Tacuinum sanitatis

Name mehrerer mittelalterlicher Bilderkodizes in Wien, Paris, Rom und Lüttich

Tacuinum sanitatis (in medicina) ist der Name mehrerer mittelalterlicher Bilderkodizes (Tacuina sanitatis) in Wien, Paris, Rom und Lüttich, die ein Gesundheitsregimen (Regimen sanitatis) in Form eines synoptischen Tabellenwerkes darstellen. Ihre Grundlage ist das Werk Taqwim as-sihha / تقويم الصحة / taqwīm aṣ-ṣiḥḥa aus dem 11. Jahrhundert des nestorianischen Arztes Ibn Butlan. Taqwim as-sihha (ins Lateinische als Tacuinum sanitatis übernommen) bedeutet „tabellarische Übersicht der Gesundheit“, da die Seiten im arabischen Original in regelmäßige Felder aufgeteilt sind. Da dies an ein Schachbrett erinnert, erhielt die erste deutsche Ausgabe den Titel Schachtafelen der Gesuntheyt.[1][2][3]

Ibn Butlan (links) und zwei seiner Schüler (Wiener Tacuinum fol. 4)
Landmann bei der Melonenernte (Wiener Tacuinum fol. 21)
Alter Käse. Sog. Pariser Tacuinum, vielleicht Südwestdeutschland zwischen 1434 und 1450 (Paris BNF, Ms. Latin 9333, fol. 58v)

Ibn Butlan stellt in diesem Gesundheitsregeln vermittelnden Regimen den Objekten der sex res non naturales tabellarisch ihre Eigenschaften gegenüber, woraus sich ein übersichtliches Nachschlagewerk für Fragen einer gesunden Lebensführung ergibt.[4]

Ausgaben und Inhalte Bearbeiten

König Manfred von Sizilien (1258–1266) gab in Palermo eine lateinische Übersetzung des Taqwim as-sihha aus dem Arabischen in Auftrag. Ab 1380 illustrierte Giovannino de’ Grassi in Norditalien eine gekürzte Fassung. Die 169 Bilder sind Federzeichnungen, von denen einige teilweise oder ganz aquarelliert sind. Im Vergleich zu diesen elegant und gekonnt ausgeführten Zeichnungen erscheinen die anderen Versionen von Ende des 14. Jahrhunderts deutlich derber. Aufbewahrungsort ist die Universitätsbibliothek Lüttich.[5]

Das Wiener Tacuinum (Hs. 2644) entstand Ende des 14. Jahrhunderts in der Lombardei, vielleicht in Verona.[6] In der Vergangenheit wurde fälschlicherweise vermutet, dass der Codex im Besitz der Veroneser Familie Cerruti war. Historisch dokumentiert ist, dass das Manuskript bis 1407 im Besitz des Trentiner Fürstbischofs Georg von Liechtenstein war.[7] Es befand sich unter den Besitztümern, die Herzog Friedrich IV. von Österreich nach der Vertreibung des Bischofs 1407 konfiszierte und fortschaffte.[8] Unter den späteren Besitzern war Graf Ludwig I. von Württemberg-Urach. Diese Ausgabe wird, mit zwei weiteren aus dem 15. Jahrhundert, heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt und ist bekannt als Hausbuch der Cerruti.

In weiterer Folge entstanden Parallelhandschriften, die auf die sog. Wiener Ausgabe zurückgehen, etwa das sogenannte Pariser Tacuinum sanitatis, welches zwischen 1434 und 1450 wohl in Südwestdeutschland für Graf Ludwig I. von Württemberg-Urach entstand und sich heute in der Bibliothèque nationale de France befindet.[9][10]

Einige Illustrationen der Tacuina-sanitatis-Tradition stammen aus dem Codex Palatinus 586, einer Version des Circa instans, andere finden sich im Codex Casanatensis 459, einer daraus abgeleiteten Circa-instans-Version wieder.[11]

