Tschernyschewskoje

ehemals Eydtkuhnen oder Eydtkau in Ostpreußen

Tschernyschewskoje (russisch Чернышевское, wissenschaftliche Transliteration: Černyševskoje; deutsch Eydtkuhnen bzw. 1938–1945 Eydtkau, litauisch Eitkūnai) ist ein Ort in der Oblast Kaliningrad, Russland, an der Grenze zu Litauen. Er gehört zur kommunalen Selbstverwaltungseinheit Munizipalkreis Nesterow im Rajon Nesterow.

Siedlung
Tschernyschewskoje
Eydtkuhnen (Eydtkau)

Чернышевское
Wappen
Wappen
Föderationskreis Nordwestrussland
Oblast Kaliningrad
Rajon Nesterow
Erste Erwähnung 1525
Bevölkerung 819 Einwohner
(Stand: 1. Okt. 2021)[1]
Zeitzone UTC+2
Kfz-Kennzeichen 39, 91
OKATO 27 224 000 048
Geographische Lage
Koordinaten 54° 38′ N, 22° 44′ OKoordinaten: 54° 38′ 16″ N, 22° 43′ 52″ O
Tschernyschewskoje (Europäisches Russland)
Tschernyschewskoje (Europäisches Russland)
Lage im Westteil Russlands
Tschernyschewskoje (Oblast Kaliningrad)
Tschernyschewskoje (Oblast Kaliningrad)
Lage in der Oblast Kaliningrad

Lage Bearbeiten

Tschernyschewskoje liegt im äußersten Osten der Oblast Kaliningrad an der Grenze zu Litauen. Durch den Ort führt die A229 (Russland) (ehemalige deutsche Reichsstraße 1, heute auch Europastraße 28), die hier in die litauische Magistralinis kelias A7 übergeht. Das damalige Eydtkuhnen war bis 1945 Endbahnhof der Preußischen Ostbahn. In Preußen und im Deutschen Reich waren Schirwindt und Eydtkuhnen die östlichsten Städte.

Geschichte Bearbeiten

Preußen Bearbeiten

Die Anfänge des Ortes Eydtkuhnen gehen ins 16. Jahrhundert zurück. Der Ort geht auf den Einzelhof Eittkau zurück, der im Jahre 1557 belegt ist.[2] Einen Aufschwung erlebte der damals von nur 125 Einwohnern[3] besiedelte Ort, als 1860 die Preußische Ostbahn bis hierher ausgebaut war und Eydtkuhnen zum wichtigsten Grenzbahnhof Preußens an der Ostgrenze wurde.[4]

Die Normalspur der Ostbahn stieß in Eydtkuhnen auf die russische Breitspurbahn, so dass wegen der unterschiedlichen Spurweiten keine durchgängige Zugverbindung möglich war. So fuhren Züge aus Sankt Petersburg und Leningrad bis Eydtkuhnen, wo die Fahrgäste am selben Bahnsteig in einen preußischen Zug mit Normalspur umstiegen. In der Gegenrichtung geschah das dagegen im zwei Kilometer entfernten, ebenfalls als Spurwechselbahnhof ausgebauten russischen bzw. litauischen Bahnhof Wirballen, heute Kybartai in Litauen.

Bis 1875 erhöhte sich die Anzahl der Einwohner auf 3253[3] und bereits vor 1894 bestand hier eine Eisenbahnwerkstatt. Ab 1896 fungierte Eydtkuhnen auch als Umsteigebahnhof für den LuxuszugNord-Express“, der die Route Sankt PetersburgParis befuhr. Der Bahnhof wurde nach Plänen von Friedrich August Stüler gebaut.[3]

1905 vermeldete Meyers Großes Konversationslexikon zu diesem Ort:

„Flecken im Regierungsbezirk Gumbinnen, Kreis Stallupönen, Knotenpunkt der preußischen Staatsbahnlinie Königsberg – Eydtkuhnen und der russischen Staatsbahnlinie Landwarow – Eydtkuhnen (Grenzstation Wirballen), hat eine evangelische Kirche, Synagoge, Hauptzollamt und Nebenzollamt I, lebhaften Speditionshandel, besonders in russischen Pferden, Gänsen, Getreide und (1900) 3707 meist evangelische Bewohner“

Meyers 1905[5]
 
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs zerstörte Brauerei in Eydtkuhnen

