Wo die wilden Kerle wohnen

Bilderbuch von Maurice Sendak, 1963

Wo die wilden Kerle wohnen (englischer Originaltitel: Where the Wild Things Are) ist ein erstmals 1963 von Harper & Row veröffentlichtes Kinder- und Bilderbuch des US-amerikanischen Autors und Illustrators Maurice Sendak. Im Jahr 1967 erschien die erste deutschsprachige Übersetzung von Claudia Schmölders im Diogenes Verlag. Das Buch wurde diverse Male adaptiert, unter anderem als animierter Kurzfilm (1974, aktualisierte Version 1988), Oper (1980) und als Kinofilm von Spike Jonze (2009). Wo die wilden Kerle wohnen wurde weltweit über 19 Millionen Mal verkauft, 10 Millionen davon in den Vereinigten Staaten.[1]

Sendak erhielt für das Buch 1964 die Caldecott Medal als bestes Kinderbuch.[2] Im Jahr 2012 wurde es zum wiederholten Male von Lesern des School Library Journals zum besten Bilderbuch aller Zeiten gewählt.[3]

Handlung Bearbeiten

Der Text des Buches umfasst in der deutschen Version nur 333 Wörter (im Englischen 338 Wörter).

Die Geschichte handelt von einem Jungen namens Max. Nachdem dieser ein Wolfskostüm angezogen hat, tobt er so wild durch das Haus, dass er von seiner Mutter ohne Abendessen ins Bett geschickt wird. Das Schlafzimmer von Max verwandelt sich daraufhin auf geheimnisvolle Weise in eine Dschungelumgebung. Max gelangt mit einem kleinen Segelboot auf eine Insel, die von großen Monstern bewohnt wird, den „wilden Kerlen“. Nachdem es ihm gelungen ist, die Kreaturen einzuschüchtern, wird Max zum König der wilden Kerle gekrönt, und er genießt die Balgerei mit seinen Untertanen. Dennoch beginnt er sich einsam zu fühlen, so dass er sich entschließt, nach Hause zurückzukehren, zur Bestürzung der wilden Kerle. Bei seiner Rückkehr entdeckt Max sein noch warmes Abendessen neben sich.

Entstehung Bearbeiten

Maurice Sendak begann seine Karriere als Illustrator und entschloss sich Mitte der 1950er-Jahre, nicht nur Texte anderer Autoren zu illustrieren, sondern selbst Texte zu verfassen und diese zu illustrieren.[4] Im Jahr 1956 veröffentlichte er sein erstes Buch als Autor und Illustrator, Kennys Fenster (Kenny’s Window). Kurz danach begann er an seinem zweiten Buch zu arbeiten. Die Geschichte sollte von einem Kind handeln, das nach einem Wutanfall auf sein Zimmer geschickt wird und sich entschließt, an den Ort zu flüchten, der dem Buch den Namen geben sollte, in das Land der wilden Pferde (Land of Wild Horses).[4] Kurz bevor er mit dem Anfertigen der Illustrationen begann, bemerkte Sendak, dass er nicht wusste, wie Pferde korrekt gezeichnet werden. Daher änderte er auf Anraten seines Herausgebers seine Grundidee, und aus den „wilden Pferden“ wurden „wilde Kerle“. Der Begriff ist inspiriert von dem jiddischen Ausdruck „vilde chaya“ (װילדע חיה) für ungestüme und wilde Kinder.[5]

Sendak bediente sich dabei der Karikaturen, die er in seiner Jugend als Flucht von den chaotischen wöchentlichen Besuchen der Verwandten von seinen Tanten und Onkeln gezeichnet hatte. Sendak sah als Kind seine Verwandten, die ihn so lange in die Wange kniffen, bis diese rot wurden, als „komplett verrückt“ und mit „irren Gesichtern, wilden Augen und großen, gelben Zähnen“.[4][6][7] Diese Familienmitglieder waren, wie Sendaks Eltern, arme jüdische Flüchtlinge aus Polen, deren übrige Verwandte in Europa während des Holocausts getötet wurden.[7]

