Wigners Freund

Erweiterung des Gedankenexperiments aus der Physik „Schrödingers Katze“

Wigners Freund ist eine Erweiterung des Gedankenexperimentes „Schrödingers Katze“ durch Eugene Paul Wigner und bezieht sich auf das Messproblem der Quantenmechanik. Das Beispiel illustriert eine idealistische oder subjektivistische Interpretation der Quantenmechanik bzw. eine Folgespekulation zu einer solchen. Bei dem ursprünglichen „Wigners-Freund“-Gedankenexperiment werden keine Dekohärenz-Effekte berücksichtigt, weshalb die darauf aufbauende Argumentation von Wigner selbst in den 1970er Jahren verworfen wurde und in der ursprünglichen Form in dem heutigen wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs als überholt gilt.[1][2] Es wurden allerdings auch weiterentwickelte Varianten des Gedankenexperiments veröffentlicht.[3][4]

Grundlagen und Gedankenexperiment Bearbeiten

Die Axiome der Quantenmechanik postulieren in gängigen Fassungen, dass sich quantenmechanische Systeme bis zum Zeitpunkt einer Messung (in den allermeisten Fällen) in einem sogenannten Superpositionszustand befinden. Sobald wir messen, „sehen“ wir jedoch keinen unscharfen „überlagerten“ Wert, sondern einen exakten diskreten Zustandswert. Dies zu erklären ist eine der wichtigsten Herausforderungen für Interpretationen der Quantenmechanik, das sogenannte quantenmechanische Messproblem. Verschiedene übliche Behandlungsweisen identifizieren nun den Zeitpunkt der Messung mit dem Zeitpunkt, zu welchem das System aus einem „verschränkten“ Superpositionszustand in einen „reduzierten“ eindeutigen Zustand übergeht.

Eine etwas andere Auffassung soll Wigners Gedankenexperiment veranschaulichen. Angenommen, nicht nur eine Katze, sondern auch ein Beobachter (Wigners Freund) befindet sich in einer Anlage, die per Quantenexperiment den Tod der Katze auslöst oder dies nicht tut.[5] Spätestens, sobald ein externer Beobachter (Wigner) von ihm das Messergebnis erfährt, gibt es eine eindeutige Beschreibung des gemessenen Systemzustands – so viel scheint unstrittig. Unklar ist aber, ob die Reduktion schon zuvor eintrat – nämlich als Wigners Freund sie (bewusst) sah. Würde sich an Stelle von Wigners Freund nämlich ein materielles Gerät befinden, wäre dessen Zustand verschränkt mit jenem der Katze und des (quantenmechanischen) Auslösers vor deren Tod. Ein solches Gerät wäre also selbst Teil eines verschränkten Superpositionszustands. Aus Sicht des zweiten Beobachters findet die Reduktion aber erst später statt. Da beide Beobachter gleichartig sind, ist dies paradox.

Weiterentwicklung des Experiments Bearbeiten

Im Jahr 2020 veröffentlichten Forscher ein experimentelles Modell, welches „Schrödingers Katze“ und „Wigners Freund“ weiterentwickelt. Es zeigt, dass, falls die Quantentheorie auch auf makroskopischeren Ebenen von „Beobachtern“ gültig ist, mindestens eine von drei Schlussfolgerungen zu machen ist, wobei diese allesamt mit dem modernen Verständnis der Realität nur sehr schwer zu vereinbaren sind, und vertiefen damit das Fazit der Bellschen Ungleichung: entweder Absolutheit–Realismus „Absoluteness of Observed Events“ (beobachtete Ereignisse geschehen „tatsächlich“, unrelativ und einmalig), „Lokalität“ (keine instantanen Effekte oder Eigenschaftskorrelationen räumlich getrennter Entitäten), oder Nicht-Superdeterminismus (nicht alles ist seit Anbeginn vorherbestimmt und keine Retrokausalität) sei demnach falsch. In ihrem Gedankenexperiment sind „Beobachter“ (etwa des „Tods“ oder „Überlebens“ eines Equivalents Schrödingers Katze im quantenmechanischen Bereich) keine Menschen, sondern Photonen oder möglicherweise – in der Studie dem menschlichen Beobachter am ähnlichsten – künstliche Intelligenz in einer Simulation eines Quantencomputers.[6][7][4]

Philosophische Diskussion Bearbeiten

Wigner selbst schloss daraus, dass es das nicht materielle Bewusstsein des Beobachters ist, das diesen von der materiellen Welt unterscheidet (vertrat also zumindest einen ontologischen Dualismus: es gibt mindestens noch einen weiteren Typ von Seiendem neben materiellem, wenn nicht einen Idealismus: alles ist immateriell).

