Eine chimäres Virus (englisch chimeric virus), manchmal auch nur kurz eine Chimäre (engl. chimera) genannt, ist ein Virus, das genetisches Material von zwei oder mehr Ausgangs- oder Elternviren enthält. Das Center for Veterinary Biologics als Teil des Animal and Plant Health Inspection Service (APHIS) des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten (U.S. Department of Agriculture) definiert den Begriff als einen „neuen hybriden Mikroorganismus, der durch die Verbindung von Nukleinsäurefragmenten aus zwei oder mehr verschiedenen Mikroorganismen entsteht, wobei jedes der Fragmente mindestens zwei für die Replikation essentiell notwendige Gene enthält.“[1] Der Begriff der Genetischen Chimäre wurde bereits definiert als ein individueller Organismus, dessen Körper entweder Zellpopulationen aus verschiedenen Zygoten (Eizellen) enthält, oder der sich aus Teilen verschiedener Embryonen entwickelt hat.

Etymologie Bearbeiten

In der Mythologie ist eine Chimäre (altgriechisch Χίμαιρα Chímaira, lateinisch Chimaera), eigentlich ‚Ziege‘, eingedeutscht Chimära, Chimäre und Schimäre, ein Wesen (etwa wie ein Hippogryph oder ein Greif), das aus Teilen verschiedener Tiere besteht.[2][3]

Als natürliches Phänomen Bearbeiten

Chimäre Viren sind das Ergebnis natürlicher Rekombination des Genoms meist nahe verwandter Virusstämme. Wenn (wie bei den Influenzaviren) das Genom aus mehreren Segmenten besteht, können im Fall einer Koinfektion aus einer Kombination der Segmente der verschiedenen Ausgangsstämme ein neues rekombinantes „chimäres“ Virus entstehen (Reassortment). Ist das Genom unsegmentiert (wie bei den Coronaviriden), so ist ein Umverknüpfen des DNA- bzw. RNA-Strangs nötig (ähnlich dem Crossing-over bei Eukaryoten).

Viren werden grundsätzlich in zwei Typen klassifiziert: DNA-Viren (mit einem DNA-Genom, Baltimore-Gruppen 1 und 2) und RNA-Viren (mit einem RNA-Genom, Baltimore-Gruppen 3, 4 und 5), dazu kommen die revers transkribierenden Viren (Baltimore-Gruppen 6 und 7). Bei Prokaryonten besitzt die große Mehrheit ihrer Viren ein doppelsträngiges (ds) DNA-Genom, während eine allerdings beträchtliche Minderheit ein einzelsträngiges (ss) DNA-Genom hat und nur wenige RNA-Viren vorkommen. Im Gegensatz dazu machen bei Eukaryonten RNA-Viren den Großteil der Vielfalt aus, obwohl auch ssDNA- und dsDNA-Viren vorkommen.[4]

In jedem Fall scheinen die oben beschriebenen Rekombinations-Vorgänge (ähnlich wie bei der Fertilität von Eukaryoten) eine gewisse Verwandtschaft („Kompatibilität“) der Genomsegmente (wie der Chromosomen) bzw. des Einzelstrangs (DNA/RNA, ss/ds, linear/zirkulär) vorauszusetzen. Im Jahr 2012 wurde jedoch bei einer Metagenom-Analyse des sauren, extremen Milieus des Boiling Springs Lake im Lassen Volcanic National Park in Kalifornien unerwartet das erste Beispiel eines natürlich vorkommenden „RNA-DNA-Hybridvirus“ entdeckt.[5][6] Sein ssDNA-Genom ist verwandt zu einem Teil (Genom-Organisation, Replikationsinitiations-Gen REP) mit einem ssDNA-Circovirus (Phylum Cressdnaviricota), das normalerweise Vögel und Schweine infiziert, zu einem anderen Teil (Kapsid-Gen CAP) mit einem ssRNA-Tombusvirus, das Pflanzen infiziert.[Anm. 1] Seine Viruspartikel ähneln also von außen den Tombusviren, innen aber den Circoviren.[5] Graphische Veranschaulichungen finden sich bei de la Higuera (2018)[7] und >R. Harth (2020).[8]

Für das Virus wurde die Bezeichnung „Boiling Springs Lake RNA-DNA Hybrid Virus“ (BSL-RDHV) vorgeschlagen,[9] eine Bestätigung durch das International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) steht derzeit (Stand 30. August 2021) noch aus. Die Studie überraschte wegen der Verschiedenheit von DNA- und RNA-Viren, und da man die Art und Weise, wie die Chimäre zustande kam, nicht verstehen konnte.[5][10]