Bei der Arbeit an der Opernadaption durch Oliver Knussen im Jahr 1983 gab Sendak den Monstern die Namen seiner Familienmitglieder: Tzippy, Moishe, Aaron, Emile und Bernard.[8]

Rezeption Bearbeiten

 
Barack Obama liest Kindern aus dem Buch beim Ostereierschieben im Weißen Haus vor, 2009

Nach Aussagen von Sendak wurde das Buch in manchen Bibliotheken verboten und erhielt negative Kritiken. Der Spiegel schrieb 1970, dass amerikanische Eltern und Rezensenten es anfangs als „zu grauslich“ für Kinder einschätzten.[9] Es dauerte ungefähr zwei Jahre, dass Bibliothekare und Lehrer realisierten, wie sehr Kinder von dem Buch angezogen wurden, es immer wieder ausliehen und Kritiker ihre Vorbehalte lockerten.[10] Seitdem erhält das Buch überwiegend positive Kritiken. Der britische Schriftsteller Francis Spufford ist der Meinung, dass Wo die wilden Kerle wohnen „eines der wenigen Bilderbücher ist, das absichtlich und großartig Nutzen von der psychoanalytischen Geschichte der Wut macht.“[11] Mary Pols vom Time-Magazin schrieb, dass der Grund für den Reiz an Sendaks Buch die Bodenständigkeit ist. Max hat einen Wutanfall und entdeckt seine wilde Seite, wird aber letzten Endes aufgrund seines Glaubens an elterliche Liebe zum warmen Abendessen zurückgeholt und balanciert damit auf der Wippe zwischen Furcht und Geborgenheit.[12] Die New-York-Times-Filmkritikerin Manohla Dargis bemerkte, dass es verschiedene Lesarten des Buchs gibt, durch eine „freudsche oder kolonialistische Sicht und wahrscheinlich viele andere Möglichkeiten diese empfindliche Geschichte eines einsamen Kindes, das sich durch seine Phantasie befreit, zu ruinieren.“[13]

Sendak nannte den Jungen Max „meine tapferste und daher auch meine liebste Schöpfung“ und schätzte auch die „wilden Kerle“, „die nicht angelegt sind, es jedem recht zu machen – nur Kindern.“[14] In Selma G. Lanes' Buch The Art of Maurice Sendak zählt Sendak Wo die wilden Kerle wohnen zu einer Art Trilogie mit seinen Büchern In der Nachtküche (In the Night Kitchen) und Als Papa fort war (Outside Over There) hinzu, die von Kindesentwicklung, Überleben, Wandel und Zorn handelt.[15][16] Für ihn sind die drei Bücher „alles Variationen desselben Motivs: wie Kinder mit unterschiedlichen Gefühlen umgehen – Gefahr, Langeweile, Furcht, Frustration, Eifersucht – und wie sie es schaffen mit der Realität ihrer Leben zurechtzukommen.“[15]

Basierend auf einer Onlineumfrage im Jahr 2007 zählte die US-amerikanische National Education Association das Buch zur Liste der Teachers' Top 100 Books for Children.[17] Fünf Jahre später nannte das School Library Journal nach einer Leserumfrage Wo die wilden Kerlen wohnen das beste Bilderbuch für Kinder.[3] Elizabeth Bird, Bibliothekarin der New York Public Library, die die Umfrage leitete, beobachtete, dass das Buch ein Wendepunkt war und die moderne Ära der Bilderbücher einleitete. Ein anderer Teilnehmer lobte das Buch als „perfekt geschrieben und perfekt illustriert […] einfach der Inbegriff eines Bilderbuchs“ und merkte an, dass Sendak „über den Rest herausragt, zum Teil weil er subversiv ist.“ Der ehemalige US-Präsident Barack Obama las das Buch mehrere Jahre Kindern beim Ostereierschieben des Weißen Hauses vor.[18]

Im englischen Sprachraum wurde das Bilderbuch überaus populär und gewann 1964 die Caldecott Medal, die höchste Auszeichnung für englischsprachige Bilderbücher. Trotz der Beliebtheit des Buchs weigerte sich Sendak einen Nachfolger zu schreiben. Im Jahr 2012, vier Monate vor seinem Tod, erzählte er dem Satiriker Stephen Colbert, dass das „die erdenklich langweiligste Idee“ ist.[19]

