Theresia Winterstein-Seible

deutsche Sinti-Angehörige

Theresia Winterstein-Seible (21. Dezember 1921 in Mannheim1. April 2007 in Frankfurt am Main) war eine deutsche Sängerin und Tänzerin. Die Sintiza wurde im Nationalsozialismus aus „rassischen Gründen“ verfolgt und zwangssterilisiert. Eines ihrer Kinder starb durch NS-Menschenversuche, das zweite erlitt schwere gesundheitliche Schäden. Mehrere ihrer Familienmitglieder wurden zwangssterilisiert oder kamen ins Konzentrationslager.[1][2]

Kindheit und Familie Bearbeiten

Theresia Winterstein kam 1921 in Mannheim zur Welt. Ihre Eltern, Josefine und Johann Winterstein, stellten Korbwaren her, die sie auf Messen und Märkten verkauften. Theresia wurde römisch-katholisch getauft und wuchs mit zwei Brüdern auf, Otto und Kurt.[3] Im Jahr 1939 verweigerten die NS-Behörden Theresias Vater den Gewerbeschein und entzogen ihm damit seine Lebensgrundlage. Auch Theresias Mutter wurde der Gewerbeschein entzogen, weil sie sich gegen die Verschleppung ihres Bruders in ein Konzentrationslager (KZ) gewehrt und über die dortigen Zustände berichtet hatte.[4]

Nach Himmlers „Festsetzungserlass“ am 17. Okt. 1939 musste die Familie Winterstein zwangsweise nach Würzburg umziehen. Theresias Halbbruder Kurt, der aus einer früheren Ehe der Mutter stammte, wurde zum Frankreichfeldzug eingezogen, bevor ihn die Wehrmacht 1942 aus „rassischen Gründen“ hinauswarf.[4]

Berufstätigkeit und Berufsverbot Bearbeiten

Theresia Winterstein trat ab 1937 als Sängerin und Tänzerin am Würzburger Stadttheater auf, so in Georges Bizets Oper „Carmen“ und Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“. Im April 1940 verlängerte das Stadttheater ihren Arbeitsvertrag aus „rassischen“ Gründen nicht mehr. Sie musste sich jedoch für das NS-Freizeitprogramm „Kraft durch Freude“ zur Verfügung halten.

Eine Zeitlang konnte Theresia noch im CC-Varieté in der Würzburger Eichhornstraße auftreten, damals eine der führenden Kleinkunst- und Operettenbühnen. Sie sang Chansons und ergänzte das Tanzballett. Im CC lernte sie den bekannten Sinti-Geiger Gabriel Reinhard kennen, ihren späteren Mann.[5]

Als Theresia nirgendwo mehr auftreten durfte, verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Verkäuferin, Näherin, Bonbonarbeiterin, Packerin und als Platzanweiserin in einem Kino.[6]

Verfolgung, Zwangssterilisierung und Medizinversuche Bearbeiten

Im Nationalsozialismus wurden Sinti und Roma systematisch verfolgt und diskriminiert. Der Porrajmos (deutsch: „das Verschlingen“) bezeichnet den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma in NS-Zeit. Ab 1936 wurden die meisten von ihnen zwangsweise umgesiedelt, zur Sterilisation gezwungen und ins KZ deportiert. Sogenannte „Zigeunermischlinge“ waren unmittelbar vom Genozid bedroht, während „rassereine Zigeuner“ zunächst noch verschont blieben, weil sie als „arischer Herkunft“ galten. Wer einer Sterilisation „freiwillig“ zustimmte, konnte die Deportation ins KZ zeitweilig aufschieben.[7][8]

Nach Kriterien der Rassenhygienischen Forschungsstelle hatten NS-Ärzte Theresia Winterstein als „Zigeunermischling“ klassifiziert. 1941 erzwang die Gestapo Theresias Zustimmung zur Sterilisation.[9][10] In ihrer Verzweiflung wurde sie unerlaubt schwanger und war zum Zeitpunkt der geplanten Sterilisation im dritten Monat. Einer Zwangsabtreibung entging sie nur, weil sie Zwillinge, zudem von einem als „reinrassig“ eingestuften Sinto Gabriel Reinhard erwartete. Doch sie musste unterschreiben, ihre Kinder nach der Geburt der Universitätsklinik Würzburg für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen.[11]

Am 3. März 1943 brachte sie in der Würzburger Universitätsklinik zwei Mädchen zur Welt, Rita und Rolanda. Am folgenden Tag wurde Theresia zwangssterilisiert und dabei Augenzeugin brutaler Zwangsabtreibungen.[12] Erst nach ihrer Niederkunft durfte Theresia Winterstein ihren Partner Gabriel Reinhardt heiraten.[13]

