Tsai Ing-wen

Präsidentin von Taiwan und ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei

Tsai Ing-wen (chinesisch 蔡英文, Pinyin Cài Yīngwén, Hakka Chhai Yîn-vùn, Pe̍h-ōe-jī Chhoà Eng-bûn; * 31. August 1956 im Bezirk Zhongshan der Stadt Taipeh, Taiwan) ist seit Mai 2016 Präsidentin der Republik China (Taiwan). Sie war mehrfach mit Unterbrechungen – von 2008 bis 2012, von Mai 2016 bis November 2018 sowie von 2020 bis November 2022 – Vorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP).

Tsai Ing-wen

Leben und Karriere Bearbeiten

Berufliche und politische Laufbahn Bearbeiten

Tsai Ing-wen wurde 1956 in Zhongshan (Taipeh) geboren. Ihre Familie stammt aus der Gemeinde Fangshan im Landkreis Pingtung und gehört der Volksgruppe der Hakka an. Eine Großmutter entstammte der indigen-taiwanischen Ethnie der Paiwan.[1] Nach Absolvierung ihres Studiums an der Jura-Fakultät der Nationaluniversität Taiwan (1978) erwarb Tsai ihren Master-Abschluss in den USA an der Cornell University (1980) und promovierte schließlich an der London School of Economics and Political Science (1984). Nach ihrer Rückkehr nach Taiwan lehrte sie Rechtswissenschaften an der Soochow-Universität und der Chengchi-Nationaluniversität.

Ab 1993 war sie als Beraterin des damaligen Präsidenten Lee Teng-hui (Kuomintang) tätig und unter anderem an der Formulierung der „Zwischenstaatliche-Beziehungen-Doktrin“ Lees beteiligt. Nach der Regierungsübernahme durch die DPP im Jahr 2000 wurde Tsai vom neuen Präsidenten Chen Shui-bian als parteilose Ministerin für den Bereich Festlandangelegenheiten ins Kabinett berufen. 2004 trat sie der DPP bei und war für kurze Zeit als Abgeordnete im Legislativ-Yuan tätig. Anschließend war sie Vize-Premierministerin unter Premierminister Su Tseng-chang, bis zum kollektiven Rücktritt des Kabinetts im Jahr 2007. Nach der Niederlage ihrer Partei bei der Präsidentenwahl 2008 wurde sie zur neuen Parteivorsitzenden der DPP gewählt. Im November 2010 kandidierte Tsai für das Bürgermeisteramt der Stadt Neu-Taipeh, musste sich jedoch dem Kandidaten der Kuomintang Eric Chu geschlagen geben.

Im April 2011 wurde Tsai Ing-wen von ihrer Partei zur ersten weiblichen Kandidatin für das Präsidentenamt in der Geschichte der Republik China bestimmt. In der folgenden Präsidentenwahl 2012 unterlag sie dem amtierenden Präsidenten Ma Ying-jeou (KMT), worauf sie von ihrem Amt als Parteivorsitzende der DPP zurücktrat. Tsais Nachfolger, der Parteiveteran Su Tseng-chang, sah sich jedoch bald parteiinterner Kritik ausgesetzt, weil er die erhoffte Reform der Partei in den Augen vieler Mitglieder nicht ausreichend vorantrieb. Nach der Sonnenblumen-Bewegung im Frühjahr 2014 kündigte Tsai an, erneut für den Parteivorsitz kandidieren zu wollen. Su Tseng-chang und Hsieh Chang-ting zogen ihre geplante Kandidatur daraufhin zurück. Am 25. Mai 2014 setzte sich Tsai mit über 93 % der Stimmen gegen den einzigen Gegenkandidaten Kuo Tai-lin durch und wurde somit zum zweiten Mal Vorsitzende der DPP. Am 15. April 2015 wurde sie als Kandidatin ihrer Partei für die Präsidentenwahl 2016 nominiert.[2][3]