Die Handschriften wenden sich weniger an ein Fachpublikum, sondern sind als Hausbücher für das gehobene Bürgertum und den Adel[12] gedacht. Ihr Inhalt basiert auf der antiken und mittelalterlichen Humoralpathologie und erläutert, welche Nahrungsmittel, Gegebenheiten der menschlichen Umwelt und Gemütszustände (Zorn, Freude etc.) die Stoicheia „trocken“, „feucht“, „kalt“ und „warm“ aufweisen und für welche Personengruppen und in welchen Gegenden sie nützlich sind. Knoblauch zum Beispiel, sei „warm“ und „trocken“ und erzeuge „grobe und scharfe Säfte“. Er nütze gegen Skorpion- und Schlangenbisse, sowie gegen Würmer. Empfehlenswert sei er für geschwächte Naturen und in kalten Gegenden.[13] Die Jahreszeit Herbst dagegen sei „gemäßigt kalt im 2. Grad“ und vermehre „melancholische Säfte“. Dem sei mit Bädern abzuhelfen. Nützen würde er Kindern und Jugendlichen in warmen und feuchten Gegenden.[14]

Neben einer ausführlichen bebilderten Rezeptsammlung enthalten die von 1895 bis 1905 wiederentdeckten Kodizes Ratschläge zur Gesundheit, sowie Wissenswertes zu Pflanzen und zum Ackerbau.

Vergleiche Bearbeiten

Die römische Handschrift stellt in ihrer Bilderwelt vor allem, ähnlich wie Illustrationen eines Kräuterbuchs, die Pflanze in den Mittelpunkt, während die Pariser Ausgabe eher das höfische und die Wiener Handschrift (das „Hausbuch der Cerutti“) eher genreartig das bürgerliche Leben darstellt.[15]

Siehe auch Bearbeiten

Gedruckte Ausgaben Bearbeiten

  • Tacuini sanitatis Elluchasem Elimithar medici de Baldath de sex rebus non naturalibus, earum naturis, operationibus et rectificationibus […] recens exarati. Hans Schott, Straßburg 1531.

Literatur Bearbeiten

  • Franz Unterkircher (Hrsg.): Das Hausbuch der Cerruti: Faksimile. Graz 1966.
  • Tacuinum sanitatis in medicina: Codex Vindobonensis series nova 2644 der Österreichischen Nationalbibliothek. I–II, kommentiert, transkribiert und ins Deutsche übersetzt von Franz Unterkircher, mit einer englischen Übersetzung des lateinischen Textes von Heide Saxer und Charles H. Talbot. Graz 1967 (= Codices selecti phototypice impressi. 6-6*).
  • Das Hausbuch der Cerruti nach der Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek. Übertragung aus dem Lateinischen und Nachwort von Franz Unterkircher. Harenberg, Dortmund 1979; 2. Auflage ebenda 1989 (= Die bibliophilen Taschenbücher. Band 130).
  • Tacuinum sanitatis in medicina – Glanzlichter der Buchkunst, Band 13. Kommentar von Franz Unterkircher. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 2004, ISBN 3-201-01831-7.
  • Tacuinum Sanitatis. Das Buch der Gesundheit. Hrsg. von Luisa Cogliati Arano, mit einer Einführung von Heinrich Schipperges und Wolfram Schmitt, München 1976.
  • Christina Becela-Deller: Ruta graveolens L. Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation Würzburg 1994) Königshausen & Neumann, Würzburg 1998 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 65). ISBN 3-8260-1667-X, S. 134–138 und 242.
  • Joachim Rössl, Heinz Konrad (Hrsg.): Tacuinum Sanitatis. Codex Vind. 2396. Graz 1984 (= Codices Selecti, 78).
  • Medicina Magica – Methaphysische Heilmethoden in spätantiken und mittelalterlichen Handschriften. 2. Auflage, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1978, ISBN 3-201-01077-4.
  • Wolfram Schmitt: ‚Tacuinum sanitatis‘. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1377 f.