Seitdem wurden weitere RNA-DNA-Hybridviren mit besagter Genom-Struktur der Cressdnaviricota gefunden, und die Gruppe wird auch als CHIV-Viren ("chimäre Viren" im engeren Sinne, Cruciviren oder en. BSL-RDHV-like viruses) bezeichnet.[4] Weitgehend ungeklärt und immer noch in der Diskussion sind etliche Punkte:[7][11]

  • wie häufig sind in der Evolutionsgeschichte solche extremen Rekombinationsereignisse mit „reverser Transkription“ RNA zu DNA?
  • liegt den RNA-DNA-Hybridviren insgesamt (oder wenigstens dem größten Teil davon) in ihrer evolutionären Geschichte ein einziges Hybridisierungsereignis zugrunde oder mehrere?
  • welche Viruskandidaten gehören zur Klade des BSL-RDHV, d. h. sind aus demselben RNA-zu-DNA-Rekombinationsereignis hervorgegangen?

Als Biowaffe Bearbeiten

Die Kombination zweier pathogener Viren kann die Letalität des neuen Virus erhöhen.[12] Es gab daher Fälle, in denen chimäre Viren für den Einsatz als Biowaffe in Betracht gezogen wurden.

Beispielsweise wurde von der ehemaligen Sowjetunion im Rahmen des englisch Chimera Project genannten Teils ihres Biowaffenprogramms Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre versucht, die DNA des Venezolanischen Pferdeenzephalitis-Virus und des Pockenvirus an einem Ort (NPO Biosintez in Obolensk,[13] russisch Оболенск), sowie die des Ebola-Virus und des Pockenvirus an einem anderen Ort (Vector-Institut in Nowosibirsk) zu kombinieren,[14][15] obwohl dies gegen einen entsprechenden Erlass von Boris Jelzin vom 11. April 1992 verstieß. Eine Kombination aus Pocken- und Affenpockenvirus wurde ebenfalls untersucht.[12] Siehe auch Gain-of-function-Forschung §GoF-ähnliche Experimente in der ehemaligen Sowjetunion.

Als Mittel zur Therapie oder Vorbeugung Bearbeiten

Studien haben gezeigt, dass chimäre Viren für medizinische Zwecke entwickelt werden können. Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) hat 2018 die Verwendung von chimären Antigenrezeptoren (Chimeric Antigen Receptor, CAR) zur Behandlung eines rückfällig gewordenen Non-Hodgkin-Lymphoms zugelassen (CAR-T-Zell-Therapie). Durch die Einführung eines chimären Antigenrezeptors mit Hilfe eines chimären retroviralen Vektors in T-Zellen werden diese effizienter bei der Erkennung und Bekämpfung von Tumorzellen.[16] Auch ein gentechnisch hergestelltes chimäres Polio-Rhino-Virus (PVSRIPO) soll zur Behandlung des Glioblastoms eingesetzt werden (Desjardins et al. 2018).[17][18]

Es laufen auch Studien zur Entwicklung eines Impfstoffs auf Basis chimärer Viren gegen vier Typen des Dengue-Virus, die jedoch noch nicht erfolgreich waren (Stand 2014/2018).[19] Beispielsweise wurden chimäre Flaviviren in dem Versuch geschaffen, neuartige abgeschwächte Lebendimpfstoffe herzustellen.[20]