Sie bewarb sich damit zum zweiten Mal um das Präsidentenamt. Die Wahl fand am 16. Januar 2016 statt, dabei setzte sie sich mit großer Mehrheit gegen ihre Gegenkandidaten Eric Chu (Kuomintang) und James Soong (Qinmindang) durch. Am 20. Mai 2016 trat sie ihr Amt an,[4] sie ist das erste weibliche Staatsoberhaupt des Landes.[5][6] Nachdem die DPP bei den Lokal- und Regionalwahlen schwere Niederlagen erlitten hatte, trat sie im November 2018 als Parteivorsitzende zurück.[7][8] Am 11. Januar 2020 wurde sie mit 57,13 % der Stimmen als Präsidentin wiedergewählt.[9]

Ende November 2022 erlitt Tsais Partei bei den Kommunalwahlen eine schwere Niederlage gegen die Kuomintang unter Chiang Wan-an, der ein Urenkel von Chiang Kai-shek sein soll. Die KMT war bereits bei den vorherigen Kommunalwahlen als stärkste Kraft hervorgegangen und konnte diesmal weitere Zugewinne verbuchen. Unter anderem erreichte sie auch in der Hauptstadt Taipeh die Mehrheit. Tsais DPP konnte nur den Südwesten Taiwans für sich entscheiden. Ihr Parteikollege und Premierminister Su Tseng-chang hatte nach der Wahlniederlage seinen Rückzug angeboten. Tsai lehnte jedoch ab, übernahm die volle Verantwortung und trat vom Vorsitz ihrer Partei zurück.[10]

Privates Bearbeiten

Tsai Ing-wen war nie verheiratet und ist kinderlos. Da sie damit nicht dem traditionellen chinesischen Frauenbild entsprach, versuchten konservative Kreise und auch staatsgelenkte Medien der Volksrepublik China im Wahlkampf 2012 und 2016, Stimmung gegen sie zu machen, und unterstellten ihr, dass sie deswegen „emotional instabil“ sei oder zu Extremen neige.[11][12] Der Ex-DPP-Politiker Shih Ming-teh forderte sie im Vorfeld ihrer Kandidatur im April 2011 öffentlich auf, ihre sexuelle Orientierung offenzulegen, was Tsai ablehnte. Shihs Aufforderung wurde von der großen Mehrheit der taiwanischen Presseorgane als unangemessen kritisiert. Bei der Wahl im Jahr 2016 spielten diese Themen im Wählerbewusstsein kaum mehr eine Rolle.[13][14]

Politische Positionen Bearbeiten

Innenpolitik Bearbeiten

Nach Korruptionsskandalen um den ehemaligen Präsidenten Chen Shui-bian und der deutlichen Wahlniederlage der DPP bei der Präsidentenwahl 2008 gehörte es zu den ersten Aufgaben der neuen Parteivorsitzenden, die DPP aus dem Tief herauszuführen. Nachdem bekannt wurde, dass Chen Shui-bian während seiner Amtszeit Gelder veruntreut hatte, entschuldigte sich Tsai Ing-wen öffentlich und erklärte, dass ihre Partei nicht versuchen werde, etwaige Vergehen Chens zu vertuschen. Darüber hinaus sei es ihr Ziel, korrupte Mitglieder aus der Partei zu entfernen. Zu diesem Zweck wurde eine parteiinterne Untersuchungskommission eingerichtet.[15]

Weitere innenpolitische Schwerpunkte Tsais sind soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der lokalen taiwanischen Identität (臺灣本土化運動, Táiwān běntǔhuà yùndòng – „Taiwanische Lokalisierungsbewegung“, auch „Taiwanische Heimatbewegung“). In energiepolitischen Fragen steht sie der Nutzung von Kernenergie in Taiwan kritisch gegenüber und setzt sich aktiv für die Nicht-Inbetriebnahme des umstrittenen vierten taiwanischen Kernkraftwerks Lungmen, das in der Stadt Neu-Taipeh geplant ist, ein. Anlässlich ihrer zweiten Nominierung als Präsidentschaftskandidatin kündigte sie an, im Fall ihres Wahlsiegs gegen das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich und die Jugendarbeitslosigkeit vorgehen zu wollen.

