Schuhläufer-Kommando

Strafabteilung im Konzentrationslager Sachsenhausen
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Das Schuhläufer-Kommando war eine Strafkompanie im Konzentrationslager Sachsenhausen, bei der Häftlinge auf der Schuhprüfstrecke Schuhe testen mussten. Auftraggeber waren ab Juni 1940 zivile Schuhunternehmen, Leder-Ersatzstoff-Hersteller und Schuhleistenfabrikanten und ab November 1943 auch die Wehrmacht. Die Schuhprüfstrecke, die aus Schotter, Sand, Steinen und Asphalt bestand,[1] war knapp fünf Jahre lang, bis Frühjahr 1945, in Betrieb.

Teilstrecke für das Schuhläufer-Kommando im KZ Sachsenhausen
Einweisung eines Homosexuellen in das KZ Sachsenhausen und Zuteilung zur „Strafkompanie Schuhläufer“

Die Dauerläufe in der Strafkompanie waren de facto Todesmärsche, da die Läufer erschossen wurden, wenn sie infolge von Ermüdung zusammenbrachen.[2][3]

Hintergründe Bearbeiten

In der Kriegswirtschaft musste im wachsenden Maße auf Ersatzstoffe zurückgegriffen werden. Neuartige Straßenschuhe für Damen und Herren sowie später Schnürstiefel für die Wehrmacht mit Gummisohlen und anderen Leder-Ersatzstoffen sollten praxisnah auf Haltbarkeit getestet werden. Einige Hersteller und Zulieferbetriebe hatten zu diesem Zweck eine Prüfstrecke auf ihrem Betriebsgelände eingerichtet oder führten auf andere Weise Trageversuche mit neuen Produkten auf dem eigenen Betriebsgelände durch. Kostensparender schien es einigen Herstellern zu sein, KZ-Häftlinge auszunutzen; für diese waren nur sechs Reichsmark täglich zu zahlen. Ab Mai 1940 richtete das Reichsamt für Wirtschaftsausbau im Konzentrationslager Sachsenhausen um den Appellplatz eine Prüfstrecke ein, die sieben unterschiedliche Straßenbeläge hatte und rund 700 Meter lang war.[4][3]

In das Schuhläufer-Kommando abkommandiert zu werden, galt als Strafe, denn die Häftlinge wurden schlecht ernährt. Die für jeden Häftling täglich zu laufende Strecke von 40 bis 48 Kilometern entsprach etwa der Länge eines Marathonlaufs.[5][3] Manche Häftlinge des Strafkommandos, das zeitweilig 170 Männer umfasste, mussten zudem schwere Rucksäcke schleppen. Täglich sollen, nach konservativen Schätzungen und Zeugenberichten, 10 bis 20 Häftlinge bei diesen Materialtests gestorben sein.[6][3] Aufsicht führte, neben Mitgliedern der Schutzstaffel (SS),[1] ein Zivilbeamter des Reichswirtschaftsministeriums.[7]

Die Schuh- bzw. Materialbelastungstests wurden unter anderem im Auftrag für Salamander, die Gerberei Freudenberg, Fagus, UHU, Deutsche Linoleum-Werke, Rieker, I. G. Farben, Westland Gummiwerke und die Continental-Tochtergesellschaft Schwelmer Gummiwaren GmbH durchgeführt.[1][2] Einige der mit Hilfe von Tests „auf der »Schuhprüfstrecke« entwickelten Werkstoffe sind als Kunststoffe bis heute in Gebrauch.“[8]

Trageversuche für Schuhe wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auch in den Vereinigten Staaten eingeführt. Bis Ende der 1960er Jahre galten sie mechanischen Prüfungen überlegen.[9]

Literatur Bearbeiten

  • Joachim Müller: „Wie die Bewegung, so die Verpflegung“. Die Strafkompanie Schuhläufer. In: Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen. Hrsg. vom Schwulen Museum Berlin. Joachim Müller; Andreas Sternweiler. Verlag rosa Winkel, Berlin 2000, ISBN 3-86149-097-8, S. 181–189.
  • Anne Sudrow: Vom Leder zum Kunststoff: Werkstoff-Forschung auf der „Schuhprüfstrecke“ im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940–1945. In: Helmut Maier (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Wallstein, Göttingen 2002, ISBN 3-89244-497-8, S. 214–249.
  • Anne Sudrow: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich. Wallstein, Göttingen 2010, ISBN 978-3-8353-0793-3 (zugleich Dissertation, Technische Universität München 2009).

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b c Anne-Sophie Lang: Experimente im Konzentrationslager: Blut im Schuh. 13. November 2014, abgerufen am 27. August 2020.
  2. a b Jürgen Dahlkamp: Autozulieferer Continental in der NS-Zeit: „Das eigentliche Rückgrat der Rüstungs- und Kriegswirtschaft“. In: Der Spiegel – Geschichte. 26. August 2020, abgerufen am 27. August 2020.
  3. a b c d Rob Savelberg: KZ Sachsenhausen: Wer stehen blieb, wurde erschossen. In: Die Welt. 8. Mai 2014 (welt.de [abgerufen am 27. August 2020]).
  4. Claudia Gottfried: Konsum und Verbrechen – Die Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen. In: LVR-Industriemuseum Ratingen: Glanz und Grauen: Mode im „Dritten Reich“. Ratingen 2012, ISBN 978-3-9813700-2-7, S. 46f.
  5. Claudia Gottfried: Konsum und Verbrechen – Die Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen. In: LVR-Industriemuseum Ratingen: Glanz und Grauen: Mode im "Dritten Reich", Ratingen 2012, ISBN 978-3-9813700-2-7, S. 46.
  6. Claudia Gottfried: Konsum und Verbrechen – Die Schuhprüfstrecke im KZ Sachsenhausen. In: LVR-Industriemuseum Ratingen: Glanz und Grauen: Mode im „Dritten Reich“. Ratingen 2012, ISBN 978-3-9813700-2-7, S. 48.
  7. Anne Sudrow: Vom Leder zum Kunststoff: Werkstoff-Forschung auf der „Schuhprüfstrecke“ im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940–1945. In: Helmut Maier (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Wallstein, Göttingen 2002, S. 235, Anmerkung 88.
  8. Anne Sudrow: Vom Leder zum Kunststoff: Werkstoff-Forschung auf der »Schuhprüfstrecke« im Konzentrationslager Sachsenhausen 1940–1945. In: Helmut Maier (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Wallstein, Göttingen 2002, ISBN 3-89244-497-8, S. 248 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 9. Juni 2021]).
  9. Christof Dipper: Rezension zu: Sudrow, Anne: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich. Göttingen 2010. In: H-Soz-u-Kult, 4. Mai 2011, abgerufen am 18. Mai 2011

Koordinaten: 52° 45′ 57,5″ N, 13° 15′ 46,1″ O