Aus Angst um ihre Kinder verließ Theresia am 9. März 1943 mit den Säuglingen vorzeitig die Klinik. Doch am 6. April entriss ihr die Gestapo die Babys und lieferte sie in die Universitätsklinik Würzburg ein.[14] Als Theresia sich wenige Tage später, am 11. April 1943, mit Gewalt Zutritt zu den Kindern verschaffte, fand sie ihre Tochter Rolanda tot vor, und beide Säuglinge trugen Kopfverbände. Erst viel später erfuhr sie, dass der Direktor des Würzburger Universitätsnervenklinikums, Werner Heyde, an ihnen „Zwillingsexperimente“ vorgenommen hatte, ähnlich wie Josef Mengele in Auschwitz.[15] Unter anderem versuchte Heyde die Augenfarbe der Kinder mit Tinte zu verändern.[16] Ihre überlebende Tochter Rita konnte Theresia erst ein Jahr später, im April 1944, aus der Klinik holen. Infolge der Experimente litt Rita lebenslang an den gesundheitlichen Folgen.[16][17][18]

Im folgenden Jahr wurden auch Theresias Vater und ihr Bruder Kurt zwangssterilisiert.[19] Ihr Bruder Otto wurde im Januar 1944 ins KZ Auschwitz deportiert.[20] Weitere Verwandte der Familie Winterstein wurden deportiert, zwangssterilisiert oder ins KZ verschleppt.[11]

Kampf um Wiedergutmachung Bearbeiten

 
Rita Prigmore, Theresias Wintersteins Tochter

Nach 1945 lebte Theresia Winterstein zunächst mit ihrer überlebenden Tochter Rita und ihren Eltern in Würzburg. Ihr Bruder Otto, der das KZ Auschwitz überlebt hatte, kehrte ebenfalls zur Familie zurück.[21]

Gabriel Reinhard und Theresia trennten sich, als sie erfuhren, dass Gabriels erste Frau das KZ Auschwitz überlebt hatte. 1956 heiratete Theresia den amerikanischen Soldaten Emanuel Seible, der ihre Tochter Rita adoptierte. Zeitweilig lebte Theresia mit ihm und Rita in den USA, kehrte aber immer wieder nach Deutschland zurück.[22]

Die Gesundheit ihrer Tochter war durch die erlittenen medizinischen Experimente schwer geschädigt. Das Kind entwickelte sich verzögert, litt unter Anfällen und musste mit 14 Jahren von der Schule genommen werden. Theresia beantragte eine Entschädigung für Rita, die Ende der 1950er Jahre abgelehnt wurde.[23] Theresia litt ebenfalls unter schweren gesundheitlichen Problemen, weil es bei der Zwangssterilisation Komplikationen gegeben hatte. Sie beantragte eine Wiedergutmachung, die ihr bewilligt wurde.[24]

Rita heiratete 1964 den US-Amerikaner George Prigmore und lebte wie ihre Mutter eine Weile in den USA. Doch die Ehen von Mutter und Tochter hielten den Belastungen nicht stand und zerbrachen. Theresia und Rita kehrten endgültig nach Würzburg zurück. Rita kämpfte nun selbst um eine Entschädigung, die ihr Ende der 1980er Jahre endlich zugesprochen wurde.[25]

Dank Theresias zähem Kampf erhielten auch ihr Vater und ihr Bruder eine Entschädigung für das erlittene Unrecht. Theresia setzte sich außerdem für andere betroffene Sinti und Roma ein, unter anderem als Sachverständige vor Gericht.[26] In späteren Jahren gründete sie einen Verein, der für die Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus kämpfte und sich für eine Wiedergutmachung starkmachte.[27]

Auch Theresias Tochter Rita Prigmore wurde zu einer Aktivistin und trat auf der ganzen Welt als Zeitzeugin auf.[28] 2013 erhielt sie den Würzburger Friedenspreis für ihr Engagement gegen Rassismus, Antiziganismus und ihr Werben für Versöhnung.[11]

Theresia Winterstein-Seible starb am 1. April 2007 im Alter von 85 Jahren in Frankfurt am Main.[29]

Gedenken Bearbeiten

 
Gedenkstätte für Sinti und Roma in Würzburg

Für die von den Nazis Ermordeten aus der Familie Winterstein verlegte die Stadt Würzburg mehrere Stolpersteine: für Theresias Onkel Franz Winterstein (1909–1942), für ihre Cousine Anneliese Winterstein (1924–1944) und deren kleine Söhne Karl-Heinz (1940–1944) und Waldemar (1943–1944).[30] Auf dem Gedenkstein für Theresias kleine Tochter Rolanda steht: „Geboren am 03.03.1943 in Würzburg — ermordet am 11.4.1943 in der Universitäts-Klinik Würzburg“.[11]

Die Würzburger Universitätskliniken errichteten 2014 auf ihrem Gelände eine Steinstele für die Menschen, die während der NS-Zeit Opfer medizinischer Verbrechen an der Klinik wurden. Etwa 1000 Frauen waren allein von den Zwangssterilisationen betroffen, daher erinnert die Inschrift auch an „Zwangssterilisation 1934-1945“.[31]