Außenpolitik Bearbeiten

Im Gegensatz zur Vorgängerregierung lehnt Tsai Ing-wen wie auch ihre Partei den sogenannten Konsens von 1992 ab, was die Volksrepublik China zum Einfrieren der Gespräche mit Taiwan veranlasste.[16] Dennoch beabsichtigt Tsai im „Einklang mit dem Willen des taiwanischen Volkes“, die von der Kuomintang begonnenen Verhandlungen mit der Volksrepublik weiterzuführen. Obwohl sich die DPP unter der Führung von Tsai einerseits von ihrem Programm, die Unabhängigkeit Taiwans auch de jure in der Verfassung der Republik China sowie in der Verwaltungsgliederung der Republik China festzuschreiben, grundsätzlich verabschiedet hat, verfolgt sie anderseits das Ziel, die Autonomie der Inselrepublik möglichst unumkehrbar zu bewahren.[17][18][3]

Tsai Ing-wen betreibt nach eigenen Aussagen eine pro-amerikanische Politik. Kurz nach ihrer Wahl stimmte sie den seit 2011 ausgesetzten Waffenlieferungen der USA an Taiwan wieder zu. Nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten am 8. November 2016 sandte Tsai Ing-wen ein Glückwunschtelegramm an den Gewinner Donald Trump. Darin versicherte sie, dass Taiwan ein zuverlässiger Partner der USA bleiben werde, und bezeichnete die USA als wichtigstes demokratisches Land der Welt.[17] Noch vor seiner Amtseinführung revanchierte sich Donald Trump mit einem Telefonat mit Tsai am 3. Dezember 2016 und einer anschließenden Twitter-Meldung, in der Tsai als „Präsidentin von Taiwan“ bezeichnet wurde.[19] Dies stellte einen Bruch der bisherigen US-amerikanischen Diplomatie dar, nach denen seit 1979 kein direkter Kontakt zwischen den Staatsoberhäuptern der Republik China und den Vereinigten Staaten bestand. Gemäß der Resolution 2758 der UN-Generalversammlung wird die Republik China von den Vereinten Nationen seit 1971 als souveräner Staat nicht mehr anerkannt; dem chinesischen Alleinvertretungsanspruch der Volksrepublik China hatten sich die USA kurze Zeit später auf eigene Initiative angeschlossen.[20]