Diese Grenze zwischen Materiellem und Immateriellem wäre nach Wigner ebenjene Grenze von Quantenmechanik zu klassischer Mechanik, die man Heisenbergschen Schnitt nennt. Eine solche Grenze wird üblicherweise nicht formuliert, sondern materielle Systeme und „bewusste Beobachter“ werden prinzipiell gleich behandelt. Da aber das Messproblem damit schlicht offengehalten wird und der bewusste Beobachter zumindest die letzte Station zwischen Superposition und Reduktion ist und einige Theoretiker ohnehin dualistische oder idealistische bzw. konstruktivistische Vorstellungen haben, wurde seit von Neumann von einigen Interpreten dem Bewusstsein eine konstitutive Rolle für den Quantenkollaps bzw. überhaupt die Erzeugung von Realität zugewiesen. Ein bekannter Vertreter derartiger Theorien ist beispielsweise Henry Stapp.[8]

Üblichere Ansichten gehen dahin, über Interaktion mit makroskopischen Objekten Reduktion bzw. Dekohärenz zu erklären. Sofern der Begriff „makroskopisch“ physikalisch präzisierbar ist (dies ist kontrovers), scheint damit – wie Kritiker von Theorien des „Kollaps qua Bewusstsein“ einwenden – vermieden, dass außerphysikalische Komponenten in die Quantenmechanik importiert werden. Zudem sei, so viele Kritiker, der physikalisch nicht präzisierbare Begriff „Bewusstsein“ notorisch unklar, beispielsweise hinsichtlich der Kriterien dafür, wann Bewusstsein vorliegt.

Das geschilderte Paradox ließe sich offenbar auch schlicht vermeiden, wenn die These aufgegeben wird, dass die Reduktion des Systemzustands erst zum Mitteilungszeitpunkt stattfindet. Dies soll aber in bestimmten idealistischen Interpretationen gerade nicht geschehen. Stattdessen werden alternative Ontologien und Epistemologien vorgeschlagen, um das Beispiel zu analysieren und an ihm eine idealistische Theorie zu illustrieren.

Ein extremes Beispiel ist der konstruktivistische Systemtheoretiker John L. Casti. Für den zweiten Beobachter gehöre der erste Beobachter genau wie die Katze mit zum System der Wellenfunktion.[9] Für Wigner gehört die gesamte Welt dazu. Dadurch wird hier dem Bewusstsein die entscheidende Rolle bei der Reduktion der Wellenfunktion zugewiesen. Umgekehrt sind „die Dinge der Welt »dort draußen« nicht viel mehr als nützliche Konstruktionen“. Eine reale Welt unabhängig vom Bewusstsein existiere überhaupt nicht. Spekulationen wie diejenige Castis haben bisher wenig Anhänger unter Experten der Philosophie der Physik gefunden. Sie haben aber Ähnlichkeiten zu sonstigen Stellungnahmen von konstruktivistischen Theoretikern zur Philosophie der Quantenmechanik.

Wigners Interpretation und konstruktivistischen Auffassungen am nächsten kommt vielleicht die Klasse der relativistischen Interpretationen.[10] Danach ist die Beschreibung eines Systemzustands relativ auf das beschreibende System, analog dazu, dass Raum- und Zeitbegriffe relativ auf die Bewegung (und Gravitation) des beschreibenden Systems sind (eine Analogiebildung zur Relativitätstheorie). Unklar ist, wie genau diese Analogie auszuarbeiten ist. Objektivität tritt, so eine Variante dieser Theorien (die etwa Rovelli vertritt) erst dann ein, wenn beschreibende Systeme interagieren.

Unter den verschiedenen realistischen Interpretationen der Quantenmechanik verdient Everetts Viele-Welten-Interpretation Erwähnung. Die unterschiedlichen Systemzustände sind demnach nicht in dieser Welt überlagert realisiert, sondern auf unterschiedliche Welten verteilt. Sobald wir messen, erfahren wir, welche davon unsere Welt ist. Eines der Probleme dieser Interpretation ist die Erklärung der Wahrscheinlichkeitsbelegung für zu erwartende Messergebnisse.[11] Dieses Problem scheint auch Wigners Interpretation zu haben.

Eine komplizierte Mischform sind die many minds Theorien. Diesen zufolge sind die unterschiedlichen Systemzustände auf unterschiedliche Bewusstseine (ein und desselben Menschen) verteilt. Diese Theorien tragen eher realistische Züge, aber haben teilweise Gemeinsamkeiten mit der Theorieskizze Wigners, „Kollaps qua Bewusstsein“ und einigen relativistischen Theorien.

Wigners Szenario scheint eher zu nicht-realistischen Antworten einzuladen. Aus der Klasse von Interpretationen allgemein nicht-realistischen Typs ist die gut ausgearbeitete Auffassung van Fraassens erwähnenswert, die sich weniger auf den Sonderstatus von Bewusstsein als auf allgemeinere nichtrealistische wissenschaftstheoretische Grundlagen stützt.

Belletristik Bearbeiten

  • In Stephen Baxters Science-Fiction-Buch Timelike Infinity (dt. Das Geflecht der Unendlichkeit) gibt es eine Sekte, die sich „Freunde Wigners“ nennt und mit ihrer Deutung des beschriebenen Paradoxons zerstörerische Taten rechtfertigt.