Der Würzburger Stadtrat ehrte Theresia Winterstein im Jahr 2022, indem er die Hermann Karl Josef Zilcher-Straße, deren Namensgeber wegen seiner NS-Vergangenheit kritisiert wurde, umbenannte in Theresia-Winterstein-Straße.[32][33]

Literatur Bearbeiten

  • Roland Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. Theresia Winterstein und die Verfolgung einer Würzburger Sinti-Familie im „Dritten Reich“. In: Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg. Band 14. Verlag Ferdinand Schöningh, Würzburg 2008, ISBN 978-3-87717-796-9.
  • Kaupen-Haas, Heidrun / Bock, Gisela: Theresia Seible: „Sintezza und Zigeunerin“. In: Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus (Hrsg.): . Band 2. Greno, Nördlingen 1987, ISBN 978-3-596-13094-8
  • KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Hamburg 2012, ISBN 978-3-8378-4039-1
  • Ristow, Nicole: Theresia Winterstein. In: Claudia M. Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer (Hg.): Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit. Universität Hamburg 2017.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008.
  2. Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM). Universität Hamburg, abgerufen am 7. August 2022.
  3. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 36–37.
  4. a b Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. S. 53–55.
  5. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 69.
  6. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 78.
  7. Bundeszentrale für politische Bildung: NS-Verfolgung von "Zigeunern" und "Wiedergutmachung" nach 1945. Abgerufen am 10. August 2022.
  8. NS-Regime - Ausgrenzung und Verfolgung. In: LeMO. Stiftung Deutsches Historisches Museum, abgerufen am 7. August 2022.
  9. Heidrun Kaupen-Haas, Gisela Bock: Theresia Seible: „Sintezza und Zigeunerin“. In: Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus (Hrsg.): Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Band 2. Greno, Nördlingen 1987, S. 302–316.
  10. Theresia Seibel – The Holocaust Explained: Designed for schools. Abgerufen am 7. August 2022 (britisches Englisch).
  11. a b c d Stolpersteine Würzburg: Opfer: Rolanda Winterstein. In: Stolpersteine Würzburg. Abgerufen am 9. August 2022.
  12. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 110, 117–118 und 120.
  13. Theresia Seible: Aber ich wollte vorher noch ein Kind. In: Courage. Jg. 6, Nr. 5, Mai 1981, S. 21–24.
  14. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 119.
  15. Barbara Nolte: Mengeles Zwillinge. In: Der Tagesspiegel Online. 18. Januar 2017, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 13. August 2022]).
  16. a b Rita Prigmore. In: European Holocaust Memorial Day for Sinti und Roma. 1. August 2020, abgerufen am 10. August 2022.
  17. Birgit Seemann: Tribüne - Zeitschrift zum Verständnis des Judentums Heft 192. In: Förderverein Roma. 2009, abgerufen am 8. August 2022.
  18. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 91 f.
  19. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 119.
  20. Memorial Book: Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (The Gypsies at Auschwitz-Birkenau). Hrsg.: Staatl. Museum Auschwitz-Birkenau in Zus.arb. mit dem Dokumentations- u. Kulturzentrum Dtsch. Sinti u. Roma, Heidelberg. Band 2. De Gruyter Saur, 1993, S. 268.
  21. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 121.
  22. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 160.
  23. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 162.
  24. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 171.
  25. Flade: Dieselben Augen, dieselbe Seele. 2008, S. 179–180 und 198.
  26. 2. August 2020: Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. In: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. 31. Juli 2020, abgerufen am 9. August 2022.
  27. Bayerischer Rundfunk: Lebenslinien - Sinteza Rita Prigmore überlebt medizinische Versuche der Nazis: Die unheilvolle Narbe. 20. Januar 2022 (br.de [abgerufen am 10. August 2022]).
  28. Bayerischer Rundfunk: "alpha-thema: Sinti und Roma" : Neue Doku "Zeugin der Zeit: Rita Prigmore". 30. März 2021 (br.de [abgerufen am 10. August 2022]).
  29. Würde und Durchsetzungskraft. In: Main-Post. 3. April 2007, abgerufen am 9. August 2022.
  30. Opfer-Abfrage: Winterstein: Stolpersteine Würzburg. Abgerufen am 9. August 2022.
  31. Universitätsklinikum Würzburg: Ein Stachel im Fleisch der Würzburger Universitätsmedizin: Gedenkstele für die Opfer von NS-Verbrechen. Abgerufen am 13. August 2022.
  32. Stadt Wuerzburg: Rathaus | Presse - Aktuelle Pressemitteilungen. Abgerufen am 24. März 2024.
  33. Olaf Przybilla: Sollte ein Dirigent mit NS-Vergangenheit weiter mit Straßennamen geehrt werden? 3. Januar 2024, abgerufen am 24. März 2024.