Weblinks Bearbeiten

Wikisource: Taqwim es-sihha – Quellen und Volltexte
Commons: Tacuinum sanitatis – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Tacuinum sanitatis in medicina. Codex Vindobonensis Series nova 2644 der Österreichischen Nationalbibliothek, Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 2004 Kommentar S. 7 (Name, Anlage und Verfasser des vollständigen Werkes) ISBN 3-201-01831-7
  2. Ibn Butlān, Ibn Dschezla: Schachtafelen der Gesundheyt. Übersetzt und erweitert von Michael Herr, Neudruck der Ausgabe Straßburg (Hans Schott) 1533, mit einem Nachwort von Marlit Leber und Elfriede Starke, Weinheim an der Bergstraße 1988, insbesondere S. 3–12.
  3. Ernest Wickersheimer: Les Tacuini Sanitatis et leur traduction allemande par Michael Herr. Genf 1950 (= Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance, XII).
  4. Christina Becela-Deller: Ruta graveolens L. Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation Würzburg 1994) Königshausen & Neumann, Würzburg 1998 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 65). ISBN 3-8260-1667-X, S. 134 f.
  5. Tacuinum sanitatis in medicina. Kommentar S. 10 (Die Bild- und Textfassungen des Tacuinum)
  6. Katalogeintrag der ÖNB Wien
  7. Francesca Pomarici: I Tacuina sanitatis miniati: un’idea troppo bella per durare. In: Fondazione Centro italiano di studi sull’alto Medioevo (Hrsg.): La medicina nel basso Medioevo: tradizioni e conflitti. Atti del 55. Convegno storico internazionale, Todi, 14-16 ottobre 2018. Fondazione Centro italiano di studi sull’alto Medioevo, Spoleto 2019, S. 371, Fußnote 17 (Digitalisat).
  8. Angela Trentini: Una fonte per la storia dell’alimentazione e della medicina: il Tacuinum sanitatis del vescovo Georg von Liechtenstein. In: Studi trentini. Storia Nr. 95/1 (2016), S. 144–145 (PDF).
  9. Faksimile: Tacuinum sanitatis. Edición facsímíl del Tacuinum sanitatis cuyo original se conserva en la Bibliothèque nationale de France en París, bajo la signatura Ms. Lat. 9333, Alain Touwaide, Eberhard König, Carlos Miranda García-Tejedor [trad.], Barcelona 2007–2009. Zu der Handschrift: Otto Pächt: Eine wiedergefundene Tacuinum-Sanitatis-Handschrift. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst [3. Folge] 3/4 (1952/53), S. 172–180.
  10. Elena Berti-Toesca: Il Tacuinum Sanitatis della Biblioteca Nazionale di Parigi. Bergamo 1937.
  11. Christina Becela-Deller: Ruta graveolens L. Eine Heilpflanze in kunst- und kulturhistorischer Bedeutung. (Mathematisch-naturwissenschaftliche Dissertation Würzburg 1994) Königshausen & Neumann, Würzburg 1998 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 65). ISBN 3-8260-1667-X, S. 242.
  12. Peter Dinzelbacher: Sexualität: Vom Arzt empfohlen, von der Kirche geduldet. In: Medizin im Mittelalter. Zwischen Erfahrungswissen, Magie und Religion (= Spektrum der Wissenschaften. Spezial: Archäologie Geschichte Kultur. Band 2.19), 2019, S. 66–69, hier: S. 66–68.
  13. Tacuinum sanitatis in medicina. Kommentar S. 66 (Transkription und deutsche Übersetzung)
  14. Tacuinum sanitatis in medicina, Kommentar S. 92
  15. Julius von Schlosser: Ein veronesisches Bilderbuch und die höfische Kunst des XIV. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerh. Kaiserhauses. (Wien) 1895, S. 144–230.