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. „In fact, Wigner later abandoned his views on the special role of consciousness in quantum measurement once he became aware of Zeh's paper of 1970.“ Zitat aus M. Schlosshauer: Decoherence and the Quantum-to-Classical Transition. Springer, 2007, ISBN 978-3-540-35773-5, S. 365.
  2. Today, Wigner's conjecture about the role of the mind in the quantum measurement process is no longer part of physics, but rather part of the history of physics. aus: O. Freire: Orthodoxy and Heterodoxy in the Research on the Foundations of Quantum Physics: E. P. Wigner's Case. In: B. de Sousa Santos (Hrsg.): Cognitive justice in a global world: prudent knowledges for a decent life. Lexington Books, 2007, S. 221. arxiv:physics/0602028.
  3. Massimiliano Proietti, Alexander Pickston, Francesco Graffitti, Peter Barrow, Dmytro Kundys, Cyril Branciard, Martin Ringbauer, Alessandro Fedrizzi: Experimental test of local observer independence. In: Science Advances. 5. Jahrgang, Nr. 9, 20. September 2019, ISSN 2375-2548, S. eaaw9832, doi:10.1126/sciadv.aaw9832, PMID 31555731, PMC 6754223 (freier Volltext), arxiv:1902.05080, bibcode:2019SciA....5.9832P (englisch).
  4. a b Kok-Wei Bong, et al.: A strong no-go theorem on the Wigner's friend paradox. In: Nature Physics. 27. Jahrgang, 17. August 2020, doi:10.1038/s41567-020-0990-x (nature.com [abgerufen am 17. August 2020]).
  5. Wie Wigner selbst das Experiment schildert, geht es um ein Photon, das auf das Auge von Wigners Freund trifft. Weil das eine Verkomplizierung von Schrödingers Katze darstellt und es mit ihr aber illustrativer wird, wird Letztere oft mit in das Labor von Wigners Freund gesteckt.
  6. Zeeya Merali: This Twist on Schrödinger's Cat Paradox Has Major Implications for Quantum Theory – A laboratory demonstration of the classic „Wigner's friend“ thought experiment could overturn cherished assumptions about reality In: Scientific American, 17. August 2020 
  7. George Musser: Quantum paradox points to shaky foundations of reality In: Science, 17. August 2020 
  8. Auch Walter Heitler, Fritz London, Fred Alan Wolf, William A. Tiller, John Hagelin, Stuart Hameroff, Bernard Baars, Amit Goswami, Russell Targ, Nick Herbert, Jeffrey M. Schwartz, Menas Kafatos, Keith Ward und andere haben derartige Auffassungen vertreten. Vgl. auch die Linkauswahl in der englischen Wikipedia.
  9. John L. Casti: Verlust der Wahrheit, -Streitfragen der Naturwissenschaften-, München 1990, S. 549.
  10. Vgl. etwa Merriam; einen Überblick geben Rovelli und Laudisa; vgl. auch die dortige Literatur.
  11. Vgl. u. a. H. Putnam: A Philosopher looks at quantum mechanics.

Literatur Bearbeiten

  • David Z Albert, Hilary Putnam: Further adventures of Wigner's friend. In: Topoi. 14, 1995, S. 17–22.
  • J. Barrett: The Quantum Mechanics of Minds and Worlds. Oxford UP, 2001, ISBN 0-19-924743-9, S. 227–232.
  • D. Mayr: Comment on Putnam's 'Quantum mechanics and the observer’. In: Erkenntnis. 16, 1981.
  • Paul Merriam,: On the Relativity of Quantum Superpositions. (Memento vom 7. August 2008 im Internet Archive) 1997.
  • Paul Merriam: Quantum Relativity: Physical Laws Must be Invariant Over Quantum Systems. In: Physics Essays. 2005. arxiv:quant-ph/0506228
  • Hilary Putnam: Quantum Mechanics and the Observer. In: Erkenntnis. 16, 1981, S. 193–219. (Wiederabdruck in: Realism and Reason. (= Philosophical Papers. Volume 3). Cambridge University Press, Cambridge 1983, S. 248–270)
  • Hilary Putnam: A Philosopher Looks at Quantum Mechanics. In: Robert G. Colodny (Hrsg.): Beyond the Edge of Certainty: Essays in Contemporary Science and Philosophy. Prentice-Hall, Englewood Cliffs, N.J. 1965, S. 75–101. (Wiederabdruck in Hilary Putnam: Mathematics, Matter and Method. Cambridge University Press, Cambridge, Mass. 1975, S. 130–158)
  • C. Rovelli, F Laudisa: Relational Quantum Mechanics Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und weder Parameter 2 noch Parameter 3 2005.
  • H.-J. Treder: Schrödingers Katze und Wigners Freund (zur Beweglichkeit des Heisenbergschen Schnittes). In: Annalen der Physik. vol. 500, Issue 3, 1988, S. 255–256.
  • B. van Fraassen: The Charybdis of Realism: Epistemological Implications of Bell's Inequality. In: Synthese. 52, 1982, S. 25–38.
  • E. P. Wigner: Remarks on the Mind-Body Question. In: I. J. Good (Hrsg.): The Scientist Speculates. 1961, S. 284–302. (Wiederabdruck in: E. P. Wigner: Symmetries and Reflections. Bloomington, Indiana 1967)