Im Ersten Weltkrieg wurde Eydtkuhnen von der russischen Armee zerstört. Nach dem Wiederaufbau (mit Hilfe der Patenstadt Wiesbaden)[6] bekam der Ort im Jahr 1922 die Stadtrechte und es begann in der Zwischenkriegszeit eine erneute, kurze Blütezeit mit einer Zunahme der Einwohnerzahl auf 10.500 (1923).[3] Eydtkuhnen wurde erneut zum wichtigsten Grenzübergang zwischen dem Reich und den baltischen Staaten. Durch die Umstellung des litauischen Eisenbahnnetzes auf Normalspur waren Eydtkuhnen und der benachbarte Bahnhof Virbalis keine Spurwechselbahnhöfe mehr. Der Nord-Express fuhr allerdings nicht mehr über Eydtkuhnen. Es verblieben lediglich direkte Schlafwagen von Paris nach Riga im D 1 (Berlin–Eydtkuhnen). 1935 war auch die von Aachen kommende Reichsstraße 1 bis zu diesem Ort herangeführt.

Der Aufschwung endete abrupt mit dem Zweiten Weltkrieg, wobei Eydtkuhnen bei der Eroberung durch die Rote Armee abermals zerstört wurde. Die überwiegend deutsche Bevölkerung des Ortes floh bei Kriegsende oder wurde nach der Besetzung durch die Rote Armee vertrieben.

Sowjetunion / Russland Bearbeiten

 
Zerschossenes Bahnhofsschild

Im Jahr 1947 in Tschernyschewskoje (nach dem russischen Revolutionär Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski[7]) umbenannt,[8] wurde die Ortschaft Teil der RSFSR, seit 1991 der Russischen Föderation. Gleichzeitig wurde der Ort Verwaltungssitz eines Dorfsowjets und hatte damit seine Stadtrechte verloren. Im Ort wurde ein Gefängnis eingerichtet. Der Bahnhof wurde demontiert, da er nach 1945 nicht mehr als Grenzbahnhof benötigt wurde und der nächste Bahnhof Kybartai sehr nah lag.

Seit 2007 befindet sich in Tschernyschewskoje ein wichtiger Straßengrenzübergang zwischen der Oblast Kaliningrad und Litauen. Ein großer Teil des Ortes ist heute von einer Mauer umgeben und wurde lange zum Teil als Kaserne, zum Teil auch als Gefängnis genutzt. Die russische Eisenbahn verwirklichte nach der Jahrtausendwende den Wiederaufbau des Grenzbahnhofs,[9] da die Kapazitäten im Bahnhof Nesterow nicht ausreichten.

Dorfsowjet/Dorfbezirk Tschernyschewskoje 1947–1960 und 1967–2008 Bearbeiten

Der Dorfsowjet Tschernyschewskoje (ru. Чернышевский сельский Совет) wurde im Juli 1947 eingerichtet.[8] Er war von 1960 bis 1967 aufgelöst und vermutlich an den Dorfsowjet Prigorodnoje angeschlossen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bestand die Verwaltungseinheit als Dorfbezirk Tschernyschewskoje (ru. Чернышевский сельский округ). Von 2008 bis 2018 gehörte Tschernyschewskoje zur Landgemeinde Prigorodnoje, von 2019 bis 2021 zum Stadtkreis Nesterow und seither zum Munizipalkreis Nesterow.

Ortsname Name bis 1947 Bemerkungen
Berjosowka (Берёзовка) Romeyken, 1938–1945: „Romeiken“ Der Ort wurde 1947 umbenannt und vermutlich vor 1967 verlassen.
Detskoje (Детское) Kinderweitschen, 1938–1945: „Kinderhausen“ Der Ort wurde 1947 umbenannt.
Swobodnoje (Свободное) Mecken Der Ort wurde 1947 umbenannt und vermutlich vor 1967 verlassen.
Trawino (Травино) Schleuwen Der Ort wurde 1947 umbenannt und vermutlich vor 1967 verlassen.
Tschernyschewskoje (Чернышевское) Eydtkuhnen, 1938–1945: „Eydtkau“ Verwaltungssitz

Wappen Bearbeiten

Blasonierung: „Im von Silber und Grün geteilten Felde oben eine eigentümlich gestaltete, aus dem unteren Teile in den oberen aufwachsende rote Burg mit der aufgehenden goldenen Sonne im Torbogen, unten ein silbern geflügeltes, eisenfarbiges Eisenbahnrad.“[10]

Der durch den Grenzhandel in wenigen Jahrzehnten aufgeblühte Ort wurde am 19. Juli 1922 zur Stadt erhoben und erhielt am 15. Januar 1924 vom Ministerium dieses heraldisch nicht vorbildliche Wappen genehmigt.[11]