Adaptionen Bearbeiten

Nach fünfjähriger Produktionszeit erschien 1973 von Gene Deitch ein animierter Kurzfilm des Buchs,[1] der von Krátký Film in Prag für die Weston Woods Studios produziert wurde. Es wurden zwei Versionen veröffentlicht: die Originalversion von 1973, mit dem Sprecher Allen Swift und einer Musique-concrète-Filmmusik von Deitch selbst und einer aktualisierte Version aus dem Jahr 1988 mit neuer Musik und dem Sprecher Peter Schickele.[20]

In den 1980ern arbeitete Sendak mit dem britischen Komponisten Oliver Knussen an einer Kinderoperadaption des Buchs.[8] Die erste (unvollständige) Aufführung war 1980 in Brüssel, während die erste vollständige Aufführung vom Glyndebourne Touring Opera in London vier Jahre später stattfand. 1985 kam es zur ersten US-Vorstellung in Saint Paul (Minnesota) und 1987 in New York City vom New York City Opera. Eine Aufführung lief während der Proms 2002 in der Londoner Royal Albert Hall.[21] Eine Konzertvorstellung lief im Frühjahr 2011 in der New York City Opera.[22]

Das Walt Disney Studio leitete im Jahr 1983 eine Reihe von Tests von Computer Generated Imagery, die von Glen Keane und John Lasseter auf Basis der wilden Kerle angefertigt wurden.[23]

Am 16. Oktober 2009 erschien eine Adaption als Realfilm von Spike Jonze unter dem Titel Wo die wilden Kerle wohnen. Die Hauptrolle übernahm Max Records. Max’ Mutter wird von Catherine Keener gespielt. Zudem liehen die Schauspieler Lauren Ambrose, Chris Cooper, Paul Dano, James Gandolfini, Catherine O’Hara und Forest Whitaker ihre Stimmen den wilden Kerlen. Das Drehbuch wurde von Jonze und dem Schriftsteller Dave Eggers geschrieben. Die Filmmusik stammt von Karen O und Carter Burwell. Sendak fungierte als Produzent. Aus dem Drehbuch entwickelte Eggers den Roman Bei den wilden Kerlen (The Wild Things), welcher im selben Jahr erschien.

Im Jahr 2012 erschien von der britischen Indie-Rock-Band alt-J die Single Breezeblocks, die teilweise von Sendaks Buch inspiriert wurde. Der Keyboarder der Band Gus Unger-Hamilton, sagte in einem Interview, dass das Lied ähnliche Ideen mit dem Buch teilt, wie der Trennung von einer geliebten Person.[24] Breezeblocks erreichte Platz sechs U.K. Independent Charts, Platz neun der Billboard Alternative Songs Charts.

Ein weiteres vom Buch inspirierters Lied ist Alessia Caras Single Wild Things aus dem Jahr 2016. Sie erreichte Platz 50 der Billboard Hot 100 und Platz 76 der deutschen Singlecharts. In einem Interview mit ABC News Radio sagte Cara, dass jeder wilde Kerl eine Emotion repräsentiert und sie das im Lied adaptieren wollte.[25]

