.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Neues Deutschland vom 14. Februar 1970: Heuristische Programmierung steigert Effektivität, S. 12.
  2. archiv.sachsen.de. Abgerufen am 13. September 2014.