Werke Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Commons: Tsai Ing-wen – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Cindy Sui: Taiwan's first female leader, shy but steely Tsai Ing-wen. In: bbc.com. BBC News, 16. Januar 2018, abgerufen am 9. August 2018 (englisch).
  2. Chris Wang: Tsai Ing-wen elected as DPP chair. In: taipeitimes.com. Taipei Times, 26. Mai 2014, abgerufen am 26. Mai 2023 (englisch).
  3. a b DPP nominates Tsai as 2016 candidate. In: taipeitimes.com. Taipei Times, 16. April 2015, abgerufen am 26. Mai 2023 (englisch).
  4. Klaus Bardenhagen: Taiwans neue Präsidentin vereidigt. In: dw.com. Deutsche Welle, 20. Mai 2016, abgerufen am 26. Mai 2023.
  5. Petra Kolonko: Machtwechsel in Taiwan: Ein Erdrutschsieg und eine Andeutung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). 16. Januar 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 26. Mai 2023]).
  6. Tom Phillips: Taiwan elects first female president. In: theguardian.com. The Guardian, 16. Januar 2016, abgerufen am 16. Januar 2016 (englisch).
  7. Lawrence Chung, Kristin Huang: Democratic Progressive Party suffers big defeat in Taiwan elections; Tsai Ing-wen resigns as chairwoman. In: scmp.com. South China Morning Post, 24. November 2018, abgerufen am 24. November 2018 (englisch).
  8. Patrick Zoll: Taiwans Regierungspartei fährt eine schwere Wahlschlappe ein. In: nzz.ch. Neue Zürcher Zeitung, 24. November 2018, abgerufen am 24. November 2018 (Schweizer Hochdeutsch).
  9. Yang Chun-hui, Shih Hsiao-kuang, Lin Liang-sheng: 2020 Elections: Tsai wins by a landslide. In: taipeitimes.com. Taipei Times, 12. Januar 2020, abgerufen am 12. Januar 2020 (englisch).
  10. Kathrin Erdmann: Taiwans Präsidentin gibt Parteivorsitz ab. In: tagesschau.de. ARD-aktuell, NDR, 27. November 2022, abgerufen am 26. Mai 2023.
  11. Javier C. Hernández, Vanessa Piao: Tsai Ing-wen, Taiwan’s First Female Leader, Is Assailed in China for Being ‘Emotional’. In: nytimes.com. The New York Times, 25. Mai 2016, abgerufen am 9. August 2018 (englisch).
  12. Tom Phillips: Chinese news agency: Taiwan's leader is radical because she is single. In: theguardian.com. The Guardian, 25. Mai 2016, abgerufen am 9. August 2018 (englisch).
  13. Editorial: It comes with the territory, Tsai. In: taipeitimes.com. Taipei Times, 28. Mai 2016, abgerufen am 9. August 2018 (englisch).
  14. Sophie Theneaud: Gender and Stereotypes in the News Coverage of Female Political Candidates: An Analysis of Taiwanese Newspapers' coverage of Tsai Ing-wen’s presidential campaigns in 2012 and 2016. (PDF; 816 kB) In: ecpr.eu. Sun-Yat-Sen-Nationaluniversität Kaohsiung, archiviert vom Original am 10. August 2018; abgerufen am 9. August 2018 (englisch, Konferenzbeitrag zur ECPR Graduate Students Conference in Tartu (Estland) 2016).
  15. Interview With Tsai Ing-wen. Asia Pacific. In: nytimes.com. The New York Times, 5. Januar 2012, abgerufen am 26. Mai 2023 (englisch, Zugang zum Artikel nur mit Bezahlschranke [Paywall]).
  16. Taiwan 'will not bow' to Beijing on sovereignty isseue, says President. In: dw.com. Deutsche Welle, 10. Oktober 2016, abgerufen am 26. Mai 2023 (englisch).
  17. a b Sing-yue Wu (Chefredakteur): Präsidentin Tsai Ing-wen gratuliert Donald Trump. Hrsg.: Tsong-Ming Hsu (= Taipeh Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland, Büro München [Hrsg.]: Taiwan Aktuell. Nr. 652). 15. November 2016, ISSN 0945-618X, S. 1–3 (roc-taiwan.org [PDF; 90 kB; abgerufen am 26. Mai 2023] 25. Jahrgang).
  18. Jürgen Kahl: Machtwechsel in Taiwan. Abschied vom »chinesischen Traum«. Hrsg.: Referat Asien und Pazifik, Friedrich-Ebert-Stiftung (= Perspektive). Berlin Februar 2016, S. 3 f. (fes.de [PDF; 128 kB; abgerufen am 26. Mai 2023]).
  19. Nadia Tsao: Tsai-Trump telephone call scheduled. In: taipeitimes.com. Taipei Times, 3. Dezember 2016, abgerufen am 8. Dezember 2016 (englisch).
  20. Tom Phillips: China asks US to block Taiwan president trip after talk of Donald Trump. In: theguardian.com. The Guardian, 2. Dezember 2016, abgerufen am 8. Dezember 2016 (englisch).