Ausgaben (Auswahl) Bearbeiten

Hörbücher Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Commons: Wo die wilden Kerle wohnen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Kenneth Turan: 'Where the Wild Things Are'. The adaptation of Maurice Sendak’s book expands on the boorish Max -- to its detriment. In: Los Angeles Times. tronc, Inc., 16. Oktober 2009, abgerufen am 8. März 2017 (englisch).
  2. Caldecott Medal & Honor Books, 1938-Present. 1964 Medal Winner. In: ala.org. American Library Association, abgerufen am 8. März 2017 (englisch).
  3. a b SLJ's Top 100 Picture Books. (PDF; 3,2 MB) In: School Library Journal. Media Source, 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 23. November 2016; abgerufen am 8. März 2017 (englisch).
  4. a b c Pamela Warrick: Facing the Frightful Things : Books: These days, Maurice Sendak's wild creatures are homelessness, AIDS and violence--big issues for small kids. In: Los Angeles Times. tronc, Inc., 11. Oktober 1993, abgerufen am 10. März 2017 (englisch).
  5. Christopher Shea: The Jewish lineage of "Where the Wild Things Are". In: Boston.com. Boston Globe Media Partners, LLC, 16. Oktober 2009, abgerufen am 10. März 2017 (englisch).
  6. Wild Things: The Art of Maurice Sendak. In: tfaoi.com. Traditional Fine Arts Organization, 26. April 2005, abgerufen am 13. März 2017 (englisch).
  7. a b Emma Brockes: Maurice Sendak: 'I refuse to lie to children'. In: The Guardian. Guardian News & Media Ltd., 2. Oktober 2011, abgerufen am 13. März 2017 (englisch).
  8. a b Maurice Sendak. In: Tom Burns (Hrsg.): Children's Literature Review. Band 131. Gale, Farmington Hills 2008, ISBN 978-0-7876-9606-1, S. 70 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  9. Unheimliche Züge. In: Der Spiegel. Nr. 16, 1970, S. 222 (online13. April 1970).
  10. Robert Capps: Review: Where the Wild Things Are Is Woolly, But Not Wild Enough. In: Wired. Condé Nast Verlag, 16. Oktober 2009, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  11. Francis Spufford: The Child That Books Built: A Life of Reading. Henry Holt and Company, New York 2002, ISBN 0-8050-7215-2, S. 60 (englisch).
  12. Mary Pols: Where the Wild Things Are: Sendak with Sensitivity. In: Time. Time Inc., 14. Oktober 2009, abgerufen am 14. März 2017 (englisch, Paywall).
  13. Manohla Dargis: Where the Wild Things Are: Sendak with Sensitivity. In: The New York Times. The New York Times Company, 15. Oktober 2009, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  14. Peter Dittmar: Weil Max mit leerem Magen ins Bett musste. In: Die Welt. Axel Springer SE, 10. Juni 2008, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  15. a b Christopher Lehmann-Haupt: Books Of The Times. In: The New York Times. The New York Times Company, 1. Juni 1981, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  16. Richard M. Gottlieb: Maurice Sendak’s Trilogy: Disappointment, Fury, and Their Transformation through Art. In: Psychoanalytic Study of the Child. Band 63. Yale University Press, New Haven, London 2008, ISBN 978-0-300-14099-6, S. 186–217, PMID 19449794 (englisch).
  17. Christopher Lehmann-Haupt: Teachers' Top 100 Books for Children. In: nea.org. National Education Association, 2007, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  18. Elizabeth Bird: Top 100 Picture Books #1: Where the Wild Things Are by Maurice Sendak. In: School Library Journal. Media Source, 2. Juli 2012, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  19. Erin Carlson: Maurice Sendak Calls Newt Gingrich an 'Idiot' in 'Colbert Report' Interview (Video). In: The Hollywood Reporter. Prometheus Global Media, 25. Januar 2012, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).}
  20. Johnston Russell: Nashville Scene – 'Bach in Black'. In: The Tennessean. Gannett, Nashville 12. März 2009, S. 46 (englisch).
  21. Emma Bowden: 10 wild facts about Maurice Sendak’s Where The Wild Things Are. In: The Guardian. Guardian News and Media Limited, 29. März 2016, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  22. Daniel J. Wakin: For New York City Opera Season, Bernstein, Strauss and New Works. In: The New York Times. The New York Times Company, 9. März 2010, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  23. Amid Amidi: Early CG Experiments by John Lasseter and Glen Keane. In: Cartoon Brew. Cartoon Brew, LLC, 23. Februar 2011, abgerufen am 14. März 2017 (englisch).
  24. Azaria Podplesky: alt-J Taps Maurice Sendak and a Kate Middleton Look-Alike For "Breezeblocks" Video. In: Seattle Weekly. Sound Publishing Inc., 18. Dezember 2012, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Juli 2017; abgerufen am 28. März 2017 (englisch).
  25. Alessia Cara on "Wild Things": "It's Just Really an Empowering Song". In: abcnewsradioonline.com. ABC News Radio, 26. April 2016, abgerufen am 28. März 2017 (englisch).