Kirche Bearbeiten

Kirchengebäude Bearbeiten

 
Kirche Eydtkuhnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
 
Kirchenruine (2009)

Die neuromanische Kirche mit kreuzförmigem Grundriss wurde nach den Plänen von Friedrich Adler gebaut und 1889 eingeweiht. Heute existieren nur noch Ruinen mit den zwei Turmunterbauten ohne die früheren Spitzdächer. Das Erdgeschoss ist zugemauert, das Dachgeschoss des Kirchenschiffs ist verschwunden.[12]

Die Kirche wurde nach 1945 lange Zeit vom Militär als Lager benutzt; heute ist das ungenutzte Gebäude eine Ruine. Das Pfarrhaus ist zugemauert.

Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Bearbeiten

Bis 1945 war das – von einer überwiegend evangelischen Bevölkerung bewohnte – Eydtkuhnen/Eydtkau ein Kirchspielort im Kirchenkreis Stallupönen (1938–1946 Ebenrode, russisch: Nesterow) in der Kirchenprovinz Ostpreußen der Kirche der Altpreußischen Union. Erst im Jahre 1883 war Eydtkuhnen ein selbstständiges Kirchspiel geworden, nachdem es von dem Kirchort Bilderweitschen (1938–1946 Bilderweiten, russisch: Lugowoje) abgetrennt worden war.

Nach 1945 kam das kirchliche Leben in dem Ort zum Erliegen. Heute hat sich im acht Kilometer nordwestlich gelegenen Nachbarort Babuschkino (Groß Degesen) eine neue evangelische Gemeinde gebildet, die zur Propstei Kaliningrad der Evangelisch-Lutherischen Kirche Europäisches Russland (ELKER) gehört. Das zuständige Pfarramt ist das der Salzburger Kirche in Gussew (Gumbinnen).[13]

Söhne und Töchter des Ortes Bearbeiten

Siehe auch Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Commons: Tschernyschewskoje – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Таблица 1.10 «Численность населения городских округов, муниципальных районов, муниципальных округов, городских и сельских поселений, городских населенных пунктов, сельских населенных пунктов» Программы итогов Всероссийской переписи населения 2020 года, утвержденной приказом Росстата от 28 декабря 2021г. № 963, с данными о численности постоянного населения каждого населенного пункта Калининградской области. (Tabelle 1.10 „Bevölkerungsanzahl der Stadtkreise, munizipalen Rajons, Munizipalkreise, städtischen und ländlichen Siedlungen [insgesamt], städtischen Orte, ländlichen Orte“ der Ergebnisse der Allrussischen Volkszählung von 2020 [vollzogen am 1. Oktober 2021], genehmigt durch die Verordnung von Rosstat vom 28. Dezember 2021, Nr. 963, mit Angaben zur Zahl der Wohnbevölkerung jedes Ortes der Oblast Kaliningrad.)
  2. Emil Johannes Guttzeit: Ostpreußen in 1440 Bildern: geschichtliche Darstellungen. Rautenberg, 1973, S. XLIII.
  3. a b c d Webseite zu Ostpreußen
  4. Friedrich Benecke: Die Königsberger Börse. G. Fischer, Jena 1925, S. 20.
  5. Meyers Lexikon von 1905
  6. Strunz: Kaliningrad-Königsberg, Trescher-Verlag, Berlin, 2022
  7. Vgl. Jan Musekamp: Big History and Local Experiences: Migration and Identity in a European Borderland, in: Tabea Linhard, Timothy H. Parsons (Hrsg.), Mapping Migration, Identity, and Space, Basingstoke 2019, S. 55–84, hier S. 56.
  8. a b Durch den Указ Президиума Верховного Совета РСФСР от 25 июля 1947 г. «Об административно-территориальном устройстве Калининградской области» (Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR vom 25. Juli 1947: Über den administrativ-territorialen Aufbau der Oblast Kaliningrad)
  9. Russische Webseite zum Wiederaufbau (Memento vom 28. Juli 2008 im Internet Archive)
  10. Erich Keyser: Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte, Bd. 1: Nordostdeutschland. Die Städte in der Provinz Ostpreußen und im Gebiet der Freien Stadt Danzig. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1939, S. 47/48.
  11. Prof. Otto Hupp: Deutsche Ortswappen. Kaffee-Handels-Aktiengesellschaft, Bremen 1925.
  12. Website Ostpreußen
  13. Propstei Kaliningrad (Memento vom 20. Februar 2017 im Internet Archive)