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Die Bezeichnung „RNA-DNA-Hybridvirus“ bedeutet nicht, dass das Virusgenom gemischt aus DNA- und RNA-Segmenten besteht. Der Begriff bezieht sich lediglich auf die unterschiedliche Herkunft (Abstammung) einzelner Genomteile (Gene). Viren mit gemischten RNA/DNA-Genom wurden noch bislang (August 2021) noch nicht gefunden.
    Solche Viren wären zwar theoretisch möglich, insbes. wenn wie bei den Nanoviridae die verschiedenen Segmente einzeln in Kapside verpackt werden. Dies würde aber für die RNA- und DNA-Segmente jeweils eigene (und damit insgesamt doppelte) Replikationsmechanismen voraussetzen, was unwahrscheinlich ist.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Richard E. Hill Jr.: Center for Veterinary Biologics Notice No. 05-23, United States Department of Agriculture, 8. Dezember 2005 
  2. Chimäre, auf wissen.de
  3. Chimäre, die, Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
  4. a b Eugene V. Koonin, Valerian V. Dolja, Mart Krupovic: Origins and evolution of viruses of eukaryotes: The ultimate modularity. In: Virology. 41. Jahrgang, Nr. 5, Mai 2015, S. 285–93, doi:10.2535/ofaj1936.41.5_285, PMID 5898234 (europepmc.org [PDF]).
  5. a b c G. S. Diemer, K. M. Stedman: A novel virus genome discovered in an extreme environment suggests recombination between unrelated groups of RNA and DNA viruses. In: Biology direct. Band 7, Juni 2012, S. 13, doi:10.1186/1745-6150-7-13, PMID 22515485, PMC 3372434 (freier Volltext).
  6. Helen Thompson: Hot spring yields hybrid genome: Researchers discover natural chimaeric DNA-RNA virus, in: Nature, 20. April 2012.
  7. a b Ignacio (Nacho) de la Higuera, Ellis Torrance, Amber Maluenda, George Kasun, Max Larson; Rita Clare: Cruciviruses / RNA-DNA Hybrid Viruses, Extreme Virus Lab (Stedman Lab), 2018. Insbesondere Fig. Cruciviridae
  8. Richard Harth: Criss-crossing viruses give rise to peculiar hybrid variants (Memento des Originals vom 5. August 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/biodesign.asu.edu, Arizona State University, Biodesign Institute, 29. Oktober 2020; sowie
    Cruciviruses: Criss-Crossing Viruses Give Rise to Peculiar Hybrid Variants, auf: SciTechDaily vom 2. November 2020. Siehe insbes.
    Cruciviruses (Memento des Originals vom 2. November 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/biodesign.asu.edu, alternativ hier: Cruciviruses
  9. Caitlin Devor: Scientists discover hybrid virus, in: Journal of Young Investigators (JYI), 12. Juli 2012
  10. Could a newly discovered viral genome change what we thought we knew about virus evolution?, auf: ScienceDaily vom 18. April 2012, Quelle: BioMed Central Limited
  11. Simon Roux, François Enault, Gisèle Bronner, Daniel Vaulot, Patrick Forterre, Mart Krupovic: Chimeric viruses blur the borders between the major groups of eukaryotic single-stranded DNA viruses, in: Nat Commun 4:2700, 6. November 2013, doi:10.1038/ncomms3700. Siehe insbesondere Supplement 2 (xls).
  12. a b Marc S. Collett: Impact of Synthetic Genomics on the Threat of Bioterrorism with Viral Agents. In: Working Papers for Synthetic Genomics: Risks and Benefits for Science and Society. 2006, S. 83–103.
  13. Obolensk Map, Mapcarta
  14. Amy Smithson: A bio nightmare. In: Bulletin of the Atomic Scientists. 55. Jahrgang, Nr. 4, Juli 1999, S. 69–71, doi:10.2968/055004019, bibcode:1999BuAtS..55d..69S.
  15. Michael J. Ainscough: Next Generation Bioweapons: Genetic Engineering and BW. 2004, abgerufen am 9. September 2020.
  16. Premal D. Lulla, LaQuisa C. Hill, Carlos A. Ramos, Helen E. Heslop: The use of chimeric antigen receptor T cells in patients with non-Hodgkin lymphoma. In: Clinical Advances in Hematology and Oncology. 16. Jahrgang, Nr. 5, 2018, S. 375–386, PMID 29851933, PMC 6469642 (freier Volltext).
  17. Alexandra Bischoff: Chimäres Virus hetzt Immunzellen aufs Glioblastom, in: Medical Tribune (undatiert). Zugriff vom 30. August 2021.
  18. Annick Desjardins, M.D., Matthias Gromeier, M.D., James E. Herndon et al.: Recurrent Glioblastoma Treated with Recombinant Poliovirus, in: N Engl J Med 379, 12. Juli 2018, S. 150–161, doi:10.1056/NEJMoa1716435
  19. Patent EP3013852B1: Zusammensetzung für Dengue-Virus-Impfstoffe und deren Verwendung. Angemeldet am 26. Juni 2014, veröffentlicht am 19. Juni 2019, Anmelder: The University of North Carolina at Chapel Hill, Erfinder: William Messer et al.
  20. Ching-Juh Lai, Thomas P. Monath: Chimeric flaviviruses: novel vaccines against dengue fever, tick-borne encephalitis, and Japanese encephalitis. In: Advances in Virus Research. 61. Jahrgang, 2003, S. 469–509, doi:10.1016/s0065-3527(03)61013-4, PMID 14714441 (sciencedirect.com). ISBN 9780120398614.